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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

daß man endlich oft, durch bitterste Erfahrung belehrt, auf alte Verhältnisse,
alte Gedanken zurückgreifen muß, die in der Vorwärtsbewegung verloren ge¬
gangen waren und zum Heil des Ganzen nicht fehlen können. Ich will gestehen,
daß ich über Stahls Wort "die Wissenschaft muß umkehren," als es in den
vierziger Jahren von Berlin aus erklang, denselben heiligen Zorn empfand,
wie die öffentliche Meinung damals, daß ich aber allmählich darüber anders
denken, ja es als einen gesunden Heiltrank empfinden lernte, natürlich bei rich¬
tigem Verständnis. Haben wir doch erlebt, daß in der Philosophie das Losungs¬
wort ausgegeben wurde, man müsse zu Kant zurückkehren, um sich aus der Irre
wieder zurechtzufinden, und von seinem Standpunkte aus einen neuen Anlauf
nehmen. So kann der rechte Fortschritt gegebenen Falls in einem Rückschritte
bestehen.

Auch Kaiser und Reich sind der Zeit nach ein solches Rückschreiten, das
doch einer tiefen, alten, glühenden Sehnsucht entgegenkam und nur mit ver¬
schwindenden Ausnahmen von Allen, auch von allen Parteien als ein rechtes,
rettendes Fortschreiten immer deutlicher empfunden wird. Es ist aber auch kein
Wiederholen des Alten mit Haut und Haaren, vom alten Reiche ist abgestreift,
was ihm das Leben erschwerte und schädigte, aber der gesunde Kern davon ist sich
selbst zurückgegeben. Und so oft auch beteuert worden ist, das neue Reich sei
eine ganz neue Sache und habe mit dem alten nichts zu schaffen, so setzt man
doch gern beide in eins, wo es irgend geht. Das zeigt sich z. B. in diesen
Tagen an der Romfahrt Kaiser Wilhelms, wie alle Blätter seine Reise nach
Italien nennen, und der Ausdruck hat wohl für jeden Leser etwas eigentümlich
Behagliches, ja froh Erhebendes, offenbar nur durch die Anknüpfung an die
alte Zeit. Und doch kann man gerade daran fühlen, wie ganz anders das neue
Reich steht, wie gründlich es gebessert ist. Die alten Kaiser zogen über die
Alpen, um sich vom Papste die Krone und Kaiserwürde geben zu lassen, jetzt
fehlt nicht viel, daß sich der Papst vom deutschen Kaiser seine Krone und Würde
sest machen ließe. Da ist denn Rückschritt mit Fortschritt aufs schönste verquickt,
gute alte Zeit, die verloren war, in verbesserter Auflage wieder aufgenommen.

Wahrlich, die Tagesmeinung könnte immerhin mit dem beliebten Spott
auf die gute alte Zeit nun ein Ende machen und aus ihr das verlorene Gute
wiederholen helfen. Ja, das thut sie aber eigentlich schon. Sie thut es
z. B. mit der Gunst, die sie seit etwa zwei Jahrzehnten immer wärmer
und eifriger dem Kunsthandwerk unsers sechzehnten Jahrhunderts zuwendet,
daß man diesem mit seinem reichen und feinem Kunstgeist und Leben nun
schon überall, im Hause und in den Straßen, an Bauten und Büchern begegnet
in endloser Nachahmung. Da sieht man eine Rückkehr in verlassene Bahnen
im Schwange, der man nur oft schon mehr vorsichtigen Geschmack und Ma߬
halten wünschen möchte, die aber im Ganzen niemand als Rückschritt empfindet,
vielmehr wie eine Rettung in frisches, buntes, schönes Leben mitten im Alltngs-


Grenzboten IV. 1888. S3
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

daß man endlich oft, durch bitterste Erfahrung belehrt, auf alte Verhältnisse,
alte Gedanken zurückgreifen muß, die in der Vorwärtsbewegung verloren ge¬
gangen waren und zum Heil des Ganzen nicht fehlen können. Ich will gestehen,
daß ich über Stahls Wort „die Wissenschaft muß umkehren," als es in den
vierziger Jahren von Berlin aus erklang, denselben heiligen Zorn empfand,
wie die öffentliche Meinung damals, daß ich aber allmählich darüber anders
denken, ja es als einen gesunden Heiltrank empfinden lernte, natürlich bei rich¬
tigem Verständnis. Haben wir doch erlebt, daß in der Philosophie das Losungs¬
wort ausgegeben wurde, man müsse zu Kant zurückkehren, um sich aus der Irre
wieder zurechtzufinden, und von seinem Standpunkte aus einen neuen Anlauf
nehmen. So kann der rechte Fortschritt gegebenen Falls in einem Rückschritte
bestehen.

Auch Kaiser und Reich sind der Zeit nach ein solches Rückschreiten, das
doch einer tiefen, alten, glühenden Sehnsucht entgegenkam und nur mit ver¬
schwindenden Ausnahmen von Allen, auch von allen Parteien als ein rechtes,
rettendes Fortschreiten immer deutlicher empfunden wird. Es ist aber auch kein
Wiederholen des Alten mit Haut und Haaren, vom alten Reiche ist abgestreift,
was ihm das Leben erschwerte und schädigte, aber der gesunde Kern davon ist sich
selbst zurückgegeben. Und so oft auch beteuert worden ist, das neue Reich sei
eine ganz neue Sache und habe mit dem alten nichts zu schaffen, so setzt man
doch gern beide in eins, wo es irgend geht. Das zeigt sich z. B. in diesen
Tagen an der Romfahrt Kaiser Wilhelms, wie alle Blätter seine Reise nach
Italien nennen, und der Ausdruck hat wohl für jeden Leser etwas eigentümlich
Behagliches, ja froh Erhebendes, offenbar nur durch die Anknüpfung an die
alte Zeit. Und doch kann man gerade daran fühlen, wie ganz anders das neue
Reich steht, wie gründlich es gebessert ist. Die alten Kaiser zogen über die
Alpen, um sich vom Papste die Krone und Kaiserwürde geben zu lassen, jetzt
fehlt nicht viel, daß sich der Papst vom deutschen Kaiser seine Krone und Würde
sest machen ließe. Da ist denn Rückschritt mit Fortschritt aufs schönste verquickt,
gute alte Zeit, die verloren war, in verbesserter Auflage wieder aufgenommen.

Wahrlich, die Tagesmeinung könnte immerhin mit dem beliebten Spott
auf die gute alte Zeit nun ein Ende machen und aus ihr das verlorene Gute
wiederholen helfen. Ja, das thut sie aber eigentlich schon. Sie thut es
z. B. mit der Gunst, die sie seit etwa zwei Jahrzehnten immer wärmer
und eifriger dem Kunsthandwerk unsers sechzehnten Jahrhunderts zuwendet,
daß man diesem mit seinem reichen und feinem Kunstgeist und Leben nun
schon überall, im Hause und in den Straßen, an Bauten und Büchern begegnet
in endloser Nachahmung. Da sieht man eine Rückkehr in verlassene Bahnen
im Schwange, der man nur oft schon mehr vorsichtigen Geschmack und Ma߬
halten wünschen möchte, die aber im Ganzen niemand als Rückschritt empfindet,
vielmehr wie eine Rettung in frisches, buntes, schönes Leben mitten im Alltngs-


Grenzboten IV. 1888. S3
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[0265] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. daß man endlich oft, durch bitterste Erfahrung belehrt, auf alte Verhältnisse, alte Gedanken zurückgreifen muß, die in der Vorwärtsbewegung verloren ge¬ gangen waren und zum Heil des Ganzen nicht fehlen können. Ich will gestehen, daß ich über Stahls Wort „die Wissenschaft muß umkehren," als es in den vierziger Jahren von Berlin aus erklang, denselben heiligen Zorn empfand, wie die öffentliche Meinung damals, daß ich aber allmählich darüber anders denken, ja es als einen gesunden Heiltrank empfinden lernte, natürlich bei rich¬ tigem Verständnis. Haben wir doch erlebt, daß in der Philosophie das Losungs¬ wort ausgegeben wurde, man müsse zu Kant zurückkehren, um sich aus der Irre wieder zurechtzufinden, und von seinem Standpunkte aus einen neuen Anlauf nehmen. So kann der rechte Fortschritt gegebenen Falls in einem Rückschritte bestehen. Auch Kaiser und Reich sind der Zeit nach ein solches Rückschreiten, das doch einer tiefen, alten, glühenden Sehnsucht entgegenkam und nur mit ver¬ schwindenden Ausnahmen von Allen, auch von allen Parteien als ein rechtes, rettendes Fortschreiten immer deutlicher empfunden wird. Es ist aber auch kein Wiederholen des Alten mit Haut und Haaren, vom alten Reiche ist abgestreift, was ihm das Leben erschwerte und schädigte, aber der gesunde Kern davon ist sich selbst zurückgegeben. Und so oft auch beteuert worden ist, das neue Reich sei eine ganz neue Sache und habe mit dem alten nichts zu schaffen, so setzt man doch gern beide in eins, wo es irgend geht. Das zeigt sich z. B. in diesen Tagen an der Romfahrt Kaiser Wilhelms, wie alle Blätter seine Reise nach Italien nennen, und der Ausdruck hat wohl für jeden Leser etwas eigentümlich Behagliches, ja froh Erhebendes, offenbar nur durch die Anknüpfung an die alte Zeit. Und doch kann man gerade daran fühlen, wie ganz anders das neue Reich steht, wie gründlich es gebessert ist. Die alten Kaiser zogen über die Alpen, um sich vom Papste die Krone und Kaiserwürde geben zu lassen, jetzt fehlt nicht viel, daß sich der Papst vom deutschen Kaiser seine Krone und Würde sest machen ließe. Da ist denn Rückschritt mit Fortschritt aufs schönste verquickt, gute alte Zeit, die verloren war, in verbesserter Auflage wieder aufgenommen. Wahrlich, die Tagesmeinung könnte immerhin mit dem beliebten Spott auf die gute alte Zeit nun ein Ende machen und aus ihr das verlorene Gute wiederholen helfen. Ja, das thut sie aber eigentlich schon. Sie thut es z. B. mit der Gunst, die sie seit etwa zwei Jahrzehnten immer wärmer und eifriger dem Kunsthandwerk unsers sechzehnten Jahrhunderts zuwendet, daß man diesem mit seinem reichen und feinem Kunstgeist und Leben nun schon überall, im Hause und in den Straßen, an Bauten und Büchern begegnet in endloser Nachahmung. Da sieht man eine Rückkehr in verlassene Bahnen im Schwange, der man nur oft schon mehr vorsichtigen Geschmack und Ma߬ halten wünschen möchte, die aber im Ganzen niemand als Rückschritt empfindet, vielmehr wie eine Rettung in frisches, buntes, schönes Leben mitten im Alltngs- Grenzboten IV. 1888. S3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/265>, abgerufen am 22.07.2024.