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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halbasiatisches,

Diese Sachlage war bedenklich, und Herr Thaddäus wählte jedenfalls das
ungeschickteste Mittel, sie gefährlicher zu gestalten: er bestürmte jenen Zeugen
mit Drohungen und Versprechungen. Dieser machte Anzeige davon, und der
angesehene Bürger mußte verhaftet werden.

Die drei Wochen, die zwischen diesem Ereignis und der Schwurgerichts¬
verhandlung lagen, vergingen nicht bloß der Hauptperson, sondern auch der
Bürgerschaft in fieberhafter Aufregung und Spannung, denn der Ausgang
war keineswegs so gewiß vorauszusehen, als der Leser nach dem Thatbestande
vermuten könnte. Dem reichsten, populärsten Bürger der Stadt standen zwei
"fremde Hungerleider" gegenüber, zwei "verdammte Deutsche," und es war den
Geschworenen freigegeben, wem sie größern Glauben schenken wollten. Daß
jene beiden Männer Eisenbahnbeamte aus den deutschen Provinzen waren,
entschied die Sache in den Augen jedes Bürgers der Stadt zu ihren Ungunsten.
Wären nur polnische Bürger zur Jury berufen worden, Herr Thaddäus hätte
selbst auf seinem harten Lager ruhig schlafen können. Aber zu diesem Amte
waren ja auch Juden beigezogen, welche diesem Manne, als ihrem grimmigsten
Feinde, unmöglich gut sein konnten, ferner wohlhabende masurische Bauern,
die an dem biedern Thaddäus das harte Schicksal manches ihrer Brüder zu
rächen hatten.

In welcher Stärke diese drei Schichten unter den Geschworenen vertreten
waren, davon hing das Schicksal des Angeklagten ab. Und darum hatte bei
dieser Verhandlung nur ein Umstand entscheidendes Interesse, der im Westen
fast nebensächlich ist: die Bildung der Geschworenenbank. Das wußten Staats¬
anwalt und Verteidiger und handelten darnach. Jede dieser Parteien hat das
Recht sechs Geschworene abzulehnen. Und so ergab sich die merkwürdige That¬
sache, daß die ersten zwölf aufgelösten Männer sämtlich abgelehnt wurden.
War es ein Pole, so verwarf ihn der Staatsanwalt, war es ein Masure oder ein
Jude, so legte der Verteidiger sein Veto ein. Die nächsten zwölf konnten dann
freilich ohne Einspruch Platz nehmen, wie das Los fiel. Dasselbe bestimmte
fünf Juden, zwei Bauern, fünf Polen zu dem Amte.

Der Verteidiger atmete auf, der Staatsanwalt blickte düster vor sich nieder.
In der That war die Anklage bereits von vornherein verloren. Denn ob¬
wohl die Verhandlung die Schuld des Angeklagten bis zur Evidenz darlegte,
lautete das Urteil doch, wie vorauszusehen war, sieben Stimmen "schuldig"!
fünf Stimmen "nichtschuldig"! Eine Verurteilung kann nur mit Zweidrittel¬
mehrheit erfolgen -- Herr Thaddäus war frei, und wenn er nicht gestorben
ist, so wuchert er noch heute.

Die Bedenken, welche sich aus Vorkommnissen solcher Art gegen die Vor-
trefflichkeit der Schwurgerichte ergeben mögen, kehren dem aufmerksamen Leser
auch in Fällen wieder, wo der Verfasser gegen die angewandten Kulturmittel
keine Bedenken hat, wenigstens keine äußert. Wenn man verpestete Stickluft


Grenzboten IV. 1883. 47
Halbasiatisches,

Diese Sachlage war bedenklich, und Herr Thaddäus wählte jedenfalls das
ungeschickteste Mittel, sie gefährlicher zu gestalten: er bestürmte jenen Zeugen
mit Drohungen und Versprechungen. Dieser machte Anzeige davon, und der
angesehene Bürger mußte verhaftet werden.

Die drei Wochen, die zwischen diesem Ereignis und der Schwurgerichts¬
verhandlung lagen, vergingen nicht bloß der Hauptperson, sondern auch der
Bürgerschaft in fieberhafter Aufregung und Spannung, denn der Ausgang
war keineswegs so gewiß vorauszusehen, als der Leser nach dem Thatbestande
vermuten könnte. Dem reichsten, populärsten Bürger der Stadt standen zwei
„fremde Hungerleider" gegenüber, zwei „verdammte Deutsche," und es war den
Geschworenen freigegeben, wem sie größern Glauben schenken wollten. Daß
jene beiden Männer Eisenbahnbeamte aus den deutschen Provinzen waren,
entschied die Sache in den Augen jedes Bürgers der Stadt zu ihren Ungunsten.
Wären nur polnische Bürger zur Jury berufen worden, Herr Thaddäus hätte
selbst auf seinem harten Lager ruhig schlafen können. Aber zu diesem Amte
waren ja auch Juden beigezogen, welche diesem Manne, als ihrem grimmigsten
Feinde, unmöglich gut sein konnten, ferner wohlhabende masurische Bauern,
die an dem biedern Thaddäus das harte Schicksal manches ihrer Brüder zu
rächen hatten.

In welcher Stärke diese drei Schichten unter den Geschworenen vertreten
waren, davon hing das Schicksal des Angeklagten ab. Und darum hatte bei
dieser Verhandlung nur ein Umstand entscheidendes Interesse, der im Westen
fast nebensächlich ist: die Bildung der Geschworenenbank. Das wußten Staats¬
anwalt und Verteidiger und handelten darnach. Jede dieser Parteien hat das
Recht sechs Geschworene abzulehnen. Und so ergab sich die merkwürdige That¬
sache, daß die ersten zwölf aufgelösten Männer sämtlich abgelehnt wurden.
War es ein Pole, so verwarf ihn der Staatsanwalt, war es ein Masure oder ein
Jude, so legte der Verteidiger sein Veto ein. Die nächsten zwölf konnten dann
freilich ohne Einspruch Platz nehmen, wie das Los fiel. Dasselbe bestimmte
fünf Juden, zwei Bauern, fünf Polen zu dem Amte.

Der Verteidiger atmete auf, der Staatsanwalt blickte düster vor sich nieder.
In der That war die Anklage bereits von vornherein verloren. Denn ob¬
wohl die Verhandlung die Schuld des Angeklagten bis zur Evidenz darlegte,
lautete das Urteil doch, wie vorauszusehen war, sieben Stimmen „schuldig"!
fünf Stimmen „nichtschuldig"! Eine Verurteilung kann nur mit Zweidrittel¬
mehrheit erfolgen — Herr Thaddäus war frei, und wenn er nicht gestorben
ist, so wuchert er noch heute.

Die Bedenken, welche sich aus Vorkommnissen solcher Art gegen die Vor-
trefflichkeit der Schwurgerichte ergeben mögen, kehren dem aufmerksamen Leser
auch in Fällen wieder, wo der Verfasser gegen die angewandten Kulturmittel
keine Bedenken hat, wenigstens keine äußert. Wenn man verpestete Stickluft


Grenzboten IV. 1883. 47
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[0377] Halbasiatisches, Diese Sachlage war bedenklich, und Herr Thaddäus wählte jedenfalls das ungeschickteste Mittel, sie gefährlicher zu gestalten: er bestürmte jenen Zeugen mit Drohungen und Versprechungen. Dieser machte Anzeige davon, und der angesehene Bürger mußte verhaftet werden. Die drei Wochen, die zwischen diesem Ereignis und der Schwurgerichts¬ verhandlung lagen, vergingen nicht bloß der Hauptperson, sondern auch der Bürgerschaft in fieberhafter Aufregung und Spannung, denn der Ausgang war keineswegs so gewiß vorauszusehen, als der Leser nach dem Thatbestande vermuten könnte. Dem reichsten, populärsten Bürger der Stadt standen zwei „fremde Hungerleider" gegenüber, zwei „verdammte Deutsche," und es war den Geschworenen freigegeben, wem sie größern Glauben schenken wollten. Daß jene beiden Männer Eisenbahnbeamte aus den deutschen Provinzen waren, entschied die Sache in den Augen jedes Bürgers der Stadt zu ihren Ungunsten. Wären nur polnische Bürger zur Jury berufen worden, Herr Thaddäus hätte selbst auf seinem harten Lager ruhig schlafen können. Aber zu diesem Amte waren ja auch Juden beigezogen, welche diesem Manne, als ihrem grimmigsten Feinde, unmöglich gut sein konnten, ferner wohlhabende masurische Bauern, die an dem biedern Thaddäus das harte Schicksal manches ihrer Brüder zu rächen hatten. In welcher Stärke diese drei Schichten unter den Geschworenen vertreten waren, davon hing das Schicksal des Angeklagten ab. Und darum hatte bei dieser Verhandlung nur ein Umstand entscheidendes Interesse, der im Westen fast nebensächlich ist: die Bildung der Geschworenenbank. Das wußten Staats¬ anwalt und Verteidiger und handelten darnach. Jede dieser Parteien hat das Recht sechs Geschworene abzulehnen. Und so ergab sich die merkwürdige That¬ sache, daß die ersten zwölf aufgelösten Männer sämtlich abgelehnt wurden. War es ein Pole, so verwarf ihn der Staatsanwalt, war es ein Masure oder ein Jude, so legte der Verteidiger sein Veto ein. Die nächsten zwölf konnten dann freilich ohne Einspruch Platz nehmen, wie das Los fiel. Dasselbe bestimmte fünf Juden, zwei Bauern, fünf Polen zu dem Amte. Der Verteidiger atmete auf, der Staatsanwalt blickte düster vor sich nieder. In der That war die Anklage bereits von vornherein verloren. Denn ob¬ wohl die Verhandlung die Schuld des Angeklagten bis zur Evidenz darlegte, lautete das Urteil doch, wie vorauszusehen war, sieben Stimmen „schuldig"! fünf Stimmen „nichtschuldig"! Eine Verurteilung kann nur mit Zweidrittel¬ mehrheit erfolgen — Herr Thaddäus war frei, und wenn er nicht gestorben ist, so wuchert er noch heute. Die Bedenken, welche sich aus Vorkommnissen solcher Art gegen die Vor- trefflichkeit der Schwurgerichte ergeben mögen, kehren dem aufmerksamen Leser auch in Fällen wieder, wo der Verfasser gegen die angewandten Kulturmittel keine Bedenken hat, wenigstens keine äußert. Wenn man verpestete Stickluft Grenzboten IV. 1883. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/377>, abgerufen am 04.07.2024.