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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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pas neue Rurgtheater.

er mit breitesten Realismus aus: als Gianettino Doria brauchte er zur Unter¬
zeichnung des Todesurteils -- wie überschnell geschieht dergleichen nach dem
Brauche der idealistischen Schule! -- eine volle Minute, er schloß mit einem
großen Schnörkel, den er so energisch zog, daß die Tinte weit über das Papier
hin spritzte. Und so entfernte er sich, im Stil wenigstens, sehr bedeutend
von der alten Schule. Wie er dann schied, zeigte sichs, daß er aber doch nicht
ohne Einfluß auf die Spielweise der Zurückbleibenden gewesen war. Nicht daß
er geradezu als ein Muster wäre nachgeahmt worden, aber der moderne Rea¬
lismus hatte durch die Episode Mitterwurzers doch tiefer Wurzel im Burg¬
theater fassen können. Dazu kamen andre Umstände, die ihn begünstigten, so
besonders die längeren Gastspiele Salvinis (1880) und Edwin Booths (1883)
in Wien. Sonnenthal hat von dem erstem einige realistische Züge entlehnt,
Lewinsky vielleicht von dem letztern. Die jüngern aber, die in den letzten Zeiten
Diugelstedts und dann unter Wilbrandt in den Verband des Burgtheaters
traten -- die Hübner, Devrient, Reimers -- stehen bereits alle mehr oder
weniger unter dem Banne des Realismus, die jungen Charakterspieler sehen
heute nicht mehr in Lewinsky ihr Ideal, und die Liebhaber und Helden blicken
auf Kainz, ein Wiener Kind, der den Realismus Mitterwurzers selbst in Rollen
wie Romeo und Don Carlos zu tragen wagte.

Auch im Lustspiel konnte sich das Burgtheater des realistischen Zuges, der
sich seit den letzten siebziger Jahren im tragischen Fache bemerken läßt, nicht
völlig erwehren. Von einem Einfluß Mitterwurzers wird man jedoch hier
kaum sprechen dürfen. Hier kommt vielleicht die Veränderung des gesellschaft¬
lichen Tones während der letzten Jahrzehnte, die doch unstreitig ist, in Betracht:
in dem Salon von heute ist man weniger fein, brüsker, ausgelassener, mani-
rirter als in dem des vorigen Geschlechts, öfter als früher nähert man sich
in ihm der Karrikatur. Und dann vergesse man auch nicht der Wandlung,
welche unsre Vorstadtbühnen seit Nestroys Tode durchgemacht haben: nicht das
im Wiener Dialekt gehaltene Volksstück bildet jetzt den Grundstock des Reper¬
toires vom Carl- und Wiednertheater, sondern -- neben der Operette -- die
französische Posse, wo meist hochdeutsch gesprochen wird. Schauspieler von großer
Begabung sind aufgetreten, die in dieser Gattung ihr eigentliches Element
fanden: Kraal, Friese, Schweighofer, Girardi. Von einem Dialog, den die
beiden letztern in der romantischen Operette "Rip-Rip" mit einander führen,
konnte ein Kritiker sagen, er dürfte ohne Bedenken in irgend ein Lustspiel der
Burg verpflanzt werden. Und anderseits hat bei einer Aufführung des "Hütten¬
besitzers" derselbe Kritiker in einer Szene an die Operette "Angot" und das Carl¬
theater gemahnt sein wollen. Gewiß ist, daß eine Wechselwirkung besteht: so
wie die Schauspieler der Vorstadt, bewußt oder unbewußt, einen Ehrgeiz darein
setzen, nach dem Vorbilde der Hofschauspieler zu charakterisiren, so werden diese
uicht selten verführt, sich "gehen zu lassen," um "fesch" zu sein. Dieses "fesch" der


pas neue Rurgtheater.

er mit breitesten Realismus aus: als Gianettino Doria brauchte er zur Unter¬
zeichnung des Todesurteils — wie überschnell geschieht dergleichen nach dem
Brauche der idealistischen Schule! — eine volle Minute, er schloß mit einem
großen Schnörkel, den er so energisch zog, daß die Tinte weit über das Papier
hin spritzte. Und so entfernte er sich, im Stil wenigstens, sehr bedeutend
von der alten Schule. Wie er dann schied, zeigte sichs, daß er aber doch nicht
ohne Einfluß auf die Spielweise der Zurückbleibenden gewesen war. Nicht daß
er geradezu als ein Muster wäre nachgeahmt worden, aber der moderne Rea¬
lismus hatte durch die Episode Mitterwurzers doch tiefer Wurzel im Burg¬
theater fassen können. Dazu kamen andre Umstände, die ihn begünstigten, so
besonders die längeren Gastspiele Salvinis (1880) und Edwin Booths (1883)
in Wien. Sonnenthal hat von dem erstem einige realistische Züge entlehnt,
Lewinsky vielleicht von dem letztern. Die jüngern aber, die in den letzten Zeiten
Diugelstedts und dann unter Wilbrandt in den Verband des Burgtheaters
traten — die Hübner, Devrient, Reimers — stehen bereits alle mehr oder
weniger unter dem Banne des Realismus, die jungen Charakterspieler sehen
heute nicht mehr in Lewinsky ihr Ideal, und die Liebhaber und Helden blicken
auf Kainz, ein Wiener Kind, der den Realismus Mitterwurzers selbst in Rollen
wie Romeo und Don Carlos zu tragen wagte.

Auch im Lustspiel konnte sich das Burgtheater des realistischen Zuges, der
sich seit den letzten siebziger Jahren im tragischen Fache bemerken läßt, nicht
völlig erwehren. Von einem Einfluß Mitterwurzers wird man jedoch hier
kaum sprechen dürfen. Hier kommt vielleicht die Veränderung des gesellschaft¬
lichen Tones während der letzten Jahrzehnte, die doch unstreitig ist, in Betracht:
in dem Salon von heute ist man weniger fein, brüsker, ausgelassener, mani-
rirter als in dem des vorigen Geschlechts, öfter als früher nähert man sich
in ihm der Karrikatur. Und dann vergesse man auch nicht der Wandlung,
welche unsre Vorstadtbühnen seit Nestroys Tode durchgemacht haben: nicht das
im Wiener Dialekt gehaltene Volksstück bildet jetzt den Grundstock des Reper¬
toires vom Carl- und Wiednertheater, sondern — neben der Operette — die
französische Posse, wo meist hochdeutsch gesprochen wird. Schauspieler von großer
Begabung sind aufgetreten, die in dieser Gattung ihr eigentliches Element
fanden: Kraal, Friese, Schweighofer, Girardi. Von einem Dialog, den die
beiden letztern in der romantischen Operette „Rip-Rip" mit einander führen,
konnte ein Kritiker sagen, er dürfte ohne Bedenken in irgend ein Lustspiel der
Burg verpflanzt werden. Und anderseits hat bei einer Aufführung des „Hütten¬
besitzers" derselbe Kritiker in einer Szene an die Operette „Angot" und das Carl¬
theater gemahnt sein wollen. Gewiß ist, daß eine Wechselwirkung besteht: so
wie die Schauspieler der Vorstadt, bewußt oder unbewußt, einen Ehrgeiz darein
setzen, nach dem Vorbilde der Hofschauspieler zu charakterisiren, so werden diese
uicht selten verführt, sich „gehen zu lassen," um „fesch" zu sein. Dieses „fesch" der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/331>, abgerufen am 04.07.2024.