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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Berlin als Theaterhauptstadt.

den "Götz," die "Minna" und was so dergleichen war, kurz auf das ganze
verrufene "feine" und "poetische Genre." Es war die ernst gewordene Zeit, die
hier ihren Schlagschatten auch auf die Kassenbücher der Theater warf. Es
besteht doch eine unzweifelhafte Harmonie zwischen den Stimmungen und Ein¬
drücken, die sich des Tags über in der großen Menge ansammeln, und dem
Vergnügen, daß sie sich des Abends bereitet. Und was ästhetische Belehrung
und Zurechtweisung, das Ankämpfen des Künstlers nicht vermag, nämlich die
Menge auf seine Seite, auf die Seite der Kunst zu ziehen, die schwere Not
der Zeit vermag es. Diese eigentümliche Erscheinung zeigt sich in Deutschland
nicht zum erstenmale. Nicht bloß der Bußprediger, nein auch sein scheinbarer
Gegenpol, der Künstler, kommt mitunter in Versuchung, Gottes Zorn auf sein
Geschlecht herabznwünschen, blos daß es wieder ernst sein lerne. Drum wenn
sich auch dieses Ernstes -- eine recht wenig erbauliche Erscheinung in unsrer
Zeit -- vorläufig die Spekulation bemächtigt und ihn in nicht immer anmn-
tender Weise ausnutzt, er ist doch vor allem da und beweist durch sein Dasein,
daß es besser sein könnte, auch mit unsern Zuständen im Theaterwesen. Wir
haben vor zwei Jahren gelegentlich an dieser Stelle einen Schmerzensruf er¬
tönen lassen, gerade über diese Zustände in Berlin, als der Hauptstadt des
neuen Reiches. Kurze Zeit darauf trat auch hierin die Krise ein. Wir möchten
sie daher wiederum an dieser Stelle festhalten, um gelegentlich wieder darauf
Bezug nehmen zu können. Diesmal hat das Publikum gezeigt, was es will
oder wollen kann, und hat den Theaterdirektoren bewiesen, daß die Theater¬
besucher einer deutschen Großstadt nicht unbedingt als Meßbudenpublikum zu
behandeln seien. Die Theaterdirektoren haben, wie gesagt, daran nicht das geringste
Verdienst. Sie nützen gegenwärtig die "günstige Konjunktur" aus, und nament¬
lich das deutsche Theater, dessen Leitsterne Ohnet, Sardon und Blumenthal
waren, solange ihm wirklich eine führende Aufgabe im Kunstleben zugefallen
war, kann nun nicht "klassisch" und nicht "deutsch" genug sein. Warum nicht?
Es hat sich zur größten Verwunderung seines poetischen Direktors gezeigt, daß
das "Klassische" und das "Deutsche" wirklich "geht." Herr Blumenthal, dessen
dramatischer Genius die kalauernde Zote und Reporterpoesie bühncnfähig ge¬
macht hat, schwört auf die "keusche, echte Kunst." Welchen Reiz hat doch das
Edle, wenn es -- Geld einbringt!

Wir aber wissen leider, daß das Edle schlecht gegründet ist, wenn es sich
auf das gründet, was es unter den Menschen einbringt. Auch mit dem Pochen
auf das Klassische und Keusche ist es nicht gethan, und ebensowenig mit dem
unablässigen Schreien nach dem deutschen dramatischen Genius. Diese unselige
Litteraturgeschichtsmanie hat uns gerade noch gefehlt, um unser Kunstleben
vollends zu verpfuschen. Da kann kein Schrittchen unternommen und keine
Neklamefliege unter den Strich gesetzt werden, ohne dies unter der Perspektive
der Jahrhunderte zu sehen. Da ist Herr Richard Voß der "Byron des Dramas,"


Berlin als Theaterhauptstadt.

den „Götz," die „Minna" und was so dergleichen war, kurz auf das ganze
verrufene „feine" und „poetische Genre." Es war die ernst gewordene Zeit, die
hier ihren Schlagschatten auch auf die Kassenbücher der Theater warf. Es
besteht doch eine unzweifelhafte Harmonie zwischen den Stimmungen und Ein¬
drücken, die sich des Tags über in der großen Menge ansammeln, und dem
Vergnügen, daß sie sich des Abends bereitet. Und was ästhetische Belehrung
und Zurechtweisung, das Ankämpfen des Künstlers nicht vermag, nämlich die
Menge auf seine Seite, auf die Seite der Kunst zu ziehen, die schwere Not
der Zeit vermag es. Diese eigentümliche Erscheinung zeigt sich in Deutschland
nicht zum erstenmale. Nicht bloß der Bußprediger, nein auch sein scheinbarer
Gegenpol, der Künstler, kommt mitunter in Versuchung, Gottes Zorn auf sein
Geschlecht herabznwünschen, blos daß es wieder ernst sein lerne. Drum wenn
sich auch dieses Ernstes — eine recht wenig erbauliche Erscheinung in unsrer
Zeit — vorläufig die Spekulation bemächtigt und ihn in nicht immer anmn-
tender Weise ausnutzt, er ist doch vor allem da und beweist durch sein Dasein,
daß es besser sein könnte, auch mit unsern Zuständen im Theaterwesen. Wir
haben vor zwei Jahren gelegentlich an dieser Stelle einen Schmerzensruf er¬
tönen lassen, gerade über diese Zustände in Berlin, als der Hauptstadt des
neuen Reiches. Kurze Zeit darauf trat auch hierin die Krise ein. Wir möchten
sie daher wiederum an dieser Stelle festhalten, um gelegentlich wieder darauf
Bezug nehmen zu können. Diesmal hat das Publikum gezeigt, was es will
oder wollen kann, und hat den Theaterdirektoren bewiesen, daß die Theater¬
besucher einer deutschen Großstadt nicht unbedingt als Meßbudenpublikum zu
behandeln seien. Die Theaterdirektoren haben, wie gesagt, daran nicht das geringste
Verdienst. Sie nützen gegenwärtig die „günstige Konjunktur" aus, und nament¬
lich das deutsche Theater, dessen Leitsterne Ohnet, Sardon und Blumenthal
waren, solange ihm wirklich eine führende Aufgabe im Kunstleben zugefallen
war, kann nun nicht „klassisch" und nicht „deutsch" genug sein. Warum nicht?
Es hat sich zur größten Verwunderung seines poetischen Direktors gezeigt, daß
das „Klassische" und das „Deutsche" wirklich „geht." Herr Blumenthal, dessen
dramatischer Genius die kalauernde Zote und Reporterpoesie bühncnfähig ge¬
macht hat, schwört auf die „keusche, echte Kunst." Welchen Reiz hat doch das
Edle, wenn es — Geld einbringt!

Wir aber wissen leider, daß das Edle schlecht gegründet ist, wenn es sich
auf das gründet, was es unter den Menschen einbringt. Auch mit dem Pochen
auf das Klassische und Keusche ist es nicht gethan, und ebensowenig mit dem
unablässigen Schreien nach dem deutschen dramatischen Genius. Diese unselige
Litteraturgeschichtsmanie hat uns gerade noch gefehlt, um unser Kunstleben
vollends zu verpfuschen. Da kann kein Schrittchen unternommen und keine
Neklamefliege unter den Strich gesetzt werden, ohne dies unter der Perspektive
der Jahrhunderte zu sehen. Da ist Herr Richard Voß der „Byron des Dramas,"


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[0368] Berlin als Theaterhauptstadt. den „Götz," die „Minna" und was so dergleichen war, kurz auf das ganze verrufene „feine" und „poetische Genre." Es war die ernst gewordene Zeit, die hier ihren Schlagschatten auch auf die Kassenbücher der Theater warf. Es besteht doch eine unzweifelhafte Harmonie zwischen den Stimmungen und Ein¬ drücken, die sich des Tags über in der großen Menge ansammeln, und dem Vergnügen, daß sie sich des Abends bereitet. Und was ästhetische Belehrung und Zurechtweisung, das Ankämpfen des Künstlers nicht vermag, nämlich die Menge auf seine Seite, auf die Seite der Kunst zu ziehen, die schwere Not der Zeit vermag es. Diese eigentümliche Erscheinung zeigt sich in Deutschland nicht zum erstenmale. Nicht bloß der Bußprediger, nein auch sein scheinbarer Gegenpol, der Künstler, kommt mitunter in Versuchung, Gottes Zorn auf sein Geschlecht herabznwünschen, blos daß es wieder ernst sein lerne. Drum wenn sich auch dieses Ernstes — eine recht wenig erbauliche Erscheinung in unsrer Zeit — vorläufig die Spekulation bemächtigt und ihn in nicht immer anmn- tender Weise ausnutzt, er ist doch vor allem da und beweist durch sein Dasein, daß es besser sein könnte, auch mit unsern Zuständen im Theaterwesen. Wir haben vor zwei Jahren gelegentlich an dieser Stelle einen Schmerzensruf er¬ tönen lassen, gerade über diese Zustände in Berlin, als der Hauptstadt des neuen Reiches. Kurze Zeit darauf trat auch hierin die Krise ein. Wir möchten sie daher wiederum an dieser Stelle festhalten, um gelegentlich wieder darauf Bezug nehmen zu können. Diesmal hat das Publikum gezeigt, was es will oder wollen kann, und hat den Theaterdirektoren bewiesen, daß die Theater¬ besucher einer deutschen Großstadt nicht unbedingt als Meßbudenpublikum zu behandeln seien. Die Theaterdirektoren haben, wie gesagt, daran nicht das geringste Verdienst. Sie nützen gegenwärtig die „günstige Konjunktur" aus, und nament¬ lich das deutsche Theater, dessen Leitsterne Ohnet, Sardon und Blumenthal waren, solange ihm wirklich eine führende Aufgabe im Kunstleben zugefallen war, kann nun nicht „klassisch" und nicht „deutsch" genug sein. Warum nicht? Es hat sich zur größten Verwunderung seines poetischen Direktors gezeigt, daß das „Klassische" und das „Deutsche" wirklich „geht." Herr Blumenthal, dessen dramatischer Genius die kalauernde Zote und Reporterpoesie bühncnfähig ge¬ macht hat, schwört auf die „keusche, echte Kunst." Welchen Reiz hat doch das Edle, wenn es — Geld einbringt! Wir aber wissen leider, daß das Edle schlecht gegründet ist, wenn es sich auf das gründet, was es unter den Menschen einbringt. Auch mit dem Pochen auf das Klassische und Keusche ist es nicht gethan, und ebensowenig mit dem unablässigen Schreien nach dem deutschen dramatischen Genius. Diese unselige Litteraturgeschichtsmanie hat uns gerade noch gefehlt, um unser Kunstleben vollends zu verpfuschen. Da kann kein Schrittchen unternommen und keine Neklamefliege unter den Strich gesetzt werden, ohne dies unter der Perspektive der Jahrhunderte zu sehen. Da ist Herr Richard Voß der „Byron des Dramas,"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/368>, abgerufen am 04.07.2024.