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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halbasiatisches.

Ghetto," "Ein Befreier des Judentums," "Lateinische Mädchen," "Eine Un¬
glückliche" und "Frauenleben in Halbasien," Der Grundton ist feuilletonistisch,
vom novellistischen Bilde bis zur Abhandlung wählt Franzos eine bunte
Mannigfaltigkeit der Einkleidungen seiner abwechslungsreichen und lebendig
wiedergegebenen Beobachtungen. Im einzelnen sind es vielfach spaßhafte und
komische Dinge, die der Schriftsteller erzählt; im ganzen behandelt er aber doch
eine sehr ernste Frage: wie dieses Halbasien in Europa verwandelt, die bedenk¬
liche nicht Halb- sondern Viertelskultur und der gleißende Kulturschein in wirk¬
liche Kultur umgebildet werden könne. Franzos ist der Überzeugung, daß die
Völker des Ostens aus sich heraus keine eigne Kultur zu erzengen vermögen,
und so erscheinen ihm die Zustände in dem Maße trostloser, als "der Einfluß
der deutschen Kultur, welche erziehend und vermittelnd wirkte, in stetem Sinken
begriffen ist." Für Halbasien bedeutet die feindselige Ablehnung der deutschen
Kultur einen unermeßlichen, ans Menschenalter hinaus wirkenden und in ab¬
sehbarer Zeit nicht gut zu machenden Schaden. Sie verschuldet jene beiden Ex¬
treme, von denen kaum zu sagen ist, welches gefährlicher und thörichter ist:
den blinden, unbedingten, haltlosen Anschluß an die Formen französischen
Wesens, und das Auftauchen der "autochthonen", "urnationalen", keines frem¬
den Einflusses bedürftigen "Kultur", mit welcher z. B. die Aksakom und Nach¬
folger Rußland beglücken möchten. Die einen wollen um jeden Preis Pariser
werden, und die andern Barbaren bleiben; das langsame Heranreifen nationaler
Kulturen unter der Ägide des deutschen Geistes, der sich gerade im Osten
meist als selbstlos erwiesen hat, erscheint überall unterbrochen.

Die ganze Folge der Gestalten und Szenen halbasiatischen Lebens, die
Franzos aus der großen Ebene vorführt, soll diese Wahrheiten erhärten. Nicht
immer unmittelbar, nicht immer in so direkter Ansprache wie in den Aufsätzen
"Frauenleben in Halbasien", doch immer verständlich genug bezeichnet Franzos
den Anschluß an die deutsche Kultur als das Mittel, die unerfreulichen Zu¬
stände zu überwinden, die seine Skizzen so anschaulich vor Angen führen.
Wenn es nur ebenso leicht Ware, Wesen und Mittel der deutschen Kultur genau
zu bezeichnen, oder nachzuweisen, wo bei den kleinern Völkern Osteuropas das
Streben nach langsamer Entwicklung eigner Kultur Berechtigung hat, und wo es
als Angriff auf das Deutschtum erscheint. Bei den verzwackten Völkcrverhält-
nissen in der großen Ebene spielen neben den Nachwirkungen vielhundertjähriger
Mißwirtschaft die politischen Fragen und Kämpfe des Augenblicks eine so
große Rolle, daß der draußen stehende sich des Urteils begeben muß und selbst
durch einen landeskundigen Führer wie Franzos nicht immer überzeugt werden
kann, daß die Heilmittel und Hilfsmittel so einfach wären, wie sie der An¬
schauung erscheinen, die man in Österreich "Josefinismus" nennt, und von der
sich auch Franzos stark erfüllt zeigt. Es mag sein, daß beim Fortbestand des
alten Österreichs die in den Überlieferungen des Josefinismus, der Staats-


Halbasiatisches.

Ghetto," „Ein Befreier des Judentums," „Lateinische Mädchen," „Eine Un¬
glückliche" und „Frauenleben in Halbasien," Der Grundton ist feuilletonistisch,
vom novellistischen Bilde bis zur Abhandlung wählt Franzos eine bunte
Mannigfaltigkeit der Einkleidungen seiner abwechslungsreichen und lebendig
wiedergegebenen Beobachtungen. Im einzelnen sind es vielfach spaßhafte und
komische Dinge, die der Schriftsteller erzählt; im ganzen behandelt er aber doch
eine sehr ernste Frage: wie dieses Halbasien in Europa verwandelt, die bedenk¬
liche nicht Halb- sondern Viertelskultur und der gleißende Kulturschein in wirk¬
liche Kultur umgebildet werden könne. Franzos ist der Überzeugung, daß die
Völker des Ostens aus sich heraus keine eigne Kultur zu erzengen vermögen,
und so erscheinen ihm die Zustände in dem Maße trostloser, als „der Einfluß
der deutschen Kultur, welche erziehend und vermittelnd wirkte, in stetem Sinken
begriffen ist." Für Halbasien bedeutet die feindselige Ablehnung der deutschen
Kultur einen unermeßlichen, ans Menschenalter hinaus wirkenden und in ab¬
sehbarer Zeit nicht gut zu machenden Schaden. Sie verschuldet jene beiden Ex¬
treme, von denen kaum zu sagen ist, welches gefährlicher und thörichter ist:
den blinden, unbedingten, haltlosen Anschluß an die Formen französischen
Wesens, und das Auftauchen der „autochthonen", „urnationalen", keines frem¬
den Einflusses bedürftigen „Kultur", mit welcher z. B. die Aksakom und Nach¬
folger Rußland beglücken möchten. Die einen wollen um jeden Preis Pariser
werden, und die andern Barbaren bleiben; das langsame Heranreifen nationaler
Kulturen unter der Ägide des deutschen Geistes, der sich gerade im Osten
meist als selbstlos erwiesen hat, erscheint überall unterbrochen.

Die ganze Folge der Gestalten und Szenen halbasiatischen Lebens, die
Franzos aus der großen Ebene vorführt, soll diese Wahrheiten erhärten. Nicht
immer unmittelbar, nicht immer in so direkter Ansprache wie in den Aufsätzen
„Frauenleben in Halbasien", doch immer verständlich genug bezeichnet Franzos
den Anschluß an die deutsche Kultur als das Mittel, die unerfreulichen Zu¬
stände zu überwinden, die seine Skizzen so anschaulich vor Angen führen.
Wenn es nur ebenso leicht Ware, Wesen und Mittel der deutschen Kultur genau
zu bezeichnen, oder nachzuweisen, wo bei den kleinern Völkern Osteuropas das
Streben nach langsamer Entwicklung eigner Kultur Berechtigung hat, und wo es
als Angriff auf das Deutschtum erscheint. Bei den verzwackten Völkcrverhält-
nissen in der großen Ebene spielen neben den Nachwirkungen vielhundertjähriger
Mißwirtschaft die politischen Fragen und Kämpfe des Augenblicks eine so
große Rolle, daß der draußen stehende sich des Urteils begeben muß und selbst
durch einen landeskundigen Führer wie Franzos nicht immer überzeugt werden
kann, daß die Heilmittel und Hilfsmittel so einfach wären, wie sie der An¬
schauung erscheinen, die man in Österreich „Josefinismus" nennt, und von der
sich auch Franzos stark erfüllt zeigt. Es mag sein, daß beim Fortbestand des
alten Österreichs die in den Überlieferungen des Josefinismus, der Staats-


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[0373] Halbasiatisches. Ghetto," „Ein Befreier des Judentums," „Lateinische Mädchen," „Eine Un¬ glückliche" und „Frauenleben in Halbasien," Der Grundton ist feuilletonistisch, vom novellistischen Bilde bis zur Abhandlung wählt Franzos eine bunte Mannigfaltigkeit der Einkleidungen seiner abwechslungsreichen und lebendig wiedergegebenen Beobachtungen. Im einzelnen sind es vielfach spaßhafte und komische Dinge, die der Schriftsteller erzählt; im ganzen behandelt er aber doch eine sehr ernste Frage: wie dieses Halbasien in Europa verwandelt, die bedenk¬ liche nicht Halb- sondern Viertelskultur und der gleißende Kulturschein in wirk¬ liche Kultur umgebildet werden könne. Franzos ist der Überzeugung, daß die Völker des Ostens aus sich heraus keine eigne Kultur zu erzengen vermögen, und so erscheinen ihm die Zustände in dem Maße trostloser, als „der Einfluß der deutschen Kultur, welche erziehend und vermittelnd wirkte, in stetem Sinken begriffen ist." Für Halbasien bedeutet die feindselige Ablehnung der deutschen Kultur einen unermeßlichen, ans Menschenalter hinaus wirkenden und in ab¬ sehbarer Zeit nicht gut zu machenden Schaden. Sie verschuldet jene beiden Ex¬ treme, von denen kaum zu sagen ist, welches gefährlicher und thörichter ist: den blinden, unbedingten, haltlosen Anschluß an die Formen französischen Wesens, und das Auftauchen der „autochthonen", „urnationalen", keines frem¬ den Einflusses bedürftigen „Kultur", mit welcher z. B. die Aksakom und Nach¬ folger Rußland beglücken möchten. Die einen wollen um jeden Preis Pariser werden, und die andern Barbaren bleiben; das langsame Heranreifen nationaler Kulturen unter der Ägide des deutschen Geistes, der sich gerade im Osten meist als selbstlos erwiesen hat, erscheint überall unterbrochen. Die ganze Folge der Gestalten und Szenen halbasiatischen Lebens, die Franzos aus der großen Ebene vorführt, soll diese Wahrheiten erhärten. Nicht immer unmittelbar, nicht immer in so direkter Ansprache wie in den Aufsätzen „Frauenleben in Halbasien", doch immer verständlich genug bezeichnet Franzos den Anschluß an die deutsche Kultur als das Mittel, die unerfreulichen Zu¬ stände zu überwinden, die seine Skizzen so anschaulich vor Angen führen. Wenn es nur ebenso leicht Ware, Wesen und Mittel der deutschen Kultur genau zu bezeichnen, oder nachzuweisen, wo bei den kleinern Völkern Osteuropas das Streben nach langsamer Entwicklung eigner Kultur Berechtigung hat, und wo es als Angriff auf das Deutschtum erscheint. Bei den verzwackten Völkcrverhält- nissen in der großen Ebene spielen neben den Nachwirkungen vielhundertjähriger Mißwirtschaft die politischen Fragen und Kämpfe des Augenblicks eine so große Rolle, daß der draußen stehende sich des Urteils begeben muß und selbst durch einen landeskundigen Führer wie Franzos nicht immer überzeugt werden kann, daß die Heilmittel und Hilfsmittel so einfach wären, wie sie der An¬ schauung erscheinen, die man in Österreich „Josefinismus" nennt, und von der sich auch Franzos stark erfüllt zeigt. Es mag sein, daß beim Fortbestand des alten Österreichs die in den Überlieferungen des Josefinismus, der Staats-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/373>, abgerufen am 22.07.2024.