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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

gewissenhaft Rechenschaft abzulegen. Sie allein vermag daher infolge ihres
kritischen Verfahrens in schwierigen Fragen volle Sicherheit zu geben.

Aber wie traurig es im allgemeinen um die Pflege der Kantischen Philo¬
sophie bestellt ist, seyen wir, wenn wir noch einen Blick auf die Naturwissen¬
schaften werfen. Diese wissen längst, daß es eine Menge Fragen für sie giebt,
die sie nicht aus der Erfahrung und Wahrnehmung allein beantworten können,
sondern die durchaus eine spekulative Betrachtung erfordern. Auf sinnlicher
Wahrnehmung beruht alle Erfahrung, aber es giebt eine Menge von Begriffen,
die nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung entspringen können und doch zur
Vervollständigung der Erfahrung hinzugedacht werden müssen. So verhält es
sich z. B. mit dem Begriff von Atomen, von leeren Räumen, von unwägbaren
Flüssigkeiten, von einer allgemeinen Weltmaterie, die allen Stoffen zu Grunde
liegen soll, mit dem Begriff der Kraft, die Bewegung hervorbringt, aber doch
nicht gesehen werden kann. Am meisten drängte noch die physiologische Wissen¬
schaft zur Heranziehung der Spekulation, wenn sie das Gebiet der Sinneswahr¬
nehmung mit naturwissenschaftlichen Mitteln ausheilen wollte. Aber nun hatten
die Naturwissenschaften, wenigstens in Deutschland, das Unglück von verschiede¬
nen dogmatisch philosophischen Systemen so in Anspruch genommen zu werden,
daß sie geradezu hinter den auf Erfahrung begründeten Riesenfortschritten
andrer Länder, namentlich der Engländer und Franzosen, zurückblieben. Und
sobald sich die Deutschen dessen bewußt wurden, thaten sie alle und jede meta¬
physische Spekulation in Acht und Bann und glaubten nun auf eigne Faust
mit ihren eignen Mitteln spekuliren zu können. Das prinzipienlose Banen von
Hypothesen und Dogmen ohne alle philosophische Schulung, zu dem jeder als
Naturforscher ohne weiteres ein Recht zu haben glaubte, wurde die eigentliche
Signatur der Zeit, bei der die tollsten Ausschreitungen nur durch den prak¬
tischen Erfolg neuer Entdeckungen einigermaßen gezügelt wurden. Die einzige
Philosophie, die ihnen wahrhaft hätte nützen können, schwierige Fragen in ächt
wissenschaftlichem Sinne zu lösen, die kritische, wurde ihnen durch die Fach-
philosopheu selber unzugänglich gemacht. Diese behaupteten nämlich mit seltener
Einstimmigkeit, daß die Quintessenz dessen, was Kant gelehrt habe, die Einsicht
sei: daß wir "nichts wissen können." Um sich daher nicht "schier das Herz zu
verbrennen," haben in unserm Jahrhundert die Naturforscher fast alle auf
ein eingehendes Kantstudium verzichtet.

Diese verhängnisvolle Auffassung der Metaphysik Kants beruhte auf seinem
Ausspruch, das wir das Ding an sich nicht erkennen könnten, und nur Er¬
scheinungen unserm Verstände zugänglich seien. Nun haben wir freilich schon
seit länger als zehn Jahren in verschiedenen Schriften und auch in diesen
Blättern gegen die allgemeine Meinung Sturm gelaufen, als wenn Kant das
Ding an sich für das einzig Wirkliche und den realen Grund aller Dinge
erklärt hätte, und als wenn wir in der Natur nur die Oberfläche der Dinge


Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

gewissenhaft Rechenschaft abzulegen. Sie allein vermag daher infolge ihres
kritischen Verfahrens in schwierigen Fragen volle Sicherheit zu geben.

Aber wie traurig es im allgemeinen um die Pflege der Kantischen Philo¬
sophie bestellt ist, seyen wir, wenn wir noch einen Blick auf die Naturwissen¬
schaften werfen. Diese wissen längst, daß es eine Menge Fragen für sie giebt,
die sie nicht aus der Erfahrung und Wahrnehmung allein beantworten können,
sondern die durchaus eine spekulative Betrachtung erfordern. Auf sinnlicher
Wahrnehmung beruht alle Erfahrung, aber es giebt eine Menge von Begriffen,
die nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung entspringen können und doch zur
Vervollständigung der Erfahrung hinzugedacht werden müssen. So verhält es
sich z. B. mit dem Begriff von Atomen, von leeren Räumen, von unwägbaren
Flüssigkeiten, von einer allgemeinen Weltmaterie, die allen Stoffen zu Grunde
liegen soll, mit dem Begriff der Kraft, die Bewegung hervorbringt, aber doch
nicht gesehen werden kann. Am meisten drängte noch die physiologische Wissen¬
schaft zur Heranziehung der Spekulation, wenn sie das Gebiet der Sinneswahr¬
nehmung mit naturwissenschaftlichen Mitteln ausheilen wollte. Aber nun hatten
die Naturwissenschaften, wenigstens in Deutschland, das Unglück von verschiede¬
nen dogmatisch philosophischen Systemen so in Anspruch genommen zu werden,
daß sie geradezu hinter den auf Erfahrung begründeten Riesenfortschritten
andrer Länder, namentlich der Engländer und Franzosen, zurückblieben. Und
sobald sich die Deutschen dessen bewußt wurden, thaten sie alle und jede meta¬
physische Spekulation in Acht und Bann und glaubten nun auf eigne Faust
mit ihren eignen Mitteln spekuliren zu können. Das prinzipienlose Banen von
Hypothesen und Dogmen ohne alle philosophische Schulung, zu dem jeder als
Naturforscher ohne weiteres ein Recht zu haben glaubte, wurde die eigentliche
Signatur der Zeit, bei der die tollsten Ausschreitungen nur durch den prak¬
tischen Erfolg neuer Entdeckungen einigermaßen gezügelt wurden. Die einzige
Philosophie, die ihnen wahrhaft hätte nützen können, schwierige Fragen in ächt
wissenschaftlichem Sinne zu lösen, die kritische, wurde ihnen durch die Fach-
philosopheu selber unzugänglich gemacht. Diese behaupteten nämlich mit seltener
Einstimmigkeit, daß die Quintessenz dessen, was Kant gelehrt habe, die Einsicht
sei: daß wir „nichts wissen können." Um sich daher nicht „schier das Herz zu
verbrennen," haben in unserm Jahrhundert die Naturforscher fast alle auf
ein eingehendes Kantstudium verzichtet.

Diese verhängnisvolle Auffassung der Metaphysik Kants beruhte auf seinem
Ausspruch, das wir das Ding an sich nicht erkennen könnten, und nur Er¬
scheinungen unserm Verstände zugänglich seien. Nun haben wir freilich schon
seit länger als zehn Jahren in verschiedenen Schriften und auch in diesen
Blättern gegen die allgemeine Meinung Sturm gelaufen, als wenn Kant das
Ding an sich für das einzig Wirkliche und den realen Grund aller Dinge
erklärt hätte, und als wenn wir in der Natur nur die Oberfläche der Dinge


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[0325] Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben. gewissenhaft Rechenschaft abzulegen. Sie allein vermag daher infolge ihres kritischen Verfahrens in schwierigen Fragen volle Sicherheit zu geben. Aber wie traurig es im allgemeinen um die Pflege der Kantischen Philo¬ sophie bestellt ist, seyen wir, wenn wir noch einen Blick auf die Naturwissen¬ schaften werfen. Diese wissen längst, daß es eine Menge Fragen für sie giebt, die sie nicht aus der Erfahrung und Wahrnehmung allein beantworten können, sondern die durchaus eine spekulative Betrachtung erfordern. Auf sinnlicher Wahrnehmung beruht alle Erfahrung, aber es giebt eine Menge von Begriffen, die nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung entspringen können und doch zur Vervollständigung der Erfahrung hinzugedacht werden müssen. So verhält es sich z. B. mit dem Begriff von Atomen, von leeren Räumen, von unwägbaren Flüssigkeiten, von einer allgemeinen Weltmaterie, die allen Stoffen zu Grunde liegen soll, mit dem Begriff der Kraft, die Bewegung hervorbringt, aber doch nicht gesehen werden kann. Am meisten drängte noch die physiologische Wissen¬ schaft zur Heranziehung der Spekulation, wenn sie das Gebiet der Sinneswahr¬ nehmung mit naturwissenschaftlichen Mitteln ausheilen wollte. Aber nun hatten die Naturwissenschaften, wenigstens in Deutschland, das Unglück von verschiede¬ nen dogmatisch philosophischen Systemen so in Anspruch genommen zu werden, daß sie geradezu hinter den auf Erfahrung begründeten Riesenfortschritten andrer Länder, namentlich der Engländer und Franzosen, zurückblieben. Und sobald sich die Deutschen dessen bewußt wurden, thaten sie alle und jede meta¬ physische Spekulation in Acht und Bann und glaubten nun auf eigne Faust mit ihren eignen Mitteln spekuliren zu können. Das prinzipienlose Banen von Hypothesen und Dogmen ohne alle philosophische Schulung, zu dem jeder als Naturforscher ohne weiteres ein Recht zu haben glaubte, wurde die eigentliche Signatur der Zeit, bei der die tollsten Ausschreitungen nur durch den prak¬ tischen Erfolg neuer Entdeckungen einigermaßen gezügelt wurden. Die einzige Philosophie, die ihnen wahrhaft hätte nützen können, schwierige Fragen in ächt wissenschaftlichem Sinne zu lösen, die kritische, wurde ihnen durch die Fach- philosopheu selber unzugänglich gemacht. Diese behaupteten nämlich mit seltener Einstimmigkeit, daß die Quintessenz dessen, was Kant gelehrt habe, die Einsicht sei: daß wir „nichts wissen können." Um sich daher nicht „schier das Herz zu verbrennen," haben in unserm Jahrhundert die Naturforscher fast alle auf ein eingehendes Kantstudium verzichtet. Diese verhängnisvolle Auffassung der Metaphysik Kants beruhte auf seinem Ausspruch, das wir das Ding an sich nicht erkennen könnten, und nur Er¬ scheinungen unserm Verstände zugänglich seien. Nun haben wir freilich schon seit länger als zehn Jahren in verschiedenen Schriften und auch in diesen Blättern gegen die allgemeine Meinung Sturm gelaufen, als wenn Kant das Ding an sich für das einzig Wirkliche und den realen Grund aller Dinge erklärt hätte, und als wenn wir in der Natur nur die Oberfläche der Dinge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/325>, abgerufen am 02.10.2024.