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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Burgtheater.

Wiener hat ebenso wie sein "Gemütlich" schon viel Unheil gestiftet. Ins¬
besondere sind die jüngern dieser Versuchung ausgesetzt.

Mustern wir die Truppe, die soeben den Thespiskarren hinaus in das neue
glänzende Heim geführt hat. Wolter, Sonnenthal, Leivinsky, Baumeister, die beiden
Gabillon, die beiden Hartmann, Krastel -- man sollte denken, es sei ganz müßig,
über diese noch ein Wort zu verlieren; jeder, der sich in Deutschland für Theater
interessirt, kennt sie und hat wenigsteus eine ungefähre Vorstellung von ihnen.
Aber sie alle haben sich doch im Laufe der letzten Jahre mehr oder weniger
verändert, sind fast alle alt geworden, haben neue Rollen geschaffen, sind in
andre Fächer übergetreten. Charlotte Wvlter hat mit der Fürstin in der "Braut
von Messina" schon vor fünf oder sechs Jahren den Schritt ins ältere Fach
gethan, aber sie ist doch auch noch im Besitz ihrer großen Glanzrollen von
ehedem geblieben, nicht nur weil niemand da ist, der sie übernehmen könnte,
sondern weil sie immer noch so viel Leidenschaft und künstlerische Plastik be¬
sitzt, daß mau darüber ihre Jahre vergißt. Und so erntet sie als Phädm und
Iphigenia, als Maria Stuart und Adelheid, als Messalina und Feodora noch
immer wohlverdienten Beifall; nur in Rollen, die geradezu frische Jugendlich¬
keit erfordern, wie als Kriemhild im ersten Teile von Hebbels "Nibelungen,"
vermag sie nicht mehr zu wirken. Aber Lady Macbeth, die rächende Kriemhild,
Königin Margarethe in "Richard III.", die Mutter der Makkabäer bezeichnen --
neben der Jsabella -- das Gebiet, auf dem sie heute unter den deutschen
Schauspielerinnen als unerreichte Meisterin dasteht. Nur in den Bewegungen,
die bei ihr immer voll edler Grazie sind, hat sie die Traditionen der Weimarer
Schule bewahrt, im Vortrag gar nicht, da kann sie nicht als die Nachfolgerin
der Sophie Schröder und Julie Rettich angesehen werden. Nur wo die dä¬
monische Energie ihres Wesens hervortreten kann, wirkt sie hinreißend, dialek¬
tisch auseinanderzusetzen vermag sie so wenig, wie in ruhiger Betrachtung oder
Erinnerung sich zu ergehen. In leidenschaftslosen Augenblicken schwach, farblos
und unklar, erlangt sie erst "im Sturm, im Wirbelwind der Leidenschaft"
jene höchste künstlerische Besonnenheit, die Hamlet von seinen Schauspielern
fordert.

Sonnenthal hat einen Teil seiner Rollen an den jüngeren Hartmann ab¬
gegeben, dafür Wallenstein, Macbeth und König Lear übernommen; kein Zweifel,
daß er auch hier sehr Bedeutendes leistet. Wenn man ihm in früheren Zeiten
allzu große Weichheit in Charakterrollen vorwarf -- es gab Leute die den
frommen, immer duldenden Heinrich VI. seine beste Leistung auf diesem Gebiete
nannten --, so hat er schon vor zehn Jahren durch seinen Rister bewiesen, daß
ihm auch schwere, energische Töne zu Gebote stehen. Von einer Abnahme
seines schauspielerischen Könnens ist noch keine Rede, im Gegenteil: mit dem
zunehmenden Alter treten aus der Tiefe seines Wesens neue elementare Kräfte
hervor. Daß er den Einflüssen des modernen Realismus nicht unzugänglich


Das neue Burgtheater.

Wiener hat ebenso wie sein „Gemütlich" schon viel Unheil gestiftet. Ins¬
besondere sind die jüngern dieser Versuchung ausgesetzt.

Mustern wir die Truppe, die soeben den Thespiskarren hinaus in das neue
glänzende Heim geführt hat. Wolter, Sonnenthal, Leivinsky, Baumeister, die beiden
Gabillon, die beiden Hartmann, Krastel — man sollte denken, es sei ganz müßig,
über diese noch ein Wort zu verlieren; jeder, der sich in Deutschland für Theater
interessirt, kennt sie und hat wenigsteus eine ungefähre Vorstellung von ihnen.
Aber sie alle haben sich doch im Laufe der letzten Jahre mehr oder weniger
verändert, sind fast alle alt geworden, haben neue Rollen geschaffen, sind in
andre Fächer übergetreten. Charlotte Wvlter hat mit der Fürstin in der „Braut
von Messina" schon vor fünf oder sechs Jahren den Schritt ins ältere Fach
gethan, aber sie ist doch auch noch im Besitz ihrer großen Glanzrollen von
ehedem geblieben, nicht nur weil niemand da ist, der sie übernehmen könnte,
sondern weil sie immer noch so viel Leidenschaft und künstlerische Plastik be¬
sitzt, daß mau darüber ihre Jahre vergißt. Und so erntet sie als Phädm und
Iphigenia, als Maria Stuart und Adelheid, als Messalina und Feodora noch
immer wohlverdienten Beifall; nur in Rollen, die geradezu frische Jugendlich¬
keit erfordern, wie als Kriemhild im ersten Teile von Hebbels „Nibelungen,"
vermag sie nicht mehr zu wirken. Aber Lady Macbeth, die rächende Kriemhild,
Königin Margarethe in „Richard III.", die Mutter der Makkabäer bezeichnen —
neben der Jsabella — das Gebiet, auf dem sie heute unter den deutschen
Schauspielerinnen als unerreichte Meisterin dasteht. Nur in den Bewegungen,
die bei ihr immer voll edler Grazie sind, hat sie die Traditionen der Weimarer
Schule bewahrt, im Vortrag gar nicht, da kann sie nicht als die Nachfolgerin
der Sophie Schröder und Julie Rettich angesehen werden. Nur wo die dä¬
monische Energie ihres Wesens hervortreten kann, wirkt sie hinreißend, dialek¬
tisch auseinanderzusetzen vermag sie so wenig, wie in ruhiger Betrachtung oder
Erinnerung sich zu ergehen. In leidenschaftslosen Augenblicken schwach, farblos
und unklar, erlangt sie erst „im Sturm, im Wirbelwind der Leidenschaft"
jene höchste künstlerische Besonnenheit, die Hamlet von seinen Schauspielern
fordert.

Sonnenthal hat einen Teil seiner Rollen an den jüngeren Hartmann ab¬
gegeben, dafür Wallenstein, Macbeth und König Lear übernommen; kein Zweifel,
daß er auch hier sehr Bedeutendes leistet. Wenn man ihm in früheren Zeiten
allzu große Weichheit in Charakterrollen vorwarf — es gab Leute die den
frommen, immer duldenden Heinrich VI. seine beste Leistung auf diesem Gebiete
nannten —, so hat er schon vor zehn Jahren durch seinen Rister bewiesen, daß
ihm auch schwere, energische Töne zu Gebote stehen. Von einer Abnahme
seines schauspielerischen Könnens ist noch keine Rede, im Gegenteil: mit dem
zunehmenden Alter treten aus der Tiefe seines Wesens neue elementare Kräfte
hervor. Daß er den Einflüssen des modernen Realismus nicht unzugänglich


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[0332] Das neue Burgtheater. Wiener hat ebenso wie sein „Gemütlich" schon viel Unheil gestiftet. Ins¬ besondere sind die jüngern dieser Versuchung ausgesetzt. Mustern wir die Truppe, die soeben den Thespiskarren hinaus in das neue glänzende Heim geführt hat. Wolter, Sonnenthal, Leivinsky, Baumeister, die beiden Gabillon, die beiden Hartmann, Krastel — man sollte denken, es sei ganz müßig, über diese noch ein Wort zu verlieren; jeder, der sich in Deutschland für Theater interessirt, kennt sie und hat wenigsteus eine ungefähre Vorstellung von ihnen. Aber sie alle haben sich doch im Laufe der letzten Jahre mehr oder weniger verändert, sind fast alle alt geworden, haben neue Rollen geschaffen, sind in andre Fächer übergetreten. Charlotte Wvlter hat mit der Fürstin in der „Braut von Messina" schon vor fünf oder sechs Jahren den Schritt ins ältere Fach gethan, aber sie ist doch auch noch im Besitz ihrer großen Glanzrollen von ehedem geblieben, nicht nur weil niemand da ist, der sie übernehmen könnte, sondern weil sie immer noch so viel Leidenschaft und künstlerische Plastik be¬ sitzt, daß mau darüber ihre Jahre vergißt. Und so erntet sie als Phädm und Iphigenia, als Maria Stuart und Adelheid, als Messalina und Feodora noch immer wohlverdienten Beifall; nur in Rollen, die geradezu frische Jugendlich¬ keit erfordern, wie als Kriemhild im ersten Teile von Hebbels „Nibelungen," vermag sie nicht mehr zu wirken. Aber Lady Macbeth, die rächende Kriemhild, Königin Margarethe in „Richard III.", die Mutter der Makkabäer bezeichnen — neben der Jsabella — das Gebiet, auf dem sie heute unter den deutschen Schauspielerinnen als unerreichte Meisterin dasteht. Nur in den Bewegungen, die bei ihr immer voll edler Grazie sind, hat sie die Traditionen der Weimarer Schule bewahrt, im Vortrag gar nicht, da kann sie nicht als die Nachfolgerin der Sophie Schröder und Julie Rettich angesehen werden. Nur wo die dä¬ monische Energie ihres Wesens hervortreten kann, wirkt sie hinreißend, dialek¬ tisch auseinanderzusetzen vermag sie so wenig, wie in ruhiger Betrachtung oder Erinnerung sich zu ergehen. In leidenschaftslosen Augenblicken schwach, farblos und unklar, erlangt sie erst „im Sturm, im Wirbelwind der Leidenschaft" jene höchste künstlerische Besonnenheit, die Hamlet von seinen Schauspielern fordert. Sonnenthal hat einen Teil seiner Rollen an den jüngeren Hartmann ab¬ gegeben, dafür Wallenstein, Macbeth und König Lear übernommen; kein Zweifel, daß er auch hier sehr Bedeutendes leistet. Wenn man ihm in früheren Zeiten allzu große Weichheit in Charakterrollen vorwarf — es gab Leute die den frommen, immer duldenden Heinrich VI. seine beste Leistung auf diesem Gebiete nannten —, so hat er schon vor zehn Jahren durch seinen Rister bewiesen, daß ihm auch schwere, energische Töne zu Gebote stehen. Von einer Abnahme seines schauspielerischen Könnens ist noch keine Rede, im Gegenteil: mit dem zunehmenden Alter treten aus der Tiefe seines Wesens neue elementare Kräfte hervor. Daß er den Einflüssen des modernen Realismus nicht unzugänglich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/332>, abgerufen am 04.07.2024.