Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Berlin als Theaterhanptstadt.

spottet aller Beschreibung. Somit sah sich die deutsche Theaterreform bald
wieder auf den äußersten Osten der Theaterhauptstadt verwiesen, wo wiederum
wie vor zwei Jahren ein Unglücklicher viel Geld zusetzt, um teils Michael
Beers "Struensee," teils Max Kretzers "Bürgerlichen Tod" aufzuführen, eine
Geschmacksrichtung, die genau so entlegen ist wie das Theater, an dem sie
sich bethätigt.

Das Bedeutsame, was wir nun in diesen Vorgängen sehen und um des¬
willen wir auch den nicht Berlinischen Leserkreis damit zu behelligen wagen,
liegt durchaus nicht in den zufällig dabei an die Oberfläche geschnellten litte¬
rarischen und unlitterarischen Existenzen. Es liegt in den daran auffällig zu
Tage tretenden Merkmalen und Wandlungen des Zeit- und Volksbewußtseins.
Der mächtige Umschwung, der sich hierin bei uns vollzieht und der, durch eine
nicht abreißende Kette der merkwürdigsten äußern Umstände unterstützt, für ab¬
sehbare Zeit entscheidend zu werde" sich anläßt, teilt die Eigentümlichkeit der
großen friedlichen Revolutionen: er ist weit weniger kenntlich an dem, was in
ihm geschieht, als an dem, was an ihm zu Tage tritt, weit weniger einschnei¬
dend durch äußre Ereignisse, als durch die dabei sich offenbarenden Kennzeichen
einer Bewegung. So waren, um an das hauptsächlichste Beispiel zu erinnern,
die Religionsgespräche, Thesen und Bücherverbrennungen der Reformationszeit
an sich keine sehr auffallenden Ereignisse, sie spielen neben Königsprozessen und
Hinrichtungen, Nationalkonventen und Thermidors eine unscheinbare Rolle. Aber
die Gewalt der dabei wirksamen Persönlichkeiten, die innerliche Erregung und
Teilnahme breitester Volksschichten weisen auf nachhaltigere Umwälzungen, künden
entschiednere Neubildungen, als jene ungeheuern und ungeheuerlichen Kata¬
strophen. Nun, die mannhafte Erhebung aus der vorausgegangenen religiösen
Verwahrlosung und kirchlichen Zerrüttung in der Reformation scheint uns nicht
gar so fern von dem gleichen Vorgange in politischer und sozialer Beziehung,
der unter dem starken Anstoße und der unbeugsamen Führung eines staats¬
männischen Luther sich in unsern Tagen vollzieht, dem gleiche Feststellung und
Dauer verbürgt wird durch die mächtige Beistimmungswoge des Volkes und das
weise Entgegenkommen der staatlichen Gewalten. Das Theater aber, so wenig
es nachgerade noch darauf Anspruch erheben sollte, ist und bleibt doch einmal
"der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters." Selbst inmitten der
Possen und Gemeinheiten, der selbstgefälligen Schwäche und der dreisten Platt¬
heit, die sich auf ihm breit macht, ließ sich, sehr überraschend und gewiß recht
wenig erfreulich für die Beteiligten, jenes Geistes ein Hauch verspüren, der
jetzt bei uns durch alle Gassen weht. staunten doch die geschäftskundigsten
Thcateragenten und die fixeste-, Direktoren, als in den letzten Jahren nicht mit
einem Male, aber doch zusehends die Operettentheater leer wurden, und in der
Komödie das bewährte Genre "Mein Leopold" und "Prvbepfeil" nicht mehr
zog, und die Leute mit einem Male ganz versessen waren auf deu "Wallenstein,"


Berlin als Theaterhanptstadt.

spottet aller Beschreibung. Somit sah sich die deutsche Theaterreform bald
wieder auf den äußersten Osten der Theaterhauptstadt verwiesen, wo wiederum
wie vor zwei Jahren ein Unglücklicher viel Geld zusetzt, um teils Michael
Beers „Struensee," teils Max Kretzers „Bürgerlichen Tod" aufzuführen, eine
Geschmacksrichtung, die genau so entlegen ist wie das Theater, an dem sie
sich bethätigt.

Das Bedeutsame, was wir nun in diesen Vorgängen sehen und um des¬
willen wir auch den nicht Berlinischen Leserkreis damit zu behelligen wagen,
liegt durchaus nicht in den zufällig dabei an die Oberfläche geschnellten litte¬
rarischen und unlitterarischen Existenzen. Es liegt in den daran auffällig zu
Tage tretenden Merkmalen und Wandlungen des Zeit- und Volksbewußtseins.
Der mächtige Umschwung, der sich hierin bei uns vollzieht und der, durch eine
nicht abreißende Kette der merkwürdigsten äußern Umstände unterstützt, für ab¬
sehbare Zeit entscheidend zu werde» sich anläßt, teilt die Eigentümlichkeit der
großen friedlichen Revolutionen: er ist weit weniger kenntlich an dem, was in
ihm geschieht, als an dem, was an ihm zu Tage tritt, weit weniger einschnei¬
dend durch äußre Ereignisse, als durch die dabei sich offenbarenden Kennzeichen
einer Bewegung. So waren, um an das hauptsächlichste Beispiel zu erinnern,
die Religionsgespräche, Thesen und Bücherverbrennungen der Reformationszeit
an sich keine sehr auffallenden Ereignisse, sie spielen neben Königsprozessen und
Hinrichtungen, Nationalkonventen und Thermidors eine unscheinbare Rolle. Aber
die Gewalt der dabei wirksamen Persönlichkeiten, die innerliche Erregung und
Teilnahme breitester Volksschichten weisen auf nachhaltigere Umwälzungen, künden
entschiednere Neubildungen, als jene ungeheuern und ungeheuerlichen Kata¬
strophen. Nun, die mannhafte Erhebung aus der vorausgegangenen religiösen
Verwahrlosung und kirchlichen Zerrüttung in der Reformation scheint uns nicht
gar so fern von dem gleichen Vorgange in politischer und sozialer Beziehung,
der unter dem starken Anstoße und der unbeugsamen Führung eines staats¬
männischen Luther sich in unsern Tagen vollzieht, dem gleiche Feststellung und
Dauer verbürgt wird durch die mächtige Beistimmungswoge des Volkes und das
weise Entgegenkommen der staatlichen Gewalten. Das Theater aber, so wenig
es nachgerade noch darauf Anspruch erheben sollte, ist und bleibt doch einmal
„der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters." Selbst inmitten der
Possen und Gemeinheiten, der selbstgefälligen Schwäche und der dreisten Platt¬
heit, die sich auf ihm breit macht, ließ sich, sehr überraschend und gewiß recht
wenig erfreulich für die Beteiligten, jenes Geistes ein Hauch verspüren, der
jetzt bei uns durch alle Gassen weht. staunten doch die geschäftskundigsten
Thcateragenten und die fixeste-, Direktoren, als in den letzten Jahren nicht mit
einem Male, aber doch zusehends die Operettentheater leer wurden, und in der
Komödie das bewährte Genre „Mein Leopold" und „Prvbepfeil" nicht mehr
zog, und die Leute mit einem Male ganz versessen waren auf deu „Wallenstein,"


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0367" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203802"/>
          <fw type="header" place="top"> Berlin als Theaterhanptstadt.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_921" prev="#ID_920"> spottet aller Beschreibung. Somit sah sich die deutsche Theaterreform bald<lb/>
wieder auf den äußersten Osten der Theaterhauptstadt verwiesen, wo wiederum<lb/>
wie vor zwei Jahren ein Unglücklicher viel Geld zusetzt, um teils Michael<lb/>
Beers &#x201E;Struensee," teils Max Kretzers &#x201E;Bürgerlichen Tod" aufzuführen, eine<lb/>
Geschmacksrichtung, die genau so entlegen ist wie das Theater, an dem sie<lb/>
sich bethätigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_922" next="#ID_923"> Das Bedeutsame, was wir nun in diesen Vorgängen sehen und um des¬<lb/>
willen wir auch den nicht Berlinischen Leserkreis damit zu behelligen wagen,<lb/>
liegt durchaus nicht in den zufällig dabei an die Oberfläche geschnellten litte¬<lb/>
rarischen und unlitterarischen Existenzen.  Es liegt in den daran auffällig zu<lb/>
Tage tretenden Merkmalen und Wandlungen des Zeit- und Volksbewußtseins.<lb/>
Der mächtige Umschwung, der sich hierin bei uns vollzieht und der, durch eine<lb/>
nicht abreißende Kette der merkwürdigsten äußern Umstände unterstützt, für ab¬<lb/>
sehbare Zeit entscheidend zu werde» sich anläßt, teilt die Eigentümlichkeit der<lb/>
großen friedlichen Revolutionen: er ist weit weniger kenntlich an dem, was in<lb/>
ihm geschieht, als an dem, was an ihm zu Tage tritt, weit weniger einschnei¬<lb/>
dend durch äußre Ereignisse, als durch die dabei sich offenbarenden Kennzeichen<lb/>
einer Bewegung.  So waren, um an das hauptsächlichste Beispiel zu erinnern,<lb/>
die Religionsgespräche, Thesen und Bücherverbrennungen der Reformationszeit<lb/>
an sich keine sehr auffallenden Ereignisse, sie spielen neben Königsprozessen und<lb/>
Hinrichtungen, Nationalkonventen und Thermidors eine unscheinbare Rolle. Aber<lb/>
die Gewalt der dabei wirksamen Persönlichkeiten, die innerliche Erregung und<lb/>
Teilnahme breitester Volksschichten weisen auf nachhaltigere Umwälzungen, künden<lb/>
entschiednere Neubildungen, als jene ungeheuern und ungeheuerlichen Kata¬<lb/>
strophen.  Nun, die mannhafte Erhebung aus der vorausgegangenen religiösen<lb/>
Verwahrlosung und kirchlichen Zerrüttung in der Reformation scheint uns nicht<lb/>
gar so fern von dem gleichen Vorgange in politischer und sozialer Beziehung,<lb/>
der unter dem starken Anstoße und der unbeugsamen Führung eines staats¬<lb/>
männischen Luther sich in unsern Tagen vollzieht, dem gleiche Feststellung und<lb/>
Dauer verbürgt wird durch die mächtige Beistimmungswoge des Volkes und das<lb/>
weise Entgegenkommen der staatlichen Gewalten. Das Theater aber, so wenig<lb/>
es nachgerade noch darauf Anspruch erheben sollte, ist und bleibt doch einmal<lb/>
&#x201E;der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters." Selbst inmitten der<lb/>
Possen und Gemeinheiten, der selbstgefälligen Schwäche und der dreisten Platt¬<lb/>
heit, die sich auf ihm breit macht, ließ sich, sehr überraschend und gewiß recht<lb/>
wenig erfreulich für die Beteiligten, jenes Geistes ein Hauch verspüren, der<lb/>
jetzt bei uns durch alle Gassen weht.  staunten doch die geschäftskundigsten<lb/>
Thcateragenten und die fixeste-, Direktoren, als in den letzten Jahren nicht mit<lb/>
einem Male, aber doch zusehends die Operettentheater leer wurden, und in der<lb/>
Komödie das bewährte Genre &#x201E;Mein Leopold" und &#x201E;Prvbepfeil" nicht mehr<lb/>
zog, und die Leute mit einem Male ganz versessen waren auf deu &#x201E;Wallenstein,"</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0367] Berlin als Theaterhanptstadt. spottet aller Beschreibung. Somit sah sich die deutsche Theaterreform bald wieder auf den äußersten Osten der Theaterhauptstadt verwiesen, wo wiederum wie vor zwei Jahren ein Unglücklicher viel Geld zusetzt, um teils Michael Beers „Struensee," teils Max Kretzers „Bürgerlichen Tod" aufzuführen, eine Geschmacksrichtung, die genau so entlegen ist wie das Theater, an dem sie sich bethätigt. Das Bedeutsame, was wir nun in diesen Vorgängen sehen und um des¬ willen wir auch den nicht Berlinischen Leserkreis damit zu behelligen wagen, liegt durchaus nicht in den zufällig dabei an die Oberfläche geschnellten litte¬ rarischen und unlitterarischen Existenzen. Es liegt in den daran auffällig zu Tage tretenden Merkmalen und Wandlungen des Zeit- und Volksbewußtseins. Der mächtige Umschwung, der sich hierin bei uns vollzieht und der, durch eine nicht abreißende Kette der merkwürdigsten äußern Umstände unterstützt, für ab¬ sehbare Zeit entscheidend zu werde» sich anläßt, teilt die Eigentümlichkeit der großen friedlichen Revolutionen: er ist weit weniger kenntlich an dem, was in ihm geschieht, als an dem, was an ihm zu Tage tritt, weit weniger einschnei¬ dend durch äußre Ereignisse, als durch die dabei sich offenbarenden Kennzeichen einer Bewegung. So waren, um an das hauptsächlichste Beispiel zu erinnern, die Religionsgespräche, Thesen und Bücherverbrennungen der Reformationszeit an sich keine sehr auffallenden Ereignisse, sie spielen neben Königsprozessen und Hinrichtungen, Nationalkonventen und Thermidors eine unscheinbare Rolle. Aber die Gewalt der dabei wirksamen Persönlichkeiten, die innerliche Erregung und Teilnahme breitester Volksschichten weisen auf nachhaltigere Umwälzungen, künden entschiednere Neubildungen, als jene ungeheuern und ungeheuerlichen Kata¬ strophen. Nun, die mannhafte Erhebung aus der vorausgegangenen religiösen Verwahrlosung und kirchlichen Zerrüttung in der Reformation scheint uns nicht gar so fern von dem gleichen Vorgange in politischer und sozialer Beziehung, der unter dem starken Anstoße und der unbeugsamen Führung eines staats¬ männischen Luther sich in unsern Tagen vollzieht, dem gleiche Feststellung und Dauer verbürgt wird durch die mächtige Beistimmungswoge des Volkes und das weise Entgegenkommen der staatlichen Gewalten. Das Theater aber, so wenig es nachgerade noch darauf Anspruch erheben sollte, ist und bleibt doch einmal „der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters." Selbst inmitten der Possen und Gemeinheiten, der selbstgefälligen Schwäche und der dreisten Platt¬ heit, die sich auf ihm breit macht, ließ sich, sehr überraschend und gewiß recht wenig erfreulich für die Beteiligten, jenes Geistes ein Hauch verspüren, der jetzt bei uns durch alle Gassen weht. staunten doch die geschäftskundigsten Thcateragenten und die fixeste-, Direktoren, als in den letzten Jahren nicht mit einem Male, aber doch zusehends die Operettentheater leer wurden, und in der Komödie das bewährte Genre „Mein Leopold" und „Prvbepfeil" nicht mehr zog, und die Leute mit einem Male ganz versessen waren auf deu „Wallenstein,"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/367
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/367>, abgerufen am 02.07.2024.