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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

und den täuschenden Schein erfahren könnten, während uns der tiefere Grund
der Erscheinung eins immer verborgen bleiben müßte. Mit dem Aufgebot aller
unsrer Kräfte sind wir dafür eingetreten, daß das Ding an sich im Sinne
Kants mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt überhaupt gar nichts zu thun
habe, sondern nur ein Produkt unsrer eignen Gedanken sei; daß nur der naive
und ungeschulte Verstand nach dem Ding an sich frage, während der denkende
Forscher zu der Einsicht kommen müsse, daß alles, was überhaupt jemals
Gegenstand der Wahrnehmung und Erfahrung werden könne, sich den Formen
und Gesetzen unsers menschlichen Anschauens und Denkens unterwerfen müsse,
und daß also die Frage nach dem Ding an sich eine thörichte sei, weil eben
das, was außerhalb unsers Anschauungs- und Denkvermögens läge, nur Produkt
der Phantasie aber nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Die wirklichen
realen Gegenstände der Erfahrung aber, haben wir weiter ausgeführt, müssen
im metaphysischen Sinne Erscheinung genannt werden, weil ihre Eigenschaften
stets von den Formen unsers Anschauungs- und Denkvermögens abhängig sein
müssen. Das alles wurde möglichst mit Kants eignen Worten belegt und aus¬
einander gesetzt, aber es war vergeblich. Als Dank erhielten wir nur den
Vorwurf von den Fachphilosophen, daß wir versuchten, ein notorisch falsches
Bild von Kants Philosophie zu entwerfen, und noch kann man alle Tage in
den neuesten Büchern lesen, daß Kant uns den Weg zur Erkenntnis der Wirklich¬
keit verschlossen habe.

Selbstverständlich blieben wir auch nicht stehen bei dem bloßen Angriff
auf die überlieferten alten Anschauungen, sondern bemühten uns, zu zeigen, wie
man auf Grund der richtigen Auffassung Kants den Kategorien eine ganz
andere Bedeutung und einen andern Wert beimessen dürfe, als sonst geschehen
war, indem man sie als unabänderliche Funktionen des Verstandes betrachtet,
und wie dann aus der Anwendung dieser Funktionen auf Gegenstände der
Sinne, auf Empfindung und Wahrnehmung eine Fülle von überraschenden
neuen Einsichten in Gebiete, die bis dahin dunkel waren, sich ergeben. Aber
beinahe niemand hat es verstehen können. Jetzt aber, wo das nachgelassene letzte
Manuskript Kants ans Tageslicht gezogen und jedermann zur Prüfung zugänglich
geworden ist, und wo sich unzweifelhaft herausgestellt hat, daß Kant vollständig
in unserm Sinne über das Ding an sich gedacht, und die Kategorien ebenso
auf die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung in der Natur angewandt hat,
jetzt scheinen die Naturforscher so wenig philosophisch geschult zu sein, daß sie
das wieder nicht verstehen können, und die Philosophen von Fach bilden still¬
schweigend eine Art von Koalition, um keinen Fortschritt aufkommen zu lassen.
Eine Naturphilosophie, nach der sich von jeher die Naturwissenschaft lebhaft
gesehnt hat, deren Mangel so viele schwerwiegende Irrthümer in der Wissen¬
schaft verschuldet hat, ist aufgebaut durch Kant auf dem Grunde der Erkenntnis¬
theorie, dem einzigen Grunde, der unsrer Vernunft unzweifelhafte Gewißheit


Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

und den täuschenden Schein erfahren könnten, während uns der tiefere Grund
der Erscheinung eins immer verborgen bleiben müßte. Mit dem Aufgebot aller
unsrer Kräfte sind wir dafür eingetreten, daß das Ding an sich im Sinne
Kants mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt überhaupt gar nichts zu thun
habe, sondern nur ein Produkt unsrer eignen Gedanken sei; daß nur der naive
und ungeschulte Verstand nach dem Ding an sich frage, während der denkende
Forscher zu der Einsicht kommen müsse, daß alles, was überhaupt jemals
Gegenstand der Wahrnehmung und Erfahrung werden könne, sich den Formen
und Gesetzen unsers menschlichen Anschauens und Denkens unterwerfen müsse,
und daß also die Frage nach dem Ding an sich eine thörichte sei, weil eben
das, was außerhalb unsers Anschauungs- und Denkvermögens läge, nur Produkt
der Phantasie aber nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Die wirklichen
realen Gegenstände der Erfahrung aber, haben wir weiter ausgeführt, müssen
im metaphysischen Sinne Erscheinung genannt werden, weil ihre Eigenschaften
stets von den Formen unsers Anschauungs- und Denkvermögens abhängig sein
müssen. Das alles wurde möglichst mit Kants eignen Worten belegt und aus¬
einander gesetzt, aber es war vergeblich. Als Dank erhielten wir nur den
Vorwurf von den Fachphilosophen, daß wir versuchten, ein notorisch falsches
Bild von Kants Philosophie zu entwerfen, und noch kann man alle Tage in
den neuesten Büchern lesen, daß Kant uns den Weg zur Erkenntnis der Wirklich¬
keit verschlossen habe.

Selbstverständlich blieben wir auch nicht stehen bei dem bloßen Angriff
auf die überlieferten alten Anschauungen, sondern bemühten uns, zu zeigen, wie
man auf Grund der richtigen Auffassung Kants den Kategorien eine ganz
andere Bedeutung und einen andern Wert beimessen dürfe, als sonst geschehen
war, indem man sie als unabänderliche Funktionen des Verstandes betrachtet,
und wie dann aus der Anwendung dieser Funktionen auf Gegenstände der
Sinne, auf Empfindung und Wahrnehmung eine Fülle von überraschenden
neuen Einsichten in Gebiete, die bis dahin dunkel waren, sich ergeben. Aber
beinahe niemand hat es verstehen können. Jetzt aber, wo das nachgelassene letzte
Manuskript Kants ans Tageslicht gezogen und jedermann zur Prüfung zugänglich
geworden ist, und wo sich unzweifelhaft herausgestellt hat, daß Kant vollständig
in unserm Sinne über das Ding an sich gedacht, und die Kategorien ebenso
auf die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung in der Natur angewandt hat,
jetzt scheinen die Naturforscher so wenig philosophisch geschult zu sein, daß sie
das wieder nicht verstehen können, und die Philosophen von Fach bilden still¬
schweigend eine Art von Koalition, um keinen Fortschritt aufkommen zu lassen.
Eine Naturphilosophie, nach der sich von jeher die Naturwissenschaft lebhaft
gesehnt hat, deren Mangel so viele schwerwiegende Irrthümer in der Wissen¬
schaft verschuldet hat, ist aufgebaut durch Kant auf dem Grunde der Erkenntnis¬
theorie, dem einzigen Grunde, der unsrer Vernunft unzweifelhafte Gewißheit


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[0326] Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben. und den täuschenden Schein erfahren könnten, während uns der tiefere Grund der Erscheinung eins immer verborgen bleiben müßte. Mit dem Aufgebot aller unsrer Kräfte sind wir dafür eingetreten, daß das Ding an sich im Sinne Kants mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt überhaupt gar nichts zu thun habe, sondern nur ein Produkt unsrer eignen Gedanken sei; daß nur der naive und ungeschulte Verstand nach dem Ding an sich frage, während der denkende Forscher zu der Einsicht kommen müsse, daß alles, was überhaupt jemals Gegenstand der Wahrnehmung und Erfahrung werden könne, sich den Formen und Gesetzen unsers menschlichen Anschauens und Denkens unterwerfen müsse, und daß also die Frage nach dem Ding an sich eine thörichte sei, weil eben das, was außerhalb unsers Anschauungs- und Denkvermögens läge, nur Produkt der Phantasie aber nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Die wirklichen realen Gegenstände der Erfahrung aber, haben wir weiter ausgeführt, müssen im metaphysischen Sinne Erscheinung genannt werden, weil ihre Eigenschaften stets von den Formen unsers Anschauungs- und Denkvermögens abhängig sein müssen. Das alles wurde möglichst mit Kants eignen Worten belegt und aus¬ einander gesetzt, aber es war vergeblich. Als Dank erhielten wir nur den Vorwurf von den Fachphilosophen, daß wir versuchten, ein notorisch falsches Bild von Kants Philosophie zu entwerfen, und noch kann man alle Tage in den neuesten Büchern lesen, daß Kant uns den Weg zur Erkenntnis der Wirklich¬ keit verschlossen habe. Selbstverständlich blieben wir auch nicht stehen bei dem bloßen Angriff auf die überlieferten alten Anschauungen, sondern bemühten uns, zu zeigen, wie man auf Grund der richtigen Auffassung Kants den Kategorien eine ganz andere Bedeutung und einen andern Wert beimessen dürfe, als sonst geschehen war, indem man sie als unabänderliche Funktionen des Verstandes betrachtet, und wie dann aus der Anwendung dieser Funktionen auf Gegenstände der Sinne, auf Empfindung und Wahrnehmung eine Fülle von überraschenden neuen Einsichten in Gebiete, die bis dahin dunkel waren, sich ergeben. Aber beinahe niemand hat es verstehen können. Jetzt aber, wo das nachgelassene letzte Manuskript Kants ans Tageslicht gezogen und jedermann zur Prüfung zugänglich geworden ist, und wo sich unzweifelhaft herausgestellt hat, daß Kant vollständig in unserm Sinne über das Ding an sich gedacht, und die Kategorien ebenso auf die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung in der Natur angewandt hat, jetzt scheinen die Naturforscher so wenig philosophisch geschult zu sein, daß sie das wieder nicht verstehen können, und die Philosophen von Fach bilden still¬ schweigend eine Art von Koalition, um keinen Fortschritt aufkommen zu lassen. Eine Naturphilosophie, nach der sich von jeher die Naturwissenschaft lebhaft gesehnt hat, deren Mangel so viele schwerwiegende Irrthümer in der Wissen¬ schaft verschuldet hat, ist aufgebaut durch Kant auf dem Grunde der Erkenntnis¬ theorie, dem einzigen Grunde, der unsrer Vernunft unzweifelhafte Gewißheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/326>, abgerufen am 05.02.2025.