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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Die Leute, die den Spott üben, vertreten, wie mir scheint, hauptsächlich
zwei Richtungen, die doch von einander sehr verschieden, ja entgegengesetzt sind.
Die einen reden aus dem stolzen Gefühle heraus, wie Wagner im Gespräche
mit Faust, "wie wir es zuletzt so herrlich weit gebracht," die andern aus Un¬
glauben an eine gute Zeit überhaupt, die einen also sehr jugendlich, die andern
sehr ältlich, wenn das Wort einmal so gelten darf. Es handelt sich aber im
Grunde um die Fortschrittsfrage, ob es überhaupt einen Fortschritt giebt, und
wenn es ihn giebt, wie er aussieht und sich darstellt. Die jugendlich Gesinnten
fühlen sich selber in frischem, fröhlichem Fortschritt, die andern fühlen, sehen
und glauben überhaupt keinen. Da aber beides also möglich ist, kann die Frage
nicht gar so einfach sein, und ist doch auf alle Fälle wichtig genug im großen
wie im kleinen Leben, da alles Streben und Leben im Größten wie im Kleinsten
an einen Glauben oder ein Vorgefühl eines gewissen Gelingens gebunden ist.
Von diesem Vorgefühle lebt eigentlich die Seele den Arbeitstag entlang, und
wo es einmal versagt, da läßt man erlahmt die Arme sinken. Wo es aber
einer ganzen Zeit versagt, die ist eigentlich verloren. Wie steht es nun da mit
uns jetzt? Mir ist, als könnte kaum eine Frage wichtiger sein.

Wenn sich nun da bei näherm Zusehen zeigte, daß schon der bloße Glaube
an eine gute alte Zeit ein Mittel wäre, den Fortschritt zur wirklichen guten
Zeit zu befördern, ein Hebel, um die ruhenden Kräfte in der rechten Richtung
zu bewegen, die dazu wirken müssen? Daß man also die Frage, ob es je eine
gute Zeit wirklich gegeben habe, ganz zurückstellen, ja sogar verneinen könnte
und doch den Schein derselben, der aus der Zeitferne hier und da aufleuchtet,
für Wahrheit nehmen, um sich gefördert zu fühlen, indem man damit jenen
unentbehrlichen Hebel gewinnt? Mir ist, als ließe sich dem kein nein entgegen¬
stellen, nicht einmal ein zweifelsüchtiges aber. Und wenn sich vollends zeigte,
daß jener Schein, ob sich auch Fernetäuschung einmischt, in wesentlichen Stücken
doch kein bloßer Schein ist, sondern ein Abglanz alter Wirklichkeit, gewänne
nicht damit der Hebel doppelte Kraft? Ist es aber nicht eigentlich einerlei, ob
ich das Ziel, dem die Zustände und ich darin zustreben müssen, vor mir oder
hinter mir habe, wenn ich es nur habe, d. h. in mir, wo auf alle Fälle seine
wahre Wohnstätte ist? Und wenn ich, um sein Bild in mir aufzufrischen, hinter
mich blicken muß, kann ich es darum nicht zugleich vor mir sehen, vor mich setzen?

Das kann wohl wie durch ein Begriffsspiel erschlichen scheinen, ist es
aber nicht, ja jeder kennt diesen merkwürdigen Vorgang in uns aus eigner Er¬
fahrung. Wenn man z. B. einem Orte zuwandert oder zufährt, wo man ein¬
mal glückliche Tage erlebt hat, da hat man ja diese Tage der Zeit nach hinter
sich, sieht sie aber doch in sich vor sich und hofft sie auch außer sich wiederzu¬
finden, falls sich die Verhältnisse nicht verändert haben, wie das freilich gewöhn¬
lich der Fall ist. So sammelt sich in jedem ein Vorrat von leuchtenden Bil¬
dern glücklicher Tage und Stunden an, die zusammengefaßt ein bestimmendes


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Die Leute, die den Spott üben, vertreten, wie mir scheint, hauptsächlich
zwei Richtungen, die doch von einander sehr verschieden, ja entgegengesetzt sind.
Die einen reden aus dem stolzen Gefühle heraus, wie Wagner im Gespräche
mit Faust, „wie wir es zuletzt so herrlich weit gebracht," die andern aus Un¬
glauben an eine gute Zeit überhaupt, die einen also sehr jugendlich, die andern
sehr ältlich, wenn das Wort einmal so gelten darf. Es handelt sich aber im
Grunde um die Fortschrittsfrage, ob es überhaupt einen Fortschritt giebt, und
wenn es ihn giebt, wie er aussieht und sich darstellt. Die jugendlich Gesinnten
fühlen sich selber in frischem, fröhlichem Fortschritt, die andern fühlen, sehen
und glauben überhaupt keinen. Da aber beides also möglich ist, kann die Frage
nicht gar so einfach sein, und ist doch auf alle Fälle wichtig genug im großen
wie im kleinen Leben, da alles Streben und Leben im Größten wie im Kleinsten
an einen Glauben oder ein Vorgefühl eines gewissen Gelingens gebunden ist.
Von diesem Vorgefühle lebt eigentlich die Seele den Arbeitstag entlang, und
wo es einmal versagt, da läßt man erlahmt die Arme sinken. Wo es aber
einer ganzen Zeit versagt, die ist eigentlich verloren. Wie steht es nun da mit
uns jetzt? Mir ist, als könnte kaum eine Frage wichtiger sein.

Wenn sich nun da bei näherm Zusehen zeigte, daß schon der bloße Glaube
an eine gute alte Zeit ein Mittel wäre, den Fortschritt zur wirklichen guten
Zeit zu befördern, ein Hebel, um die ruhenden Kräfte in der rechten Richtung
zu bewegen, die dazu wirken müssen? Daß man also die Frage, ob es je eine
gute Zeit wirklich gegeben habe, ganz zurückstellen, ja sogar verneinen könnte
und doch den Schein derselben, der aus der Zeitferne hier und da aufleuchtet,
für Wahrheit nehmen, um sich gefördert zu fühlen, indem man damit jenen
unentbehrlichen Hebel gewinnt? Mir ist, als ließe sich dem kein nein entgegen¬
stellen, nicht einmal ein zweifelsüchtiges aber. Und wenn sich vollends zeigte,
daß jener Schein, ob sich auch Fernetäuschung einmischt, in wesentlichen Stücken
doch kein bloßer Schein ist, sondern ein Abglanz alter Wirklichkeit, gewänne
nicht damit der Hebel doppelte Kraft? Ist es aber nicht eigentlich einerlei, ob
ich das Ziel, dem die Zustände und ich darin zustreben müssen, vor mir oder
hinter mir habe, wenn ich es nur habe, d. h. in mir, wo auf alle Fälle seine
wahre Wohnstätte ist? Und wenn ich, um sein Bild in mir aufzufrischen, hinter
mich blicken muß, kann ich es darum nicht zugleich vor mir sehen, vor mich setzen?

Das kann wohl wie durch ein Begriffsspiel erschlichen scheinen, ist es
aber nicht, ja jeder kennt diesen merkwürdigen Vorgang in uns aus eigner Er¬
fahrung. Wenn man z. B. einem Orte zuwandert oder zufährt, wo man ein¬
mal glückliche Tage erlebt hat, da hat man ja diese Tage der Zeit nach hinter
sich, sieht sie aber doch in sich vor sich und hofft sie auch außer sich wiederzu¬
finden, falls sich die Verhältnisse nicht verändert haben, wie das freilich gewöhn¬
lich der Fall ist. So sammelt sich in jedem ein Vorrat von leuchtenden Bil¬
dern glücklicher Tage und Stunden an, die zusammengefaßt ein bestimmendes


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[0263] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Die Leute, die den Spott üben, vertreten, wie mir scheint, hauptsächlich zwei Richtungen, die doch von einander sehr verschieden, ja entgegengesetzt sind. Die einen reden aus dem stolzen Gefühle heraus, wie Wagner im Gespräche mit Faust, „wie wir es zuletzt so herrlich weit gebracht," die andern aus Un¬ glauben an eine gute Zeit überhaupt, die einen also sehr jugendlich, die andern sehr ältlich, wenn das Wort einmal so gelten darf. Es handelt sich aber im Grunde um die Fortschrittsfrage, ob es überhaupt einen Fortschritt giebt, und wenn es ihn giebt, wie er aussieht und sich darstellt. Die jugendlich Gesinnten fühlen sich selber in frischem, fröhlichem Fortschritt, die andern fühlen, sehen und glauben überhaupt keinen. Da aber beides also möglich ist, kann die Frage nicht gar so einfach sein, und ist doch auf alle Fälle wichtig genug im großen wie im kleinen Leben, da alles Streben und Leben im Größten wie im Kleinsten an einen Glauben oder ein Vorgefühl eines gewissen Gelingens gebunden ist. Von diesem Vorgefühle lebt eigentlich die Seele den Arbeitstag entlang, und wo es einmal versagt, da läßt man erlahmt die Arme sinken. Wo es aber einer ganzen Zeit versagt, die ist eigentlich verloren. Wie steht es nun da mit uns jetzt? Mir ist, als könnte kaum eine Frage wichtiger sein. Wenn sich nun da bei näherm Zusehen zeigte, daß schon der bloße Glaube an eine gute alte Zeit ein Mittel wäre, den Fortschritt zur wirklichen guten Zeit zu befördern, ein Hebel, um die ruhenden Kräfte in der rechten Richtung zu bewegen, die dazu wirken müssen? Daß man also die Frage, ob es je eine gute Zeit wirklich gegeben habe, ganz zurückstellen, ja sogar verneinen könnte und doch den Schein derselben, der aus der Zeitferne hier und da aufleuchtet, für Wahrheit nehmen, um sich gefördert zu fühlen, indem man damit jenen unentbehrlichen Hebel gewinnt? Mir ist, als ließe sich dem kein nein entgegen¬ stellen, nicht einmal ein zweifelsüchtiges aber. Und wenn sich vollends zeigte, daß jener Schein, ob sich auch Fernetäuschung einmischt, in wesentlichen Stücken doch kein bloßer Schein ist, sondern ein Abglanz alter Wirklichkeit, gewänne nicht damit der Hebel doppelte Kraft? Ist es aber nicht eigentlich einerlei, ob ich das Ziel, dem die Zustände und ich darin zustreben müssen, vor mir oder hinter mir habe, wenn ich es nur habe, d. h. in mir, wo auf alle Fälle seine wahre Wohnstätte ist? Und wenn ich, um sein Bild in mir aufzufrischen, hinter mich blicken muß, kann ich es darum nicht zugleich vor mir sehen, vor mich setzen? Das kann wohl wie durch ein Begriffsspiel erschlichen scheinen, ist es aber nicht, ja jeder kennt diesen merkwürdigen Vorgang in uns aus eigner Er¬ fahrung. Wenn man z. B. einem Orte zuwandert oder zufährt, wo man ein¬ mal glückliche Tage erlebt hat, da hat man ja diese Tage der Zeit nach hinter sich, sieht sie aber doch in sich vor sich und hofft sie auch außer sich wiederzu¬ finden, falls sich die Verhältnisse nicht verändert haben, wie das freilich gewöhn¬ lich der Fall ist. So sammelt sich in jedem ein Vorrat von leuchtenden Bil¬ dern glücklicher Tage und Stunden an, die zusammengefaßt ein bestimmendes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/263>, abgerufen am 24.08.2024.