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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Bild von rechtem Leben werden, das sich von selbst auch vor uns aufsteckt als
Ziel, das wir den veränderten Verhältnissen neu abgewinnen müssen. So hat
jeder einzelne seine gute alte Zeit, auch wer sich unter die Unglücklichen zu
zählen Grund zu haben glaubt, wenigstens in der Kindheit, und er sucht vor
sich immer und immer wieder -- er muß --, was er der Zeit nach hinter sich und
doch noch tief in sich hat. Was einmal in mir und meiner Welt lebendig ge¬
wesen ist von Gutem und Schönem, einerlei wann und wie lange, das muß es
auch wieder werden können: das ist eine Rechnung, die die stille Seele in guten
Stunden tief in sich macht, und sie weiß da auch, daß die Rechnung nicht
täuschen kann. Die gute alte Zeit, die so leicht dem Spotte der Tcigesmeiuung
unterliegt, ist eine Kraftquelle für die Arbeit an der Zukunft. Das gilt für
das Leben des Einzelnen, wie für das von Gemeinschaften, auch der größten,
für das Leben eines Volkes, ja der Menschheit, sofern man sie sich als leben¬
diges Ganzes denkt.

Gerade wir Deutschen erleben das eben jetzt in deutlichster Weise. Was
ist die Wiederherstellung von Kaiser und Reich anders, als ein Zurückgreifen
auf alte Zeit im allergrößten Stile, warum soll man nicht sagen auf gute alte
Zeit? wohlbemerkt, nicht auf die gute alte Zeit. Denn daß die alte Zeit
schlechthin gut gewesen wäre in allen Stücken, und man gut thäte, sie mit Haut
und Haaren wiederzuholen, wer mag denn das behaupten von verständigen
Kennern und Freunden der Vorzeit? wer aber auch leugnen, daß es da Gutes
gab, das uns verloren gegangen war und ist? In dem Begriffe, den die ge¬
wöhnliche Meinung von Fortschritt hat, birgt sich leicht ein verhängnisvoller
Irrtum, daß er nämlich nur und immer und immer in einem geraden Vor¬
wärts bestehe, etwa wie der Weg eines Läufers, der einem bestimmten Ziele
zustrebt. Das ist tapfer jugendlich gedacht, wird aber im großen wie im kleinen
Leben zu einer Quelle schwerster Irrungen und Schäden. Ein so zusammen¬
gesetztes Ganze, wie eine Familie, eine Gemeinde :c., wie vollends das ist, was
man die Zeit nennt, kann sich nie auf gleicher Linie vorwärts bewegen, die Ge¬
samtbewegung ist eine vielfach gebrochene, im ganzen einer vorwärtsdringenden
Wellenlinie gleichend; die Wellen können freilich ihrem Höhenunterschiede nach
von solcher Größe sein, daß man dafür, nach der Zeit gemessen, Jahrzehnte, ja
Jahrhunderte als Maßstab nehmen muß. Das Gefährlichste ist, wenn einmal
an einer Stelle, die im Augenblicke (der sich zu Menschenaltern erstrecken kann)
den rechten Fortschritt anzeigt, nachher eben nur vorwärts und vorwärts ge¬
gangen und gedrängt wird, statt daß zur rechten Zeit andre Stellen nachgeholt
werden oder vorübergehend die Führung übernehmen. Darüber kommt das Ganze
zuletzt in eine gefährlich verschobene Lage, die allen wahren Fortschritt, ja ge¬
sundes Leben selbst gefährdet oder aufhebt. Die Geschichte von Staat und
Kirche, Kunst und Wissenschaft belegt das genügend mit handgreiflicher, schmerz¬
licher Lehre, worauf doch hier nicht eingegangen werden kann. So kommt es,


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Bild von rechtem Leben werden, das sich von selbst auch vor uns aufsteckt als
Ziel, das wir den veränderten Verhältnissen neu abgewinnen müssen. So hat
jeder einzelne seine gute alte Zeit, auch wer sich unter die Unglücklichen zu
zählen Grund zu haben glaubt, wenigstens in der Kindheit, und er sucht vor
sich immer und immer wieder — er muß —, was er der Zeit nach hinter sich und
doch noch tief in sich hat. Was einmal in mir und meiner Welt lebendig ge¬
wesen ist von Gutem und Schönem, einerlei wann und wie lange, das muß es
auch wieder werden können: das ist eine Rechnung, die die stille Seele in guten
Stunden tief in sich macht, und sie weiß da auch, daß die Rechnung nicht
täuschen kann. Die gute alte Zeit, die so leicht dem Spotte der Tcigesmeiuung
unterliegt, ist eine Kraftquelle für die Arbeit an der Zukunft. Das gilt für
das Leben des Einzelnen, wie für das von Gemeinschaften, auch der größten,
für das Leben eines Volkes, ja der Menschheit, sofern man sie sich als leben¬
diges Ganzes denkt.

Gerade wir Deutschen erleben das eben jetzt in deutlichster Weise. Was
ist die Wiederherstellung von Kaiser und Reich anders, als ein Zurückgreifen
auf alte Zeit im allergrößten Stile, warum soll man nicht sagen auf gute alte
Zeit? wohlbemerkt, nicht auf die gute alte Zeit. Denn daß die alte Zeit
schlechthin gut gewesen wäre in allen Stücken, und man gut thäte, sie mit Haut
und Haaren wiederzuholen, wer mag denn das behaupten von verständigen
Kennern und Freunden der Vorzeit? wer aber auch leugnen, daß es da Gutes
gab, das uns verloren gegangen war und ist? In dem Begriffe, den die ge¬
wöhnliche Meinung von Fortschritt hat, birgt sich leicht ein verhängnisvoller
Irrtum, daß er nämlich nur und immer und immer in einem geraden Vor¬
wärts bestehe, etwa wie der Weg eines Läufers, der einem bestimmten Ziele
zustrebt. Das ist tapfer jugendlich gedacht, wird aber im großen wie im kleinen
Leben zu einer Quelle schwerster Irrungen und Schäden. Ein so zusammen¬
gesetztes Ganze, wie eine Familie, eine Gemeinde :c., wie vollends das ist, was
man die Zeit nennt, kann sich nie auf gleicher Linie vorwärts bewegen, die Ge¬
samtbewegung ist eine vielfach gebrochene, im ganzen einer vorwärtsdringenden
Wellenlinie gleichend; die Wellen können freilich ihrem Höhenunterschiede nach
von solcher Größe sein, daß man dafür, nach der Zeit gemessen, Jahrzehnte, ja
Jahrhunderte als Maßstab nehmen muß. Das Gefährlichste ist, wenn einmal
an einer Stelle, die im Augenblicke (der sich zu Menschenaltern erstrecken kann)
den rechten Fortschritt anzeigt, nachher eben nur vorwärts und vorwärts ge¬
gangen und gedrängt wird, statt daß zur rechten Zeit andre Stellen nachgeholt
werden oder vorübergehend die Führung übernehmen. Darüber kommt das Ganze
zuletzt in eine gefährlich verschobene Lage, die allen wahren Fortschritt, ja ge¬
sundes Leben selbst gefährdet oder aufhebt. Die Geschichte von Staat und
Kirche, Kunst und Wissenschaft belegt das genügend mit handgreiflicher, schmerz¬
licher Lehre, worauf doch hier nicht eingegangen werden kann. So kommt es,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/264>, abgerufen am 22.07.2024.