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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Burgtheater.

sein, nach denen sich Dawison bildete. Aber auch in Deutschland war seit
Jffland und Ludwig Devrient der Realismus von der Bühne nicht verschwunden.
Von Seydclmann, dessen Grundsatz war, "jede Rolle zur denkbar größten
Wirkung auszuarbeiten," mochte Dawison gleichfalls so manches gelernt haben.
Genug, indem er alle die aufgenommenen Bildungselemente seiner eigenen Natur
gemäß verarbeitete, schuf er neue Typen. Am Burgtheater bedeutet aber
Dawison nur eine Episode -- er verließ es bereits am 28. Dezember 1853
nach etwa vierjähriger Thätigkeit. Nun überwog wieder die alte Richtung
durchaus. In ihr wuchsen die neuen Ankömmlinge, die Wolter, Sonnenthal,
Lewinsky, die beiden Gcibillvn auf, der Glanz dieser Talente brachte diese Richtung
zu einer späten Nachblüte. Unter der Leitung Dingclstedts machte sich dann ein
gewisser Eklekticismus breit: nur das szenische Bild mußte harmonisch angeordnet
sein, der persönlichen Eigenart war freiere Bewegung gestattet als je zuvor.
Mit der Schulung und Fortbildung der Schauspieler beschäftigte sich der neue
Direktor -- ganz im Gegensatz zu Laube -- sehr wenig, er sah ihnen zu, er
ließ sie "sich entwickeln." Auch hatte er kein Vorurteil gegen irgend eine
Manier, ihm schien das Theater überhaupt nicht ein gar so wichtiges Ding,
und nicht ganz mit Unrecht warfen ihm die Schauspieler vor, er nehme die Sache zu
wenig ernst. Unter Dingelstedt kam mit Friedrich Mitterwurzer ein ganz entschieden
realistisches Element ins Burgtheater, oder eigentlich es entwickelte sich während
seiner Direktion aus dem Boden des Burgtheaters selbst, denn Mitterwnrzcr war
1871, da er denselben zum erstenmal betrat, noch sehr jung, und die großen Cha¬
rakterrollen zu spielen blieb ihm mehrere Jahre hindurch verwehrt. Unter welchen
Einflüssen und nach welchen Mustern sich dieser Schauspielerin seiner ersten Periode
bildete, wüßten wir nicht zu sagen, am Leipziger Stadttheater hatte er unter
Laube bereits Helden- und Charakterrollen gespielt, und Laube sagt in seiner "Ge¬
schichte des Stadttheaters", er habe ihn da kennen und schätzen gelernt. In Wien,
wo er sich von allem Anfang als ein geistreicher und vielverwendbarer Episoden-
spicler zeigte, trat seine große Begabung für das Charaktcrfach erst 1873 hervor,
als er in dem von Dingelstedt neu inszenirten Heinrich VI. den Kardinal Winchester
spielte. Daß aber mit ihm eine den Überlieferungen des Hauses im Grunde
fremde, ja feindliche Persönlichkeit in dasselbe eingedrungen war, bewiesen erst
die Rollen, die er während seines zweiten Engagements (1875--1883) spielen
durfte: vor allem Shylock, dann Marinelli, Jago, Narciß, Wurm, Caliban,
Macbeth und Richard III. Wir müssen es uns hier versagen, auf die Art,
wie Mitterwurzer diese Gestalten auffaßte und verkörperte, einzugehen, nur seine
sprech- und Spielweise sei in Kürze angedeutet. Hier schien sein erster Grund¬
satz: Laß jeden Satz den Ausdruck eines innerlichen Prozesses sein! Er kümmerte
sich gar nicht um den rhetorischen Zusammenhang der Rede, es kam ihm nur immer
auf den seelischen Vorgang an, und um den zu verdeutlichen, überlud er in der
Regel die Rede mit allerhand Einzelheiten. Essen, Trinken, Schreiben führte


Das neue Burgtheater.

sein, nach denen sich Dawison bildete. Aber auch in Deutschland war seit
Jffland und Ludwig Devrient der Realismus von der Bühne nicht verschwunden.
Von Seydclmann, dessen Grundsatz war, „jede Rolle zur denkbar größten
Wirkung auszuarbeiten," mochte Dawison gleichfalls so manches gelernt haben.
Genug, indem er alle die aufgenommenen Bildungselemente seiner eigenen Natur
gemäß verarbeitete, schuf er neue Typen. Am Burgtheater bedeutet aber
Dawison nur eine Episode — er verließ es bereits am 28. Dezember 1853
nach etwa vierjähriger Thätigkeit. Nun überwog wieder die alte Richtung
durchaus. In ihr wuchsen die neuen Ankömmlinge, die Wolter, Sonnenthal,
Lewinsky, die beiden Gcibillvn auf, der Glanz dieser Talente brachte diese Richtung
zu einer späten Nachblüte. Unter der Leitung Dingclstedts machte sich dann ein
gewisser Eklekticismus breit: nur das szenische Bild mußte harmonisch angeordnet
sein, der persönlichen Eigenart war freiere Bewegung gestattet als je zuvor.
Mit der Schulung und Fortbildung der Schauspieler beschäftigte sich der neue
Direktor — ganz im Gegensatz zu Laube — sehr wenig, er sah ihnen zu, er
ließ sie „sich entwickeln." Auch hatte er kein Vorurteil gegen irgend eine
Manier, ihm schien das Theater überhaupt nicht ein gar so wichtiges Ding,
und nicht ganz mit Unrecht warfen ihm die Schauspieler vor, er nehme die Sache zu
wenig ernst. Unter Dingelstedt kam mit Friedrich Mitterwurzer ein ganz entschieden
realistisches Element ins Burgtheater, oder eigentlich es entwickelte sich während
seiner Direktion aus dem Boden des Burgtheaters selbst, denn Mitterwnrzcr war
1871, da er denselben zum erstenmal betrat, noch sehr jung, und die großen Cha¬
rakterrollen zu spielen blieb ihm mehrere Jahre hindurch verwehrt. Unter welchen
Einflüssen und nach welchen Mustern sich dieser Schauspielerin seiner ersten Periode
bildete, wüßten wir nicht zu sagen, am Leipziger Stadttheater hatte er unter
Laube bereits Helden- und Charakterrollen gespielt, und Laube sagt in seiner „Ge¬
schichte des Stadttheaters", er habe ihn da kennen und schätzen gelernt. In Wien,
wo er sich von allem Anfang als ein geistreicher und vielverwendbarer Episoden-
spicler zeigte, trat seine große Begabung für das Charaktcrfach erst 1873 hervor,
als er in dem von Dingelstedt neu inszenirten Heinrich VI. den Kardinal Winchester
spielte. Daß aber mit ihm eine den Überlieferungen des Hauses im Grunde
fremde, ja feindliche Persönlichkeit in dasselbe eingedrungen war, bewiesen erst
die Rollen, die er während seines zweiten Engagements (1875—1883) spielen
durfte: vor allem Shylock, dann Marinelli, Jago, Narciß, Wurm, Caliban,
Macbeth und Richard III. Wir müssen es uns hier versagen, auf die Art,
wie Mitterwurzer diese Gestalten auffaßte und verkörperte, einzugehen, nur seine
sprech- und Spielweise sei in Kürze angedeutet. Hier schien sein erster Grund¬
satz: Laß jeden Satz den Ausdruck eines innerlichen Prozesses sein! Er kümmerte
sich gar nicht um den rhetorischen Zusammenhang der Rede, es kam ihm nur immer
auf den seelischen Vorgang an, und um den zu verdeutlichen, überlud er in der
Regel die Rede mit allerhand Einzelheiten. Essen, Trinken, Schreiben führte


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[0330] Das neue Burgtheater. sein, nach denen sich Dawison bildete. Aber auch in Deutschland war seit Jffland und Ludwig Devrient der Realismus von der Bühne nicht verschwunden. Von Seydclmann, dessen Grundsatz war, „jede Rolle zur denkbar größten Wirkung auszuarbeiten," mochte Dawison gleichfalls so manches gelernt haben. Genug, indem er alle die aufgenommenen Bildungselemente seiner eigenen Natur gemäß verarbeitete, schuf er neue Typen. Am Burgtheater bedeutet aber Dawison nur eine Episode — er verließ es bereits am 28. Dezember 1853 nach etwa vierjähriger Thätigkeit. Nun überwog wieder die alte Richtung durchaus. In ihr wuchsen die neuen Ankömmlinge, die Wolter, Sonnenthal, Lewinsky, die beiden Gcibillvn auf, der Glanz dieser Talente brachte diese Richtung zu einer späten Nachblüte. Unter der Leitung Dingclstedts machte sich dann ein gewisser Eklekticismus breit: nur das szenische Bild mußte harmonisch angeordnet sein, der persönlichen Eigenart war freiere Bewegung gestattet als je zuvor. Mit der Schulung und Fortbildung der Schauspieler beschäftigte sich der neue Direktor — ganz im Gegensatz zu Laube — sehr wenig, er sah ihnen zu, er ließ sie „sich entwickeln." Auch hatte er kein Vorurteil gegen irgend eine Manier, ihm schien das Theater überhaupt nicht ein gar so wichtiges Ding, und nicht ganz mit Unrecht warfen ihm die Schauspieler vor, er nehme die Sache zu wenig ernst. Unter Dingelstedt kam mit Friedrich Mitterwurzer ein ganz entschieden realistisches Element ins Burgtheater, oder eigentlich es entwickelte sich während seiner Direktion aus dem Boden des Burgtheaters selbst, denn Mitterwnrzcr war 1871, da er denselben zum erstenmal betrat, noch sehr jung, und die großen Cha¬ rakterrollen zu spielen blieb ihm mehrere Jahre hindurch verwehrt. Unter welchen Einflüssen und nach welchen Mustern sich dieser Schauspielerin seiner ersten Periode bildete, wüßten wir nicht zu sagen, am Leipziger Stadttheater hatte er unter Laube bereits Helden- und Charakterrollen gespielt, und Laube sagt in seiner „Ge¬ schichte des Stadttheaters", er habe ihn da kennen und schätzen gelernt. In Wien, wo er sich von allem Anfang als ein geistreicher und vielverwendbarer Episoden- spicler zeigte, trat seine große Begabung für das Charaktcrfach erst 1873 hervor, als er in dem von Dingelstedt neu inszenirten Heinrich VI. den Kardinal Winchester spielte. Daß aber mit ihm eine den Überlieferungen des Hauses im Grunde fremde, ja feindliche Persönlichkeit in dasselbe eingedrungen war, bewiesen erst die Rollen, die er während seines zweiten Engagements (1875—1883) spielen durfte: vor allem Shylock, dann Marinelli, Jago, Narciß, Wurm, Caliban, Macbeth und Richard III. Wir müssen es uns hier versagen, auf die Art, wie Mitterwurzer diese Gestalten auffaßte und verkörperte, einzugehen, nur seine sprech- und Spielweise sei in Kürze angedeutet. Hier schien sein erster Grund¬ satz: Laß jeden Satz den Ausdruck eines innerlichen Prozesses sein! Er kümmerte sich gar nicht um den rhetorischen Zusammenhang der Rede, es kam ihm nur immer auf den seelischen Vorgang an, und um den zu verdeutlichen, überlud er in der Regel die Rede mit allerhand Einzelheiten. Essen, Trinken, Schreiben führte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/330>, abgerufen am 04.07.2024.