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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Lreihandelslehro in Geschichte und Wissenschaft.

Wirtschaft mit den gerade geschichtlich gegebenen Stärkeverhältnissen als den
natürlichen betrachtet (v. Scheel); sie hat ferner bis heute nicht beachtet, daß
die englische Freihandelsagitation von den gerade vorhandenen englischen Zu¬
ständen ausging, denen unsre deutschen bis heute noch nicht gleichgestellt werden
können.

Die Irrtümer des wirtschaftlichen Rationalismus finden zum Teil darin
eine Erklärung, daß der Einzelne als eine rein egoistische Kraft aufgefaßt wird,
die, wie jede Naturkraft, immer in derselben Richtung thätig sei und unter
gleichen Umständen stets dieselben Wirkungen hervorbringe. Aus dieser Wurzel
entsprang zugleich die gänzlich verkehrte Theorie von der unbedingten Heilsam¬
keit der ungehinderten Entfaltung des menschlichen Egoismus im Wirtschafts¬
leben. Der Egoismus Sporne jeden Einzelnen zur wirtschaftlichsten Produktion
an, aber auch zur Verminderung oder Einstellung derselben, wenn sie nicht
mehr lohne, und der gleiche Egoismus treibe jeden Einzelnen zur möglichst
großen Ausnutzung seines Vorteiles; jeder Einzelne möge daher ganz sich
selbst überlassen bleiben: laisssi? altfr, laisse? xasser, Is uionäs og, as
1ni-MöM6.

Diese Sätze sind in der Allgemeinheit und Uneingeschränktheit, mit der sie
von jener wirtschaftspolitischen Richtung hingestellt werden, falsch. Der unge¬
zügelte Egoismus muß zu einer rücksichtslosen Ausnutzung der eignen Kräfte
und der fremden Schwächen führen, seine Proklamirung zum allgemeinen Gesetz
ist deshalb eine Verherrlichung der Gewissenlosigkeit, ein Hohn auf die Sittlich¬
keit und Menschlichkeit. Es begünstigt den Besitzenden und Unabhängigen, der
durch die Ausübung des nackten Egoismus noch vermögender und unabhängiger
wird, während es dem Besitzlosen und Abhängigen nichts nützt, da ihm die
Macht und die Hilfsmittel fehlen, um seinen Egoismus für sich nutzbar zu
machen.

Freilich wäre Mangel an Egoismus (Eigennutz, Selbstinteresse) oder die
Behinderung an der Ausübung desselben ein ebenso bedenklicher Nachteil. Ein
gewisses Maß von Egoismus ist notwendig und berechtigt, damit dem Einzelnen
der Trieb zu wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt erhalten bleibt. Aber
er muß an seiner Entartung gehindert werden, und diejenigen müssen geschützt
werden, die infolge ihrer hilflosen Lage, ihrer Vereinzelung ?c. der egoistischen
Aussaugung andrer machtlos und wehrlos preisgegeben sind. Darauf beruhen
unsre Wuchergesetze, unsre ganze soziale Gesetzgebung, unsre Vorschriften über
Bau und Betrieb der Eisenbahnen, über das Aktien- und Notenwesen u. s. w.
Bekannt ist der Widerspruch unsrer Freihändler gegen die deutschen Sozial¬
gesetze, aber es verdient in die Erinnerung zurückgerufen zu werden, daß sie
selbst Gegner der Patentgesetzgebung und der Verbote des Nachdrucks waren.
Schiller hat es glücklicherweise nicht mehr erlebt, daß der widerrechtliche Nach¬
druck sogar theoretisch und wissenschaftlich gerechtfertigt wurde.


Die Lreihandelslehro in Geschichte und Wissenschaft.

Wirtschaft mit den gerade geschichtlich gegebenen Stärkeverhältnissen als den
natürlichen betrachtet (v. Scheel); sie hat ferner bis heute nicht beachtet, daß
die englische Freihandelsagitation von den gerade vorhandenen englischen Zu¬
ständen ausging, denen unsre deutschen bis heute noch nicht gleichgestellt werden
können.

Die Irrtümer des wirtschaftlichen Rationalismus finden zum Teil darin
eine Erklärung, daß der Einzelne als eine rein egoistische Kraft aufgefaßt wird,
die, wie jede Naturkraft, immer in derselben Richtung thätig sei und unter
gleichen Umständen stets dieselben Wirkungen hervorbringe. Aus dieser Wurzel
entsprang zugleich die gänzlich verkehrte Theorie von der unbedingten Heilsam¬
keit der ungehinderten Entfaltung des menschlichen Egoismus im Wirtschafts¬
leben. Der Egoismus Sporne jeden Einzelnen zur wirtschaftlichsten Produktion
an, aber auch zur Verminderung oder Einstellung derselben, wenn sie nicht
mehr lohne, und der gleiche Egoismus treibe jeden Einzelnen zur möglichst
großen Ausnutzung seines Vorteiles; jeder Einzelne möge daher ganz sich
selbst überlassen bleiben: laisssi? altfr, laisse? xasser, Is uionäs og, as
1ni-MöM6.

Diese Sätze sind in der Allgemeinheit und Uneingeschränktheit, mit der sie
von jener wirtschaftspolitischen Richtung hingestellt werden, falsch. Der unge¬
zügelte Egoismus muß zu einer rücksichtslosen Ausnutzung der eignen Kräfte
und der fremden Schwächen führen, seine Proklamirung zum allgemeinen Gesetz
ist deshalb eine Verherrlichung der Gewissenlosigkeit, ein Hohn auf die Sittlich¬
keit und Menschlichkeit. Es begünstigt den Besitzenden und Unabhängigen, der
durch die Ausübung des nackten Egoismus noch vermögender und unabhängiger
wird, während es dem Besitzlosen und Abhängigen nichts nützt, da ihm die
Macht und die Hilfsmittel fehlen, um seinen Egoismus für sich nutzbar zu
machen.

Freilich wäre Mangel an Egoismus (Eigennutz, Selbstinteresse) oder die
Behinderung an der Ausübung desselben ein ebenso bedenklicher Nachteil. Ein
gewisses Maß von Egoismus ist notwendig und berechtigt, damit dem Einzelnen
der Trieb zu wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt erhalten bleibt. Aber
er muß an seiner Entartung gehindert werden, und diejenigen müssen geschützt
werden, die infolge ihrer hilflosen Lage, ihrer Vereinzelung ?c. der egoistischen
Aussaugung andrer machtlos und wehrlos preisgegeben sind. Darauf beruhen
unsre Wuchergesetze, unsre ganze soziale Gesetzgebung, unsre Vorschriften über
Bau und Betrieb der Eisenbahnen, über das Aktien- und Notenwesen u. s. w.
Bekannt ist der Widerspruch unsrer Freihändler gegen die deutschen Sozial¬
gesetze, aber es verdient in die Erinnerung zurückgerufen zu werden, daß sie
selbst Gegner der Patentgesetzgebung und der Verbote des Nachdrucks waren.
Schiller hat es glücklicherweise nicht mehr erlebt, daß der widerrechtliche Nach¬
druck sogar theoretisch und wissenschaftlich gerechtfertigt wurde.


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[0260] Die Lreihandelslehro in Geschichte und Wissenschaft. Wirtschaft mit den gerade geschichtlich gegebenen Stärkeverhältnissen als den natürlichen betrachtet (v. Scheel); sie hat ferner bis heute nicht beachtet, daß die englische Freihandelsagitation von den gerade vorhandenen englischen Zu¬ ständen ausging, denen unsre deutschen bis heute noch nicht gleichgestellt werden können. Die Irrtümer des wirtschaftlichen Rationalismus finden zum Teil darin eine Erklärung, daß der Einzelne als eine rein egoistische Kraft aufgefaßt wird, die, wie jede Naturkraft, immer in derselben Richtung thätig sei und unter gleichen Umständen stets dieselben Wirkungen hervorbringe. Aus dieser Wurzel entsprang zugleich die gänzlich verkehrte Theorie von der unbedingten Heilsam¬ keit der ungehinderten Entfaltung des menschlichen Egoismus im Wirtschafts¬ leben. Der Egoismus Sporne jeden Einzelnen zur wirtschaftlichsten Produktion an, aber auch zur Verminderung oder Einstellung derselben, wenn sie nicht mehr lohne, und der gleiche Egoismus treibe jeden Einzelnen zur möglichst großen Ausnutzung seines Vorteiles; jeder Einzelne möge daher ganz sich selbst überlassen bleiben: laisssi? altfr, laisse? xasser, Is uionäs og, as 1ni-MöM6. Diese Sätze sind in der Allgemeinheit und Uneingeschränktheit, mit der sie von jener wirtschaftspolitischen Richtung hingestellt werden, falsch. Der unge¬ zügelte Egoismus muß zu einer rücksichtslosen Ausnutzung der eignen Kräfte und der fremden Schwächen führen, seine Proklamirung zum allgemeinen Gesetz ist deshalb eine Verherrlichung der Gewissenlosigkeit, ein Hohn auf die Sittlich¬ keit und Menschlichkeit. Es begünstigt den Besitzenden und Unabhängigen, der durch die Ausübung des nackten Egoismus noch vermögender und unabhängiger wird, während es dem Besitzlosen und Abhängigen nichts nützt, da ihm die Macht und die Hilfsmittel fehlen, um seinen Egoismus für sich nutzbar zu machen. Freilich wäre Mangel an Egoismus (Eigennutz, Selbstinteresse) oder die Behinderung an der Ausübung desselben ein ebenso bedenklicher Nachteil. Ein gewisses Maß von Egoismus ist notwendig und berechtigt, damit dem Einzelnen der Trieb zu wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt erhalten bleibt. Aber er muß an seiner Entartung gehindert werden, und diejenigen müssen geschützt werden, die infolge ihrer hilflosen Lage, ihrer Vereinzelung ?c. der egoistischen Aussaugung andrer machtlos und wehrlos preisgegeben sind. Darauf beruhen unsre Wuchergesetze, unsre ganze soziale Gesetzgebung, unsre Vorschriften über Bau und Betrieb der Eisenbahnen, über das Aktien- und Notenwesen u. s. w. Bekannt ist der Widerspruch unsrer Freihändler gegen die deutschen Sozial¬ gesetze, aber es verdient in die Erinnerung zurückgerufen zu werden, daß sie selbst Gegner der Patentgesetzgebung und der Verbote des Nachdrucks waren. Schiller hat es glücklicherweise nicht mehr erlebt, daß der widerrechtliche Nach¬ druck sogar theoretisch und wissenschaftlich gerechtfertigt wurde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/260>, abgerufen am 02.07.2024.