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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Burgtheater.

geben kann, und die Welt der Gelehrten steht kalt abweisend davor, weil sie
es nicht erfassen können oder wollen.

Trotzdem steht unsre Überzeugung fest, daß ohne die Wiederbelebung von
Kants echter Erkenntnistheorie, ohne eine neue Befruchtung aller Wissenschaften
durch die Kritik auf dem Grunde Kants wir niemals eine stabile allgemein
giltige Philosophie haben werden, keine Sicherheit in der Theorie der Empfin¬
dung und Wahrnehmung, keine Methaphysik, keine Beantwortung der letzten
Fragen und folglich keinen Frieden in der Theologie, der Jurisprudenz, im
Staatsrecht und den verschiednen Rechtsanschauungen, keine einheitliche Schule
und keinen regelmäßigen Fortschritt in der Medizin, in der Geschichte, in der
Kunst, in der Sprachwissenschaft, ja selbst nicht in den höchsten Fragen der
Mathematik, vor allen Dingen keine Aussöhnung der Naturwisscnschcift mit den
höchsten Interessen des menschlichen Geistes. Kant hat das große Werk dieser
Versöhnung begonnen, er hat den Weg weit voraus beleuchtet, auf dem wir
weiter schreiten sollen. Aber es bedarf dazu einer ganz andern und kräftigeren
Unterstützung, als diesen Bestrebungen und Studien bisher zu teil geworden ist.
Kant gehört zu^ denjenigen, von denen Faust sagt:


Hinaufgeschaut! -- der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde:
Sie dürfen früh des ewgen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.



Das neue Burgtheater.

!
!
ü in 12. Oktober haben sich die Pforten des berühmten alten
Hauses am Michaelerplatz dem Publikum für immer geschloffen,
am 14. Oktober fand die Eröffnung des neuen Burgtheaters
statt. "Ob dieser 14. Oktober, fragt ein Wiener Kritiker, bei
ber Künstlern und bei dem denkenden Publikum auch jene
erhebenden Empfindungen wachrufen wird, wie bei den Nationen die Erinnerung
an einen großen Sieg? Ob er die schmerzlichen Gefühle, welche von der Er¬
innerung eines in seinen Folgen unglücklichen Schlachtentages untrennbar wird,
einst hervorrufen wird?" Auch an den Umzug des Hamburger Stadttheaters
von 1827 hat man erinnert: damals gingen die Traditionen der Schröderschen
Schule in dem neuen Hause schnell verloren, die Größe derselben verleitete
zu immer stärkeren Übertreibungen in Ton, Geberden und Mienen, und das


Das neue Burgtheater.

geben kann, und die Welt der Gelehrten steht kalt abweisend davor, weil sie
es nicht erfassen können oder wollen.

Trotzdem steht unsre Überzeugung fest, daß ohne die Wiederbelebung von
Kants echter Erkenntnistheorie, ohne eine neue Befruchtung aller Wissenschaften
durch die Kritik auf dem Grunde Kants wir niemals eine stabile allgemein
giltige Philosophie haben werden, keine Sicherheit in der Theorie der Empfin¬
dung und Wahrnehmung, keine Methaphysik, keine Beantwortung der letzten
Fragen und folglich keinen Frieden in der Theologie, der Jurisprudenz, im
Staatsrecht und den verschiednen Rechtsanschauungen, keine einheitliche Schule
und keinen regelmäßigen Fortschritt in der Medizin, in der Geschichte, in der
Kunst, in der Sprachwissenschaft, ja selbst nicht in den höchsten Fragen der
Mathematik, vor allen Dingen keine Aussöhnung der Naturwisscnschcift mit den
höchsten Interessen des menschlichen Geistes. Kant hat das große Werk dieser
Versöhnung begonnen, er hat den Weg weit voraus beleuchtet, auf dem wir
weiter schreiten sollen. Aber es bedarf dazu einer ganz andern und kräftigeren
Unterstützung, als diesen Bestrebungen und Studien bisher zu teil geworden ist.
Kant gehört zu^ denjenigen, von denen Faust sagt:


Hinaufgeschaut! — der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde:
Sie dürfen früh des ewgen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.



Das neue Burgtheater.

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ü in 12. Oktober haben sich die Pforten des berühmten alten
Hauses am Michaelerplatz dem Publikum für immer geschloffen,
am 14. Oktober fand die Eröffnung des neuen Burgtheaters
statt. „Ob dieser 14. Oktober, fragt ein Wiener Kritiker, bei
ber Künstlern und bei dem denkenden Publikum auch jene
erhebenden Empfindungen wachrufen wird, wie bei den Nationen die Erinnerung
an einen großen Sieg? Ob er die schmerzlichen Gefühle, welche von der Er¬
innerung eines in seinen Folgen unglücklichen Schlachtentages untrennbar wird,
einst hervorrufen wird?" Auch an den Umzug des Hamburger Stadttheaters
von 1827 hat man erinnert: damals gingen die Traditionen der Schröderschen
Schule in dem neuen Hause schnell verloren, die Größe derselben verleitete
zu immer stärkeren Übertreibungen in Ton, Geberden und Mienen, und das


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[0327] Das neue Burgtheater. geben kann, und die Welt der Gelehrten steht kalt abweisend davor, weil sie es nicht erfassen können oder wollen. Trotzdem steht unsre Überzeugung fest, daß ohne die Wiederbelebung von Kants echter Erkenntnistheorie, ohne eine neue Befruchtung aller Wissenschaften durch die Kritik auf dem Grunde Kants wir niemals eine stabile allgemein giltige Philosophie haben werden, keine Sicherheit in der Theorie der Empfin¬ dung und Wahrnehmung, keine Methaphysik, keine Beantwortung der letzten Fragen und folglich keinen Frieden in der Theologie, der Jurisprudenz, im Staatsrecht und den verschiednen Rechtsanschauungen, keine einheitliche Schule und keinen regelmäßigen Fortschritt in der Medizin, in der Geschichte, in der Kunst, in der Sprachwissenschaft, ja selbst nicht in den höchsten Fragen der Mathematik, vor allen Dingen keine Aussöhnung der Naturwisscnschcift mit den höchsten Interessen des menschlichen Geistes. Kant hat das große Werk dieser Versöhnung begonnen, er hat den Weg weit voraus beleuchtet, auf dem wir weiter schreiten sollen. Aber es bedarf dazu einer ganz andern und kräftigeren Unterstützung, als diesen Bestrebungen und Studien bisher zu teil geworden ist. Kant gehört zu^ denjenigen, von denen Faust sagt: Hinaufgeschaut! — der Berge Gipfelriesen Verkünden schon die feierlichste Stunde: Sie dürfen früh des ewgen Lichts genießen, Das später sich zu uns hernieder wendet. Das neue Burgtheater. ! ! ü in 12. Oktober haben sich die Pforten des berühmten alten Hauses am Michaelerplatz dem Publikum für immer geschloffen, am 14. Oktober fand die Eröffnung des neuen Burgtheaters statt. „Ob dieser 14. Oktober, fragt ein Wiener Kritiker, bei ber Künstlern und bei dem denkenden Publikum auch jene erhebenden Empfindungen wachrufen wird, wie bei den Nationen die Erinnerung an einen großen Sieg? Ob er die schmerzlichen Gefühle, welche von der Er¬ innerung eines in seinen Folgen unglücklichen Schlachtentages untrennbar wird, einst hervorrufen wird?" Auch an den Umzug des Hamburger Stadttheaters von 1827 hat man erinnert: damals gingen die Traditionen der Schröderschen Schule in dem neuen Hause schnell verloren, die Größe derselben verleitete zu immer stärkeren Übertreibungen in Ton, Geberden und Mienen, und das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/327>, abgerufen am 26.07.2024.