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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halbasiatisches.

allgewcilt grau gewordene, mit einer sehr unzulänglichen und dürftigen, ihrem
Keime nach aber doch deutschen Bildung ausgerüstete Beamtenschaft noch manches
zum guten hätte wirken und für einzelne Keime wahrhafter Gesittung Sorge
tragen können. Das alte Österreich aber ist seit 1848 unwiederbringlich dahin,
und der moderne Konstitutionalismus mit allen seinem Zubehör ist in Neu¬
österreich herrschend geworden. Daß die Ergebnisse dieser geschichtlichen Wand¬
lung nicht durchgehend lieblich sind, entnehmen wir aus tausend Zeichen; wie
ihnen zu entrinnen sei, sagt uns auch das neueste Programm der "Vereinigten
deutschen Linken" des eisleithanischen österreichischen Abgeordnetenhauses nicht.
Wie verhängnisvoll sich die einfache Übertragung der westeuropäischen "Er¬
rungenschaften" für die große Ebene von Halbasien zum Teil erwiesen hat,
stellt Franzos in verschiednen seiner Skizzen, am eindringlichsten in der Schil¬
derung der "Volks- und Schwurgerichte im Osten" dar. Auch in "Halbasien"
arbeitet seit etwa zwanzig Jahren die Jury. Frankreich und Deutschland,
meinte man dort, lassen nur durch Männer aus dem Volke die Schuldfrage
entscheiden. Das entspricht den modernen Anschauungen, das ist ein Fortschritt.
Und wir wollen auch fortschreiten. So geschah es in Rußland, in Rumänien,
in Ungarn. Nur in Österreich hatte man einige Bedenken, ob die neue Ein¬
richtung auch auf die östlichen Provinzen ausgedehnt werden dürfe. Man
scheint diese Bedenken als grundlos befunden zu haben, denn das Gesetz wurde
für das ganze Reich erlassen. War aber in der That in Halbasien jede
Debatte überflüssig? Handelte mau, als sie völlig unterlassen wurde, bloß in
gerechtem Selbstbewußtsein oder in unverantwortlicher Gewissenlosigkeit? Ist
das Volk in Nußland, Rumänien und Galizien ebenso reif für die Jury wie
das in Frankreich und Deutschland? Haben sich die Geschworenen in Halbasien
als gerechte Richter erwiesen? Zwanzig Jahre sind keine allzulange Zeit, aber
doch immerhin genügend, ein Urteil zu ermöglichen. Ich will es zunächst nicht
selbst formuliren, soudern nnr einige Thatsachen bieten. Aus einer Sammlung,
die Franzos über Schwurgerichtsfälle in Galizien angelegt hat, greift er drei
Beispiele heraus, die den Lesern des Westens allerdings geradezu unglaublich
klingen, obwohl sich der Schriftsteller ausdrücklich dagegen verwahrt, daß
er grelle Ausnahmefälle biete. Wir teilen von seinen Beispielen nur eins
mit. weil es unsern Lesern die Wild und Erbitterung der Parteien in Galizien
verdeutlichen hilft und sie mit einem Schlage auf den zerklüfteten Boden ver¬
setzt, den Franzos zu schildern unternimmt.

Es war im Frühling 1879, als eine Stadt des westlichen Galiziens durch
die plötzliche Verhaftung ihres reichsten und angesehensten Bürgers in größte
Aufregung versetzt wurde. Der Mann -- ich will nnr seinen Vornamen
Thaddcius hierhersetzen -- bekleidete ein wichtiges Ehrenamt, war Vorstand
einiger wohlthätigen Vereine und galt nicht blos als der reichste, sondern auch
als der ehrenwerteste Mann der Stadt. Täglich ging er zur Messe und hatte


Halbasiatisches.

allgewcilt grau gewordene, mit einer sehr unzulänglichen und dürftigen, ihrem
Keime nach aber doch deutschen Bildung ausgerüstete Beamtenschaft noch manches
zum guten hätte wirken und für einzelne Keime wahrhafter Gesittung Sorge
tragen können. Das alte Österreich aber ist seit 1848 unwiederbringlich dahin,
und der moderne Konstitutionalismus mit allen seinem Zubehör ist in Neu¬
österreich herrschend geworden. Daß die Ergebnisse dieser geschichtlichen Wand¬
lung nicht durchgehend lieblich sind, entnehmen wir aus tausend Zeichen; wie
ihnen zu entrinnen sei, sagt uns auch das neueste Programm der „Vereinigten
deutschen Linken" des eisleithanischen österreichischen Abgeordnetenhauses nicht.
Wie verhängnisvoll sich die einfache Übertragung der westeuropäischen „Er¬
rungenschaften" für die große Ebene von Halbasien zum Teil erwiesen hat,
stellt Franzos in verschiednen seiner Skizzen, am eindringlichsten in der Schil¬
derung der „Volks- und Schwurgerichte im Osten" dar. Auch in „Halbasien"
arbeitet seit etwa zwanzig Jahren die Jury. Frankreich und Deutschland,
meinte man dort, lassen nur durch Männer aus dem Volke die Schuldfrage
entscheiden. Das entspricht den modernen Anschauungen, das ist ein Fortschritt.
Und wir wollen auch fortschreiten. So geschah es in Rußland, in Rumänien,
in Ungarn. Nur in Österreich hatte man einige Bedenken, ob die neue Ein¬
richtung auch auf die östlichen Provinzen ausgedehnt werden dürfe. Man
scheint diese Bedenken als grundlos befunden zu haben, denn das Gesetz wurde
für das ganze Reich erlassen. War aber in der That in Halbasien jede
Debatte überflüssig? Handelte mau, als sie völlig unterlassen wurde, bloß in
gerechtem Selbstbewußtsein oder in unverantwortlicher Gewissenlosigkeit? Ist
das Volk in Nußland, Rumänien und Galizien ebenso reif für die Jury wie
das in Frankreich und Deutschland? Haben sich die Geschworenen in Halbasien
als gerechte Richter erwiesen? Zwanzig Jahre sind keine allzulange Zeit, aber
doch immerhin genügend, ein Urteil zu ermöglichen. Ich will es zunächst nicht
selbst formuliren, soudern nnr einige Thatsachen bieten. Aus einer Sammlung,
die Franzos über Schwurgerichtsfälle in Galizien angelegt hat, greift er drei
Beispiele heraus, die den Lesern des Westens allerdings geradezu unglaublich
klingen, obwohl sich der Schriftsteller ausdrücklich dagegen verwahrt, daß
er grelle Ausnahmefälle biete. Wir teilen von seinen Beispielen nur eins
mit. weil es unsern Lesern die Wild und Erbitterung der Parteien in Galizien
verdeutlichen hilft und sie mit einem Schlage auf den zerklüfteten Boden ver¬
setzt, den Franzos zu schildern unternimmt.

Es war im Frühling 1879, als eine Stadt des westlichen Galiziens durch
die plötzliche Verhaftung ihres reichsten und angesehensten Bürgers in größte
Aufregung versetzt wurde. Der Mann — ich will nnr seinen Vornamen
Thaddcius hierhersetzen — bekleidete ein wichtiges Ehrenamt, war Vorstand
einiger wohlthätigen Vereine und galt nicht blos als der reichste, sondern auch
als der ehrenwerteste Mann der Stadt. Täglich ging er zur Messe und hatte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/374>, abgerufen am 02.10.2024.