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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Stellung Bismarcks und des Kronprinzen zu Baiern im Winter 1,370.

So und nicht wie im Tagebuche standen die Dinge, als Bismarck über
die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reiche mit der
baierischen Regierung zu verhandeln begann, und mit Rücksicht auf diese
Sachlage, beider fast nur der gut patriotische Sinn des Königs Ludwig schwer
für die Verwirklichung des Einheitsgedankens ins Gewicht fiel, wurde" in
Versailles Zugeständnisse gemacht. Daß dies den baierischen Nationalliberalen
oder, wie sie damals hießen, der "deutschen Fortschrittspartei in Baiern" nicht
gefiel, daß diese Politiker mit den "Neservatrechten," welche die baierischen
Unterhändler sich ausbedungen und erreicht hatten, ebensowenig zufrieden waren,
wie anfangs ihre Gesinnungsgenossen in Norddeutschland, beweisen das Minori¬
tätsgutachten des Ausschusses der baierischen Kammer und die Rede, die Barth
als Vertreter dieser Minorität am 11. Januar 1371 hielt. Aus jenem
Gutachten aber wie aus dieser Rede ergiebt sich unwiderlegbar, daß an eine
ganz unveränderte Annahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes in
Baiern nicht zu denken war, und selbst nach den Zugeständnissen, die der
Bundeskanzler dem Partikularismus und Föderalismus gewährt hatte, ge¬
langten die Verscnller Verträge doch nur mit zwei Stimmen über die ver¬
fassungsmäßige Zweidrittelmehrheit in der Kammer zur Annahme. Wahr¬
scheinlich ist zwar, daß bei einer Verwerfung der Vorlage und einer da¬
raufhin erfolgten Auflösung der Kammer neue Wahlen mehr als die notwen¬
dige Zweidrittelmehrheit gebracht hätten, aber die baierische Krone führte da¬
mals den Kampf mit den Widersachern der Vereinbarung, und die Verfassungs¬
änderungen und Vorrechte wirkten als treffliche Gegenbeweise gegen die Un¬
wahrheiten und Uebertreibungen der Preußenfeinde. Alles wäre anders gekommen,
wenn man gegen den Willen der Krone und die Vorurteile der großen Masse
der Bevölkerung rücksichtslos, wie der Verfasser des Kriegstagebuches verlangte,
den Anschluß B ierns hätte erzwingen wollte. In dieser Überzeugung haben
damals die Wortführer der nationalgesinnten Parteien in Berlin eifrig für
die Annahme der Verscnller Verträge gesprochen, und die spätere Zeit hat be¬
wiesen, daß die Mehrheit des Norddeutschen Reichstags weise handelte, als sie
in diesem Sinne votirte.

Dabei sehen wir unsernteils von der moralischen und von der allgemeinen
europäischen Seite der Frage ab und lassen Bismarck selbst ein paar Worte
darüber sagen. Als der Traktat mit Baiern fertig war und unterzeichnet werden
sollte, bemerkte er (wir berichten nach Moritz Buschs "Graf Bismarck und seine
Leute." 2. Band): "Die Zeitungen werden damit nicht zufrieden sein, und wer
einmal in der gewöhnlichen Weise Geschichte schreibt, kann unser Abkommen
tadeln. Er kann sagen: der dumme Kerl hätte mehr fordern sollen, er hätte
es erlangt, sie hätten gemußt, und er kann Recht haben -- das heißt mit dem
Müssen. Aber was sind Verträge, wenn man sie abschließen muß. Mir lag
mehr daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden waren, und ich


Die Stellung Bismarcks und des Kronprinzen zu Baiern im Winter 1,370.

So und nicht wie im Tagebuche standen die Dinge, als Bismarck über
die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reiche mit der
baierischen Regierung zu verhandeln begann, und mit Rücksicht auf diese
Sachlage, beider fast nur der gut patriotische Sinn des Königs Ludwig schwer
für die Verwirklichung des Einheitsgedankens ins Gewicht fiel, wurde» in
Versailles Zugeständnisse gemacht. Daß dies den baierischen Nationalliberalen
oder, wie sie damals hießen, der „deutschen Fortschrittspartei in Baiern" nicht
gefiel, daß diese Politiker mit den „Neservatrechten," welche die baierischen
Unterhändler sich ausbedungen und erreicht hatten, ebensowenig zufrieden waren,
wie anfangs ihre Gesinnungsgenossen in Norddeutschland, beweisen das Minori¬
tätsgutachten des Ausschusses der baierischen Kammer und die Rede, die Barth
als Vertreter dieser Minorität am 11. Januar 1371 hielt. Aus jenem
Gutachten aber wie aus dieser Rede ergiebt sich unwiderlegbar, daß an eine
ganz unveränderte Annahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes in
Baiern nicht zu denken war, und selbst nach den Zugeständnissen, die der
Bundeskanzler dem Partikularismus und Föderalismus gewährt hatte, ge¬
langten die Verscnller Verträge doch nur mit zwei Stimmen über die ver¬
fassungsmäßige Zweidrittelmehrheit in der Kammer zur Annahme. Wahr¬
scheinlich ist zwar, daß bei einer Verwerfung der Vorlage und einer da¬
raufhin erfolgten Auflösung der Kammer neue Wahlen mehr als die notwen¬
dige Zweidrittelmehrheit gebracht hätten, aber die baierische Krone führte da¬
mals den Kampf mit den Widersachern der Vereinbarung, und die Verfassungs¬
änderungen und Vorrechte wirkten als treffliche Gegenbeweise gegen die Un¬
wahrheiten und Uebertreibungen der Preußenfeinde. Alles wäre anders gekommen,
wenn man gegen den Willen der Krone und die Vorurteile der großen Masse
der Bevölkerung rücksichtslos, wie der Verfasser des Kriegstagebuches verlangte,
den Anschluß B ierns hätte erzwingen wollte. In dieser Überzeugung haben
damals die Wortführer der nationalgesinnten Parteien in Berlin eifrig für
die Annahme der Verscnller Verträge gesprochen, und die spätere Zeit hat be¬
wiesen, daß die Mehrheit des Norddeutschen Reichstags weise handelte, als sie
in diesem Sinne votirte.

Dabei sehen wir unsernteils von der moralischen und von der allgemeinen
europäischen Seite der Frage ab und lassen Bismarck selbst ein paar Worte
darüber sagen. Als der Traktat mit Baiern fertig war und unterzeichnet werden
sollte, bemerkte er (wir berichten nach Moritz Buschs „Graf Bismarck und seine
Leute." 2. Band): „Die Zeitungen werden damit nicht zufrieden sein, und wer
einmal in der gewöhnlichen Weise Geschichte schreibt, kann unser Abkommen
tadeln. Er kann sagen: der dumme Kerl hätte mehr fordern sollen, er hätte
es erlangt, sie hätten gemußt, und er kann Recht haben — das heißt mit dem
Müssen. Aber was sind Verträge, wenn man sie abschließen muß. Mir lag
mehr daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden waren, und ich


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[0360] Die Stellung Bismarcks und des Kronprinzen zu Baiern im Winter 1,370. So und nicht wie im Tagebuche standen die Dinge, als Bismarck über die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reiche mit der baierischen Regierung zu verhandeln begann, und mit Rücksicht auf diese Sachlage, beider fast nur der gut patriotische Sinn des Königs Ludwig schwer für die Verwirklichung des Einheitsgedankens ins Gewicht fiel, wurde» in Versailles Zugeständnisse gemacht. Daß dies den baierischen Nationalliberalen oder, wie sie damals hießen, der „deutschen Fortschrittspartei in Baiern" nicht gefiel, daß diese Politiker mit den „Neservatrechten," welche die baierischen Unterhändler sich ausbedungen und erreicht hatten, ebensowenig zufrieden waren, wie anfangs ihre Gesinnungsgenossen in Norddeutschland, beweisen das Minori¬ tätsgutachten des Ausschusses der baierischen Kammer und die Rede, die Barth als Vertreter dieser Minorität am 11. Januar 1371 hielt. Aus jenem Gutachten aber wie aus dieser Rede ergiebt sich unwiderlegbar, daß an eine ganz unveränderte Annahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes in Baiern nicht zu denken war, und selbst nach den Zugeständnissen, die der Bundeskanzler dem Partikularismus und Föderalismus gewährt hatte, ge¬ langten die Verscnller Verträge doch nur mit zwei Stimmen über die ver¬ fassungsmäßige Zweidrittelmehrheit in der Kammer zur Annahme. Wahr¬ scheinlich ist zwar, daß bei einer Verwerfung der Vorlage und einer da¬ raufhin erfolgten Auflösung der Kammer neue Wahlen mehr als die notwen¬ dige Zweidrittelmehrheit gebracht hätten, aber die baierische Krone führte da¬ mals den Kampf mit den Widersachern der Vereinbarung, und die Verfassungs¬ änderungen und Vorrechte wirkten als treffliche Gegenbeweise gegen die Un¬ wahrheiten und Uebertreibungen der Preußenfeinde. Alles wäre anders gekommen, wenn man gegen den Willen der Krone und die Vorurteile der großen Masse der Bevölkerung rücksichtslos, wie der Verfasser des Kriegstagebuches verlangte, den Anschluß B ierns hätte erzwingen wollte. In dieser Überzeugung haben damals die Wortführer der nationalgesinnten Parteien in Berlin eifrig für die Annahme der Verscnller Verträge gesprochen, und die spätere Zeit hat be¬ wiesen, daß die Mehrheit des Norddeutschen Reichstags weise handelte, als sie in diesem Sinne votirte. Dabei sehen wir unsernteils von der moralischen und von der allgemeinen europäischen Seite der Frage ab und lassen Bismarck selbst ein paar Worte darüber sagen. Als der Traktat mit Baiern fertig war und unterzeichnet werden sollte, bemerkte er (wir berichten nach Moritz Buschs „Graf Bismarck und seine Leute." 2. Band): „Die Zeitungen werden damit nicht zufrieden sein, und wer einmal in der gewöhnlichen Weise Geschichte schreibt, kann unser Abkommen tadeln. Er kann sagen: der dumme Kerl hätte mehr fordern sollen, er hätte es erlangt, sie hätten gemußt, und er kann Recht haben — das heißt mit dem Müssen. Aber was sind Verträge, wenn man sie abschließen muß. Mir lag mehr daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden waren, und ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/360>, abgerufen am 04.07.2024.