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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Berlin als Theaterhauptstadt.

Herr Friedrich Wilhelm Schulze ist der endliche Befreier von dem "Attila
der deutschen Bühne" (das ist nämlich Friedrich Schiller!), der "Fortsetzer"
Klcists. Herr Müller dagegen ist sein "idealistischer Antagonist," und Herr
Blumenthal muß, da er nicht mehr der "ganze Mvliöre" sein kann, zum min¬
desten "eine Ader von Molisre haben." Offenbar ist es die "goldene Ader."
Ist das nun nicht alles nahezu blödsinnig? Du lieber Gott! Richard Voß
und die dramatischen Tageblattsreporter unter das Perspektive der Jahrhunderte!
Glaubt man denn wirklich, daß die Menschheit immer Zeit und Lust haben
wird, im heutigen Stile Kunstgeschichte zu simpel"? Die ewigen Phrasen von
den Blüteperioden und Verfallsperioden, von den "bahnbrechenden Genies" und
den mehr oder minder großen Talenten ewig wiederzukäuen? Wir hoffen ganz
energisch, nein, nicht blos im Interesse ihres Kunstverstandes! Wir leben der
tröstlichen Gewißheit, daß Kürschners Litteratnrkalender keinem sekundärer und
keiner höhern Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts litterarischen Ehrgeiz er¬
wecken wird. Ja wir sind so kühn, uns zu der Vorstellung einer Zeit auf¬
zuschwingen, wo Oesers "Aesthetische Briefe" der Jungfrau und Gottschalks
"Poetik" dem Jüngling unbekannt sein werden, wo man nicht mehr in seinem
Tageblättchen literarhistorische Essaycheu mit weiter Perspektive lesen wird,
und wo man endlich aufhören wird, bei Meiers zwischen dem Lachs und dem
Poulardenbraten von "himmelstürmerischem Schaffensdrang" und "titanischen
Trotz" zu schwatzen. Wir denken uns ein Geschlecht, das von Realismus und
Idealismus keine Ahnung haben wird und von "genialen Ringen" keine blasse
Idee, das vielleicht so schrecklich ungebildet sein wird, von künstlerischen "Pro¬
blemen" gar nichts zu wissen und sich keinen Pfifferling um seine kunsthistorische
Rubrik zu kümmern. Nur eine solche Zeit und nur ein solches Geschlecht wird
auch die große Frage des "deutschen dramatischen Genius" glücklich erledigen.

Der alte, immer junge Riehl hat kürzlich in einem seiner altgewohnten
Wandcrvorträge auch die Frage unsers gegenwärtigen Theaterelends behandelt.
Er kam zu dem ganz richtigen Schlüsse, daß der Grund hierfür in dem Ge¬
schmack der reichen Leute zu suchen sei, der hierin gegenwärtig den Ton angebe
und der den Geschmack der Gebildeten, des Künstler- und Gelehrtenstandes,
verdrängt habe. Das ist ganz richtig, aber eine wichtige Zuthat in diesem
Geschmack hat er mindestens nicht besonders betont, so oft er sie auch berührt
hat, das ist die diesen Kreisen besonders gemäße Form der "Kunstsimpelei,"
mit allem was darauf Bezug hat: das Prunken mit dem "Echten", das äußer¬
liche Aufgehen in gelehrtem Kram und launischen Besonderheiten, die alberne
Sucht, Kunstgeschichte machen zu wollen, das "Entdecken" der Talente, das
Ausrufen der Genies, kurz alles das, was sich auf den ersten Blick als Kopie
des Bildungswesens darstellt und in jenen Kreisen leider meist sein Heim auf¬
zuschlagen liebt. So erklärt sich der eigentümliche Zusammenhang, der gegen¬
wärtig auf unsrer Bühne zwischen ihren kostspieligen kunst- und literarhistorischen


Grenzboten IV. 1888. 46
Berlin als Theaterhauptstadt.

Herr Friedrich Wilhelm Schulze ist der endliche Befreier von dem „Attila
der deutschen Bühne" (das ist nämlich Friedrich Schiller!), der „Fortsetzer"
Klcists. Herr Müller dagegen ist sein „idealistischer Antagonist," und Herr
Blumenthal muß, da er nicht mehr der „ganze Mvliöre" sein kann, zum min¬
desten „eine Ader von Molisre haben." Offenbar ist es die „goldene Ader."
Ist das nun nicht alles nahezu blödsinnig? Du lieber Gott! Richard Voß
und die dramatischen Tageblattsreporter unter das Perspektive der Jahrhunderte!
Glaubt man denn wirklich, daß die Menschheit immer Zeit und Lust haben
wird, im heutigen Stile Kunstgeschichte zu simpel»? Die ewigen Phrasen von
den Blüteperioden und Verfallsperioden, von den „bahnbrechenden Genies" und
den mehr oder minder großen Talenten ewig wiederzukäuen? Wir hoffen ganz
energisch, nein, nicht blos im Interesse ihres Kunstverstandes! Wir leben der
tröstlichen Gewißheit, daß Kürschners Litteratnrkalender keinem sekundärer und
keiner höhern Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts litterarischen Ehrgeiz er¬
wecken wird. Ja wir sind so kühn, uns zu der Vorstellung einer Zeit auf¬
zuschwingen, wo Oesers „Aesthetische Briefe" der Jungfrau und Gottschalks
„Poetik" dem Jüngling unbekannt sein werden, wo man nicht mehr in seinem
Tageblättchen literarhistorische Essaycheu mit weiter Perspektive lesen wird,
und wo man endlich aufhören wird, bei Meiers zwischen dem Lachs und dem
Poulardenbraten von „himmelstürmerischem Schaffensdrang" und „titanischen
Trotz" zu schwatzen. Wir denken uns ein Geschlecht, das von Realismus und
Idealismus keine Ahnung haben wird und von „genialen Ringen" keine blasse
Idee, das vielleicht so schrecklich ungebildet sein wird, von künstlerischen „Pro¬
blemen" gar nichts zu wissen und sich keinen Pfifferling um seine kunsthistorische
Rubrik zu kümmern. Nur eine solche Zeit und nur ein solches Geschlecht wird
auch die große Frage des „deutschen dramatischen Genius" glücklich erledigen.

Der alte, immer junge Riehl hat kürzlich in einem seiner altgewohnten
Wandcrvorträge auch die Frage unsers gegenwärtigen Theaterelends behandelt.
Er kam zu dem ganz richtigen Schlüsse, daß der Grund hierfür in dem Ge¬
schmack der reichen Leute zu suchen sei, der hierin gegenwärtig den Ton angebe
und der den Geschmack der Gebildeten, des Künstler- und Gelehrtenstandes,
verdrängt habe. Das ist ganz richtig, aber eine wichtige Zuthat in diesem
Geschmack hat er mindestens nicht besonders betont, so oft er sie auch berührt
hat, das ist die diesen Kreisen besonders gemäße Form der „Kunstsimpelei,"
mit allem was darauf Bezug hat: das Prunken mit dem „Echten", das äußer¬
liche Aufgehen in gelehrtem Kram und launischen Besonderheiten, die alberne
Sucht, Kunstgeschichte machen zu wollen, das „Entdecken" der Talente, das
Ausrufen der Genies, kurz alles das, was sich auf den ersten Blick als Kopie
des Bildungswesens darstellt und in jenen Kreisen leider meist sein Heim auf¬
zuschlagen liebt. So erklärt sich der eigentümliche Zusammenhang, der gegen¬
wärtig auf unsrer Bühne zwischen ihren kostspieligen kunst- und literarhistorischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/369>, abgerufen am 04.07.2024.