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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halbasiatisches.

statt durch Zuführung frischer Luft durch Anwendung von Räucherkerzen und
Parfüms verbessern will, verfehlt man bekanntlich den Zweck. Die Rolle dieser
Räucherkerzen und Wohlgerüche, die den Qualm und Dunst gewisser Räume
nur vermehren können, spielen in den österreichischen Verhältnissen die Wiener
Zeitungen. Wenn uns Franzos in dem höchst charakteristischen Sittenbilde "Der
Galilei von Barrow" den "gebildeten" Galizier vorführt, der sich mit dem
Pächter zusammen die "Neue Freie Presse" hält und täglich durchliest, so sollte
ein Wort über die Wirkung dieser Art von Journalistik auf die Halbbildung
eben auch nicht fehlen.

Eine große Rolle spielen in den vorliegenden Bänden auch wieder die Ver¬
hältnisse der Juden des Ostens. Nicht blos weil sie der Verfasser am
besten und gründlichsten kennt, sondern auch weil das jüdische Element in dem
Völker- und Sprachengewirr der großen Ebene eine besondre Bedeutung hat.
Franzos ist weit entfernt, hier schön zu färben. So sehr es ihn entrüstet, daß
seine frühern Schilderungen im antisemitischen Parteiinteresse ausgenutzt worden
sind, so fährt er doch auch in diesen Skizzen fort, die zum Teil trostlosen, ja
haarsträubenden jüdischen Zustände Halbasiens offen zu besprechen. Das Äußerste,
was diese Bände bieten, sind "Der Fehlermacher" und "Nathan der Blaubart."
Das erstgenannte Bild führt den Lesern den vortrefflichen Reh Chain, von Kon¬
fession Barbier, von Profession "Fehlermacher" vor, der den jungen Leuten
Krampfadern, Säbelbeine, Lungensucht und grauen Staar macht, um sie der
militärischen Aushebung zu entziehen. Die Todesangst der Juden vor dem Sol¬
datenwerden führt Franzos nur zum Teil auf ihre unüberwindliche Feigheit,
zum Teil auf die religiöse Befangenheit zurück. "Wer Soldat wird, kann die
Vorschriften bezüglich Speise, Tracht, Gebet, Heiligung der Festtage u. s. w.
nicht mehr einhalten, hört also auf, rechtgläubiger Jude zu sein." Um diesem
Schicksale zu entrinnen, scheut man sich nicht, für ein paar Gulden die Dienste
eines solchen Fehlermachers in Anspruch zu nehmen, läuft man Gefahr, zeit¬
lebens ein blindes Ange oder eine Schädigung der Lunge zu behalten. Mit
Recht setzt Franzos seiner Erzählung hinzu: "Ich fuhr weiter in das Kotmeer
der Ebene hinein. Aber wozu noch diesen Sumpf schildern? Er ist, selbst in
den trübsten Tagen des Vorfrühlings, weit minder tief und abscheulich, als
der, in den ich den Leser soeben habe blicken lassen. Ach, was liegt alles in
diesem schlimmen Kotmeer begraben. Nicht etwa blos der "Charakter" Reb
Chaims und seiner Metiergenossen, sondern auch das Pflichtgefühl seiner Mit¬
bürger und die moralische Kraft des Staates, der nach einer mehr als hundert¬
jährigen Herrschaft die Beherrschten so wenig emporzuheben vermocht hat, daß
ihnen sein Dienst schrecklicher erscheint, als die Kunst des Fehlermachers!" Aber
mit welchen Menschen und Zuständen etwa dieser Staat zu kämpfen hat, offen¬
bart doch Franzos gleich darauf selbst, wenn er die Geschichte des Blaubarts
von Barrow erzählt, jenes Nathan, der, ohne ein leidenschaftlicher oder Sinn-


Halbasiatisches.

statt durch Zuführung frischer Luft durch Anwendung von Räucherkerzen und
Parfüms verbessern will, verfehlt man bekanntlich den Zweck. Die Rolle dieser
Räucherkerzen und Wohlgerüche, die den Qualm und Dunst gewisser Räume
nur vermehren können, spielen in den österreichischen Verhältnissen die Wiener
Zeitungen. Wenn uns Franzos in dem höchst charakteristischen Sittenbilde „Der
Galilei von Barrow" den „gebildeten" Galizier vorführt, der sich mit dem
Pächter zusammen die „Neue Freie Presse" hält und täglich durchliest, so sollte
ein Wort über die Wirkung dieser Art von Journalistik auf die Halbbildung
eben auch nicht fehlen.

Eine große Rolle spielen in den vorliegenden Bänden auch wieder die Ver¬
hältnisse der Juden des Ostens. Nicht blos weil sie der Verfasser am
besten und gründlichsten kennt, sondern auch weil das jüdische Element in dem
Völker- und Sprachengewirr der großen Ebene eine besondre Bedeutung hat.
Franzos ist weit entfernt, hier schön zu färben. So sehr es ihn entrüstet, daß
seine frühern Schilderungen im antisemitischen Parteiinteresse ausgenutzt worden
sind, so fährt er doch auch in diesen Skizzen fort, die zum Teil trostlosen, ja
haarsträubenden jüdischen Zustände Halbasiens offen zu besprechen. Das Äußerste,
was diese Bände bieten, sind „Der Fehlermacher" und „Nathan der Blaubart."
Das erstgenannte Bild führt den Lesern den vortrefflichen Reh Chain, von Kon¬
fession Barbier, von Profession „Fehlermacher" vor, der den jungen Leuten
Krampfadern, Säbelbeine, Lungensucht und grauen Staar macht, um sie der
militärischen Aushebung zu entziehen. Die Todesangst der Juden vor dem Sol¬
datenwerden führt Franzos nur zum Teil auf ihre unüberwindliche Feigheit,
zum Teil auf die religiöse Befangenheit zurück. „Wer Soldat wird, kann die
Vorschriften bezüglich Speise, Tracht, Gebet, Heiligung der Festtage u. s. w.
nicht mehr einhalten, hört also auf, rechtgläubiger Jude zu sein." Um diesem
Schicksale zu entrinnen, scheut man sich nicht, für ein paar Gulden die Dienste
eines solchen Fehlermachers in Anspruch zu nehmen, läuft man Gefahr, zeit¬
lebens ein blindes Ange oder eine Schädigung der Lunge zu behalten. Mit
Recht setzt Franzos seiner Erzählung hinzu: „Ich fuhr weiter in das Kotmeer
der Ebene hinein. Aber wozu noch diesen Sumpf schildern? Er ist, selbst in
den trübsten Tagen des Vorfrühlings, weit minder tief und abscheulich, als
der, in den ich den Leser soeben habe blicken lassen. Ach, was liegt alles in
diesem schlimmen Kotmeer begraben. Nicht etwa blos der „Charakter" Reb
Chaims und seiner Metiergenossen, sondern auch das Pflichtgefühl seiner Mit¬
bürger und die moralische Kraft des Staates, der nach einer mehr als hundert¬
jährigen Herrschaft die Beherrschten so wenig emporzuheben vermocht hat, daß
ihnen sein Dienst schrecklicher erscheint, als die Kunst des Fehlermachers!" Aber
mit welchen Menschen und Zuständen etwa dieser Staat zu kämpfen hat, offen¬
bart doch Franzos gleich darauf selbst, wenn er die Geschichte des Blaubarts
von Barrow erzählt, jenes Nathan, der, ohne ein leidenschaftlicher oder Sinn-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/378>, abgerufen am 02.07.2024.