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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Tagel'uchblättor eines Sonntagsphilosophen.

drohte, ging dem Zeitgeist das Auge auf für die Bedeutung unsrer alten Kunst
und Dichtung, für den Wert der im gemeinen Volke nachlebenden Märchen
und Sagen, für die berechtigte Eigenart und keimvolle Lebensfrische unsers
alten Lebens überhaupt, auch des Rechtslebens, Gemeindelebens, Zunftlebcns
u. s. w.; Ritter, ritterlich, Begriffe, die nie ganz hatten aussterben oder ent¬
arten können, gewannen neuen Glanz, den ja jetzt noch jeder in der Knabenzeit
mit seinem Zauber in sich erlebt. Von der blinden Übertreibung, die ja, wie
bei jeder lebhaften Geistesbewegung, nicht ausbleiben konnte, rührt vielleicht
wesentlich der Spott über die gute alte Zeit her, der mir aus vorigem Jahr¬
hundert nicht erinnerlich ist. Die Wissenschaft ist ja nun eifrig über all jenen
Lebensgebieten her, um die reine Wahrheit herauszuschälen, aber so nüchtern
kritisch sie immer verfährt, oft genug mehr als recht und nötig ist, und hier
und da schönen Schein zerstört, sie stößt doch auch überall ans hoffnungsvollste
Lebenskeime, die wert gewesen wären, sich weiter zu entwickeln, wenn nicht
hemmende Einflüsse darüber kamen.

Wie weit und tief aber die Wirkung der Bewegung auch noch auf unser
gegenwärtiges Leben geht (und damit in die Zukunft), zeigt sich leicht, wenn
man sich darin umsieht. Aus der romantischen Stimmung stammte der Gedanke
an den Ausbau des Kölner Domes, an die Wiederherstellung der Wartburg,
den Neubau des Schlosses Stolzenfels u. s. w., und wie hält dies Erneuern
dieser stolzen Zeugen einer großen Zeit nach, auch nachdem der romantische
Hauch längst verweht ist, wenn man nur z. B. an das Ulmer Münster, an die
Marienburg im Ordenslande, an die Kaiserpfalz in Goslar, die Albrechtsburg
in Meißen, die Burg Heinrichs des Löwen in Braunschweig denkt, deren Ausbau
oder Neubau wohl keiner anders als mit Genugthuung oder eigentümlich
tiefer Freude sieht, und es sind ihrer schon so viel und werden bei allen
unendlichen Schwierigkeiten der Ausführung immer mehr, daß nur der Kenner
sie noch alle wissen kann.

Wie lebhaft eine entsprechende Bewegung aus dem Gebiete der Dichtung im
Gange ist, das anzudeuten genügt die Nennung der Namen Victor Scheffel,
Julins Wolff, und denkt man dabei an die Fülle von Erneuerungen, Über¬
setzungen und Neudrucken der alten Dichtungen selber, die immer weiter über
den Kreis gelehrter Interessen hinaufreicht, und wie der Sinn dafür schon der
Jugend erweckt oder eingeflößt wird in den Lesebüchern bis in die geringste
Volksschule hinunter, woran vor hundert Jahren noch nicht zu denken war, so
sieht man vor sich, wie unser Bewußtsein durch die ganze Nation hin in einer
förmlichen Neubildung begriffen ist, die es nach der Vorzeit hin ergänzt, von
der ja ohnehin noch an tausend Stellen innen und außen die Fäden in das
Gewebe unsers heutigen Lebens hereinreichen, die nun so ihre Bedeutung und
ihren Zusammenhang wiederfinden. Und wie dabei die Bewegung auf der Höhe
der Zeit in der Kunstentwicklung sich darstellt, dafür braucht man nur den


Tagel'uchblättor eines Sonntagsphilosophen.

drohte, ging dem Zeitgeist das Auge auf für die Bedeutung unsrer alten Kunst
und Dichtung, für den Wert der im gemeinen Volke nachlebenden Märchen
und Sagen, für die berechtigte Eigenart und keimvolle Lebensfrische unsers
alten Lebens überhaupt, auch des Rechtslebens, Gemeindelebens, Zunftlebcns
u. s. w.; Ritter, ritterlich, Begriffe, die nie ganz hatten aussterben oder ent¬
arten können, gewannen neuen Glanz, den ja jetzt noch jeder in der Knabenzeit
mit seinem Zauber in sich erlebt. Von der blinden Übertreibung, die ja, wie
bei jeder lebhaften Geistesbewegung, nicht ausbleiben konnte, rührt vielleicht
wesentlich der Spott über die gute alte Zeit her, der mir aus vorigem Jahr¬
hundert nicht erinnerlich ist. Die Wissenschaft ist ja nun eifrig über all jenen
Lebensgebieten her, um die reine Wahrheit herauszuschälen, aber so nüchtern
kritisch sie immer verfährt, oft genug mehr als recht und nötig ist, und hier
und da schönen Schein zerstört, sie stößt doch auch überall ans hoffnungsvollste
Lebenskeime, die wert gewesen wären, sich weiter zu entwickeln, wenn nicht
hemmende Einflüsse darüber kamen.

Wie weit und tief aber die Wirkung der Bewegung auch noch auf unser
gegenwärtiges Leben geht (und damit in die Zukunft), zeigt sich leicht, wenn
man sich darin umsieht. Aus der romantischen Stimmung stammte der Gedanke
an den Ausbau des Kölner Domes, an die Wiederherstellung der Wartburg,
den Neubau des Schlosses Stolzenfels u. s. w., und wie hält dies Erneuern
dieser stolzen Zeugen einer großen Zeit nach, auch nachdem der romantische
Hauch längst verweht ist, wenn man nur z. B. an das Ulmer Münster, an die
Marienburg im Ordenslande, an die Kaiserpfalz in Goslar, die Albrechtsburg
in Meißen, die Burg Heinrichs des Löwen in Braunschweig denkt, deren Ausbau
oder Neubau wohl keiner anders als mit Genugthuung oder eigentümlich
tiefer Freude sieht, und es sind ihrer schon so viel und werden bei allen
unendlichen Schwierigkeiten der Ausführung immer mehr, daß nur der Kenner
sie noch alle wissen kann.

Wie lebhaft eine entsprechende Bewegung aus dem Gebiete der Dichtung im
Gange ist, das anzudeuten genügt die Nennung der Namen Victor Scheffel,
Julins Wolff, und denkt man dabei an die Fülle von Erneuerungen, Über¬
setzungen und Neudrucken der alten Dichtungen selber, die immer weiter über
den Kreis gelehrter Interessen hinaufreicht, und wie der Sinn dafür schon der
Jugend erweckt oder eingeflößt wird in den Lesebüchern bis in die geringste
Volksschule hinunter, woran vor hundert Jahren noch nicht zu denken war, so
sieht man vor sich, wie unser Bewußtsein durch die ganze Nation hin in einer
förmlichen Neubildung begriffen ist, die es nach der Vorzeit hin ergänzt, von
der ja ohnehin noch an tausend Stellen innen und außen die Fäden in das
Gewebe unsers heutigen Lebens hereinreichen, die nun so ihre Bedeutung und
ihren Zusammenhang wiederfinden. Und wie dabei die Bewegung auf der Höhe
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[0270] Tagel'uchblättor eines Sonntagsphilosophen. drohte, ging dem Zeitgeist das Auge auf für die Bedeutung unsrer alten Kunst und Dichtung, für den Wert der im gemeinen Volke nachlebenden Märchen und Sagen, für die berechtigte Eigenart und keimvolle Lebensfrische unsers alten Lebens überhaupt, auch des Rechtslebens, Gemeindelebens, Zunftlebcns u. s. w.; Ritter, ritterlich, Begriffe, die nie ganz hatten aussterben oder ent¬ arten können, gewannen neuen Glanz, den ja jetzt noch jeder in der Knabenzeit mit seinem Zauber in sich erlebt. Von der blinden Übertreibung, die ja, wie bei jeder lebhaften Geistesbewegung, nicht ausbleiben konnte, rührt vielleicht wesentlich der Spott über die gute alte Zeit her, der mir aus vorigem Jahr¬ hundert nicht erinnerlich ist. Die Wissenschaft ist ja nun eifrig über all jenen Lebensgebieten her, um die reine Wahrheit herauszuschälen, aber so nüchtern kritisch sie immer verfährt, oft genug mehr als recht und nötig ist, und hier und da schönen Schein zerstört, sie stößt doch auch überall ans hoffnungsvollste Lebenskeime, die wert gewesen wären, sich weiter zu entwickeln, wenn nicht hemmende Einflüsse darüber kamen. Wie weit und tief aber die Wirkung der Bewegung auch noch auf unser gegenwärtiges Leben geht (und damit in die Zukunft), zeigt sich leicht, wenn man sich darin umsieht. Aus der romantischen Stimmung stammte der Gedanke an den Ausbau des Kölner Domes, an die Wiederherstellung der Wartburg, den Neubau des Schlosses Stolzenfels u. s. w., und wie hält dies Erneuern dieser stolzen Zeugen einer großen Zeit nach, auch nachdem der romantische Hauch längst verweht ist, wenn man nur z. B. an das Ulmer Münster, an die Marienburg im Ordenslande, an die Kaiserpfalz in Goslar, die Albrechtsburg in Meißen, die Burg Heinrichs des Löwen in Braunschweig denkt, deren Ausbau oder Neubau wohl keiner anders als mit Genugthuung oder eigentümlich tiefer Freude sieht, und es sind ihrer schon so viel und werden bei allen unendlichen Schwierigkeiten der Ausführung immer mehr, daß nur der Kenner sie noch alle wissen kann. Wie lebhaft eine entsprechende Bewegung aus dem Gebiete der Dichtung im Gange ist, das anzudeuten genügt die Nennung der Namen Victor Scheffel, Julins Wolff, und denkt man dabei an die Fülle von Erneuerungen, Über¬ setzungen und Neudrucken der alten Dichtungen selber, die immer weiter über den Kreis gelehrter Interessen hinaufreicht, und wie der Sinn dafür schon der Jugend erweckt oder eingeflößt wird in den Lesebüchern bis in die geringste Volksschule hinunter, woran vor hundert Jahren noch nicht zu denken war, so sieht man vor sich, wie unser Bewußtsein durch die ganze Nation hin in einer förmlichen Neubildung begriffen ist, die es nach der Vorzeit hin ergänzt, von der ja ohnehin noch an tausend Stellen innen und außen die Fäden in das Gewebe unsers heutigen Lebens hereinreichen, die nun so ihre Bedeutung und ihren Zusammenhang wiederfinden. Und wie dabei die Bewegung auf der Höhe der Zeit in der Kunstentwicklung sich darstellt, dafür braucht man nur den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/270>, abgerufen am 22.07.2024.