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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Tagelmchblätter eines 5onntagsphilc>sophen.

Namen Richard Wagner zu nennen, in dem mit dem Hochfluge und Tiefsinn
philosophischen Bewußtseins sich die höchsten Ziele deutschester Kunst die Hand
reichen mit dem Alten, Ältesten unsrer Geisteswelt und dort ihre Wurzeln
suchen.

Mit alledem stellt sich wohl auch heraus, daß es sich bei dieser Rückbewegung
gar nicht um etwas Ungewöhnliches handelt, das etwa der Absicht der Mutter
Natur zuwiderliefe, die nur vorwärts verlangte, sondern um etwas recht Ge¬
setzmäßiges, ja um ein Lebensgesetz, das dem Menschenwesen von seiner Wiege
her eingebunden ist. Man kann es am bequemsten beim Einzelnen erkennen.
Wer sich einmal auf der Höhe des Lebens im Labyrinth der äußern und in¬
nern Welt ins Irre und Wirre geraten findet, sich selbst und seine reinen Ziele
verloren hat und im Kampfe erlahmt, dem kommen da, gerade in der Ermü¬
dung, von selbst Kindergedanken wieder, dort in der Kindheit findet er sich selbst
wieder und den Ansatz der rechten Wege, die er wieder betreten muß. Solche
Irrungen, die einen Rückbick nötig machen, begleiten aber alle menschliche Ent¬
wicklung , auch die der Völker. Wir sind jetzt mit unsrer Cultur mehrfach in
der Irre, zum Teil gefährlichster Irre. Es handelt sich, was bei einer alten
Cultur nicht Wunder nehmen kann, um etwas, das gefährlicher ist, als wilde
Natur, um Übercultur. Was im einzelnen Falle dazu zu zählen ist, was nicht,
kann ja streitig sein, aber daß das Wort da ist und immer öfter erklingt, das
bürgt wohl Zweiflern gegenüber, die Schlimmes nicht sehen mögen, allein dafür,
daß wir daran leiden. Das Wort ist ziemlich jung, der Begriff älter, die Sache
noch älter. Schon gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts zeichnet sie ein
Franzose mit überraschender Klarheit, der treffliche Montaigne in seinen Essays
(namentlich in dem Kapitel as Oannidalss). Die Erkenntnis der Gefahr und
wie man sich auf den Culturwegen an Abgründe hin verirrt hatte, brach dnrch
im achtzehnten Jahrhundert. Der Name Rousseau sagt alles. Der Franzose suchte
sich Hilfe oder Trost bei der wilden Natur, wie man ihm wenigstens vor¬
werfen durfte. Bei uns suchte man sie sich in der Urzeit der Culturwelt. Da¬
her die neue Begeisterung für Homer und das alte Griechentum überhaupt,
das man dem Urbild der Menschheit näher oder gleich dieses selbst darin sah.
Daher die uns jetzt so fern gerückte und doch so leicht wieder verständliche
Wärme für das Alte Testament, die sich ziemlich lange in unsrer Dichtung
wirksam zeigte. Durfte man doch dort bei der bangen Suche nach reinen Men-
schenzuständcn die Uranfänge der Menschheit überhaupt abgedrückt zu finden
glauben, bis sich der suchende Blick auf das Morgenland überhaupt erweiterte,
um der Wiege der Menschheit möglichst nahe zu kommen.

Aber ein Irrtum war noch dabei, der sich auch selbst bald fühlbar machte,
daß man in der Ferne suchte, was man in der Nähe brauchte. Wenn ein Ein¬
zelner in die Irre geraten ist, kann er wohl im Leben Andrer, besonders in
Jugenderinnerungen Trost und Weisung wiederfinden, sich selbst aber nur in


Tagelmchblätter eines 5onntagsphilc>sophen.

Namen Richard Wagner zu nennen, in dem mit dem Hochfluge und Tiefsinn
philosophischen Bewußtseins sich die höchsten Ziele deutschester Kunst die Hand
reichen mit dem Alten, Ältesten unsrer Geisteswelt und dort ihre Wurzeln
suchen.

Mit alledem stellt sich wohl auch heraus, daß es sich bei dieser Rückbewegung
gar nicht um etwas Ungewöhnliches handelt, das etwa der Absicht der Mutter
Natur zuwiderliefe, die nur vorwärts verlangte, sondern um etwas recht Ge¬
setzmäßiges, ja um ein Lebensgesetz, das dem Menschenwesen von seiner Wiege
her eingebunden ist. Man kann es am bequemsten beim Einzelnen erkennen.
Wer sich einmal auf der Höhe des Lebens im Labyrinth der äußern und in¬
nern Welt ins Irre und Wirre geraten findet, sich selbst und seine reinen Ziele
verloren hat und im Kampfe erlahmt, dem kommen da, gerade in der Ermü¬
dung, von selbst Kindergedanken wieder, dort in der Kindheit findet er sich selbst
wieder und den Ansatz der rechten Wege, die er wieder betreten muß. Solche
Irrungen, die einen Rückbick nötig machen, begleiten aber alle menschliche Ent¬
wicklung , auch die der Völker. Wir sind jetzt mit unsrer Cultur mehrfach in
der Irre, zum Teil gefährlichster Irre. Es handelt sich, was bei einer alten
Cultur nicht Wunder nehmen kann, um etwas, das gefährlicher ist, als wilde
Natur, um Übercultur. Was im einzelnen Falle dazu zu zählen ist, was nicht,
kann ja streitig sein, aber daß das Wort da ist und immer öfter erklingt, das
bürgt wohl Zweiflern gegenüber, die Schlimmes nicht sehen mögen, allein dafür,
daß wir daran leiden. Das Wort ist ziemlich jung, der Begriff älter, die Sache
noch älter. Schon gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts zeichnet sie ein
Franzose mit überraschender Klarheit, der treffliche Montaigne in seinen Essays
(namentlich in dem Kapitel as Oannidalss). Die Erkenntnis der Gefahr und
wie man sich auf den Culturwegen an Abgründe hin verirrt hatte, brach dnrch
im achtzehnten Jahrhundert. Der Name Rousseau sagt alles. Der Franzose suchte
sich Hilfe oder Trost bei der wilden Natur, wie man ihm wenigstens vor¬
werfen durfte. Bei uns suchte man sie sich in der Urzeit der Culturwelt. Da¬
her die neue Begeisterung für Homer und das alte Griechentum überhaupt,
das man dem Urbild der Menschheit näher oder gleich dieses selbst darin sah.
Daher die uns jetzt so fern gerückte und doch so leicht wieder verständliche
Wärme für das Alte Testament, die sich ziemlich lange in unsrer Dichtung
wirksam zeigte. Durfte man doch dort bei der bangen Suche nach reinen Men-
schenzuständcn die Uranfänge der Menschheit überhaupt abgedrückt zu finden
glauben, bis sich der suchende Blick auf das Morgenland überhaupt erweiterte,
um der Wiege der Menschheit möglichst nahe zu kommen.

Aber ein Irrtum war noch dabei, der sich auch selbst bald fühlbar machte,
daß man in der Ferne suchte, was man in der Nähe brauchte. Wenn ein Ein¬
zelner in die Irre geraten ist, kann er wohl im Leben Andrer, besonders in
Jugenderinnerungen Trost und Weisung wiederfinden, sich selbst aber nur in


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[0271] Tagelmchblätter eines 5onntagsphilc>sophen. Namen Richard Wagner zu nennen, in dem mit dem Hochfluge und Tiefsinn philosophischen Bewußtseins sich die höchsten Ziele deutschester Kunst die Hand reichen mit dem Alten, Ältesten unsrer Geisteswelt und dort ihre Wurzeln suchen. Mit alledem stellt sich wohl auch heraus, daß es sich bei dieser Rückbewegung gar nicht um etwas Ungewöhnliches handelt, das etwa der Absicht der Mutter Natur zuwiderliefe, die nur vorwärts verlangte, sondern um etwas recht Ge¬ setzmäßiges, ja um ein Lebensgesetz, das dem Menschenwesen von seiner Wiege her eingebunden ist. Man kann es am bequemsten beim Einzelnen erkennen. Wer sich einmal auf der Höhe des Lebens im Labyrinth der äußern und in¬ nern Welt ins Irre und Wirre geraten findet, sich selbst und seine reinen Ziele verloren hat und im Kampfe erlahmt, dem kommen da, gerade in der Ermü¬ dung, von selbst Kindergedanken wieder, dort in der Kindheit findet er sich selbst wieder und den Ansatz der rechten Wege, die er wieder betreten muß. Solche Irrungen, die einen Rückbick nötig machen, begleiten aber alle menschliche Ent¬ wicklung , auch die der Völker. Wir sind jetzt mit unsrer Cultur mehrfach in der Irre, zum Teil gefährlichster Irre. Es handelt sich, was bei einer alten Cultur nicht Wunder nehmen kann, um etwas, das gefährlicher ist, als wilde Natur, um Übercultur. Was im einzelnen Falle dazu zu zählen ist, was nicht, kann ja streitig sein, aber daß das Wort da ist und immer öfter erklingt, das bürgt wohl Zweiflern gegenüber, die Schlimmes nicht sehen mögen, allein dafür, daß wir daran leiden. Das Wort ist ziemlich jung, der Begriff älter, die Sache noch älter. Schon gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts zeichnet sie ein Franzose mit überraschender Klarheit, der treffliche Montaigne in seinen Essays (namentlich in dem Kapitel as Oannidalss). Die Erkenntnis der Gefahr und wie man sich auf den Culturwegen an Abgründe hin verirrt hatte, brach dnrch im achtzehnten Jahrhundert. Der Name Rousseau sagt alles. Der Franzose suchte sich Hilfe oder Trost bei der wilden Natur, wie man ihm wenigstens vor¬ werfen durfte. Bei uns suchte man sie sich in der Urzeit der Culturwelt. Da¬ her die neue Begeisterung für Homer und das alte Griechentum überhaupt, das man dem Urbild der Menschheit näher oder gleich dieses selbst darin sah. Daher die uns jetzt so fern gerückte und doch so leicht wieder verständliche Wärme für das Alte Testament, die sich ziemlich lange in unsrer Dichtung wirksam zeigte. Durfte man doch dort bei der bangen Suche nach reinen Men- schenzuständcn die Uranfänge der Menschheit überhaupt abgedrückt zu finden glauben, bis sich der suchende Blick auf das Morgenland überhaupt erweiterte, um der Wiege der Menschheit möglichst nahe zu kommen. Aber ein Irrtum war noch dabei, der sich auch selbst bald fühlbar machte, daß man in der Ferne suchte, was man in der Nähe brauchte. Wenn ein Ein¬ zelner in die Irre geraten ist, kann er wohl im Leben Andrer, besonders in Jugenderinnerungen Trost und Weisung wiederfinden, sich selbst aber nur in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/271>, abgerufen am 22.07.2024.