Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft.

licher Handlungen durchaus nicht in gleichem Maße unabhängig wie diese, weil
die Vorgänge im Wirtschaftsleben nicht auf die gleichen elementaren Ursachen
zurückführen wie die Naturgesetze. Der elementaren Gewalt der Naturgesetze
steht der Mensch allerdings machtlos gegenüber, nicht so den Vorgängen im
Wirtschaftsleben. Schon die von den Physiokraten zugegebene Möglichkeit, daß
sie durch menschliche Einwirkung in falsche Richtung geleitet werden könnte,
ist ein Widerspruch gegen die erste Behauptung, eine oonti-g-Äletiv in g-chsoto.
Die Entwicklung des Wirtschaftslebens ist freilich ebenso "natürlich" wie die
Kulturentwicklung des ganzen Menschengeschlechtes, die auch nicht durch
Menschenkraft künstlich hintangehalten werden kann, aber damit ist der Thätig¬
keit des Menschen und der Völker doch nicht jede Macht und jeder Spielraum
in der Leitung ihrer Geschicke entzogen. Im Kampfe um seine Existenz schützt
sich jedes Volk mit den Mitteln, die ihm Natur und Kultur im gegebenen
Augenblicke bieten, nicht nur in staatlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Be¬
ziehung. Es beugt den Gefahren, die ihm drohen, nach der zeitlichen und ört¬
lichen Zweckmäßigkeit der Lage und der Mittel vor, und es sucht sich politische
und wirtschaftliche Überlegenheit mit den gleichen Mitteln zu erringen und zu
sichern. Aber werden diese Mittel für alle Völker und für alle Zeiten die
gleichen sein? Nein. Sie werden angepaßt sein müssen der Kulturentwicklung
des Volkes und der Verschiedenheit der bestehenden Machtverhältnisse. Und
diejenigen Mittel, die diesen Umständen angepaßt sind, sind die natürlichen,
die aber weit entfernt sind von jenen "natürlichen" Mitteln, welche eine ab¬
strakte rationalistische Irrlehre preist.

Wir können also nicht zugestehen, daß auf wirtschaftlichem Gebiete jedes
bestimmende Eingreifen des Menschen nutzlos und verwerflich sei, sondern halten
es nach den Umständen des Ortes und der Zeit sogar für ein Gebot der un¬
bedingten Notwendigkeit.

Die ratio der Freihandelslehre hätte die Engländer niemals bewogen
zum Freihandel überzugehen -- sie hätten dann ja nicht so lange zu warten
brauchen --, noch weniger hätten die beiden Fabrikanten Bright und Cobden
ihre Kollegen von der Zweckmäßigkeit des Freihandels überzeugen können, wenn
nicht die englische Industrie auf einem Stande gewesen wäre, auf dem der
Freihandel nur Vorteile bringen konnte.

Der "Cobdenklub" wußte mit den Hilfsmitteln der englischen Freihandcls-
schule seiner Agitation eine so allgemeine und blendend vernunftgemäße Unter¬
lage zu geben, daß er so kosmopolitisch angelegte Naturen wie die deutsche
über seine eigentlichen Zwecke und die ihnen zu Grunde liegenden Schwächen
und Einseitigkeiten hinwegtäuschte. Auch die deutsche Freihandelsschule hat es
bis heute übersehen, daß die naturrechtliche Auffassung der Gesellschaft ihre
eigentliche Voraussetzung, daß die mit einander konkurrirenden Personen und
Kräfte gleich seien, vollkommen beiseite läßt und den Mechanismus der Volks-


Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft.

licher Handlungen durchaus nicht in gleichem Maße unabhängig wie diese, weil
die Vorgänge im Wirtschaftsleben nicht auf die gleichen elementaren Ursachen
zurückführen wie die Naturgesetze. Der elementaren Gewalt der Naturgesetze
steht der Mensch allerdings machtlos gegenüber, nicht so den Vorgängen im
Wirtschaftsleben. Schon die von den Physiokraten zugegebene Möglichkeit, daß
sie durch menschliche Einwirkung in falsche Richtung geleitet werden könnte,
ist ein Widerspruch gegen die erste Behauptung, eine oonti-g-Äletiv in g-chsoto.
Die Entwicklung des Wirtschaftslebens ist freilich ebenso „natürlich" wie die
Kulturentwicklung des ganzen Menschengeschlechtes, die auch nicht durch
Menschenkraft künstlich hintangehalten werden kann, aber damit ist der Thätig¬
keit des Menschen und der Völker doch nicht jede Macht und jeder Spielraum
in der Leitung ihrer Geschicke entzogen. Im Kampfe um seine Existenz schützt
sich jedes Volk mit den Mitteln, die ihm Natur und Kultur im gegebenen
Augenblicke bieten, nicht nur in staatlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Be¬
ziehung. Es beugt den Gefahren, die ihm drohen, nach der zeitlichen und ört¬
lichen Zweckmäßigkeit der Lage und der Mittel vor, und es sucht sich politische
und wirtschaftliche Überlegenheit mit den gleichen Mitteln zu erringen und zu
sichern. Aber werden diese Mittel für alle Völker und für alle Zeiten die
gleichen sein? Nein. Sie werden angepaßt sein müssen der Kulturentwicklung
des Volkes und der Verschiedenheit der bestehenden Machtverhältnisse. Und
diejenigen Mittel, die diesen Umständen angepaßt sind, sind die natürlichen,
die aber weit entfernt sind von jenen „natürlichen" Mitteln, welche eine ab¬
strakte rationalistische Irrlehre preist.

Wir können also nicht zugestehen, daß auf wirtschaftlichem Gebiete jedes
bestimmende Eingreifen des Menschen nutzlos und verwerflich sei, sondern halten
es nach den Umständen des Ortes und der Zeit sogar für ein Gebot der un¬
bedingten Notwendigkeit.

Die ratio der Freihandelslehre hätte die Engländer niemals bewogen
zum Freihandel überzugehen — sie hätten dann ja nicht so lange zu warten
brauchen —, noch weniger hätten die beiden Fabrikanten Bright und Cobden
ihre Kollegen von der Zweckmäßigkeit des Freihandels überzeugen können, wenn
nicht die englische Industrie auf einem Stande gewesen wäre, auf dem der
Freihandel nur Vorteile bringen konnte.

Der „Cobdenklub" wußte mit den Hilfsmitteln der englischen Freihandcls-
schule seiner Agitation eine so allgemeine und blendend vernunftgemäße Unter¬
lage zu geben, daß er so kosmopolitisch angelegte Naturen wie die deutsche
über seine eigentlichen Zwecke und die ihnen zu Grunde liegenden Schwächen
und Einseitigkeiten hinwegtäuschte. Auch die deutsche Freihandelsschule hat es
bis heute übersehen, daß die naturrechtliche Auffassung der Gesellschaft ihre
eigentliche Voraussetzung, daß die mit einander konkurrirenden Personen und
Kräfte gleich seien, vollkommen beiseite läßt und den Mechanismus der Volks-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0259" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203694"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_632" prev="#ID_631"> licher Handlungen durchaus nicht in gleichem Maße unabhängig wie diese, weil<lb/>
die Vorgänge im Wirtschaftsleben nicht auf die gleichen elementaren Ursachen<lb/>
zurückführen wie die Naturgesetze. Der elementaren Gewalt der Naturgesetze<lb/>
steht der Mensch allerdings machtlos gegenüber, nicht so den Vorgängen im<lb/>
Wirtschaftsleben. Schon die von den Physiokraten zugegebene Möglichkeit, daß<lb/>
sie durch menschliche Einwirkung in falsche Richtung geleitet werden könnte,<lb/>
ist ein Widerspruch gegen die erste Behauptung, eine oonti-g-Äletiv in g-chsoto.<lb/>
Die Entwicklung des Wirtschaftslebens ist freilich ebenso &#x201E;natürlich" wie die<lb/>
Kulturentwicklung des ganzen Menschengeschlechtes, die auch nicht durch<lb/>
Menschenkraft künstlich hintangehalten werden kann, aber damit ist der Thätig¬<lb/>
keit des Menschen und der Völker doch nicht jede Macht und jeder Spielraum<lb/>
in der Leitung ihrer Geschicke entzogen. Im Kampfe um seine Existenz schützt<lb/>
sich jedes Volk mit den Mitteln, die ihm Natur und Kultur im gegebenen<lb/>
Augenblicke bieten, nicht nur in staatlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Be¬<lb/>
ziehung. Es beugt den Gefahren, die ihm drohen, nach der zeitlichen und ört¬<lb/>
lichen Zweckmäßigkeit der Lage und der Mittel vor, und es sucht sich politische<lb/>
und wirtschaftliche Überlegenheit mit den gleichen Mitteln zu erringen und zu<lb/>
sichern. Aber werden diese Mittel für alle Völker und für alle Zeiten die<lb/>
gleichen sein? Nein. Sie werden angepaßt sein müssen der Kulturentwicklung<lb/>
des Volkes und der Verschiedenheit der bestehenden Machtverhältnisse. Und<lb/>
diejenigen Mittel, die diesen Umständen angepaßt sind, sind die natürlichen,<lb/>
die aber weit entfernt sind von jenen &#x201E;natürlichen" Mitteln, welche eine ab¬<lb/>
strakte rationalistische Irrlehre preist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_633"> Wir können also nicht zugestehen, daß auf wirtschaftlichem Gebiete jedes<lb/>
bestimmende Eingreifen des Menschen nutzlos und verwerflich sei, sondern halten<lb/>
es nach den Umständen des Ortes und der Zeit sogar für ein Gebot der un¬<lb/>
bedingten Notwendigkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_634"> Die ratio der Freihandelslehre hätte die Engländer niemals bewogen<lb/>
zum Freihandel überzugehen &#x2014; sie hätten dann ja nicht so lange zu warten<lb/>
brauchen &#x2014;, noch weniger hätten die beiden Fabrikanten Bright und Cobden<lb/>
ihre Kollegen von der Zweckmäßigkeit des Freihandels überzeugen können, wenn<lb/>
nicht die englische Industrie auf einem Stande gewesen wäre, auf dem der<lb/>
Freihandel nur Vorteile bringen konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_635" next="#ID_636"> Der &#x201E;Cobdenklub" wußte mit den Hilfsmitteln der englischen Freihandcls-<lb/>
schule seiner Agitation eine so allgemeine und blendend vernunftgemäße Unter¬<lb/>
lage zu geben, daß er so kosmopolitisch angelegte Naturen wie die deutsche<lb/>
über seine eigentlichen Zwecke und die ihnen zu Grunde liegenden Schwächen<lb/>
und Einseitigkeiten hinwegtäuschte. Auch die deutsche Freihandelsschule hat es<lb/>
bis heute übersehen, daß die naturrechtliche Auffassung der Gesellschaft ihre<lb/>
eigentliche Voraussetzung, daß die mit einander konkurrirenden Personen und<lb/>
Kräfte gleich seien, vollkommen beiseite läßt und den Mechanismus der Volks-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0259] Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft. licher Handlungen durchaus nicht in gleichem Maße unabhängig wie diese, weil die Vorgänge im Wirtschaftsleben nicht auf die gleichen elementaren Ursachen zurückführen wie die Naturgesetze. Der elementaren Gewalt der Naturgesetze steht der Mensch allerdings machtlos gegenüber, nicht so den Vorgängen im Wirtschaftsleben. Schon die von den Physiokraten zugegebene Möglichkeit, daß sie durch menschliche Einwirkung in falsche Richtung geleitet werden könnte, ist ein Widerspruch gegen die erste Behauptung, eine oonti-g-Äletiv in g-chsoto. Die Entwicklung des Wirtschaftslebens ist freilich ebenso „natürlich" wie die Kulturentwicklung des ganzen Menschengeschlechtes, die auch nicht durch Menschenkraft künstlich hintangehalten werden kann, aber damit ist der Thätig¬ keit des Menschen und der Völker doch nicht jede Macht und jeder Spielraum in der Leitung ihrer Geschicke entzogen. Im Kampfe um seine Existenz schützt sich jedes Volk mit den Mitteln, die ihm Natur und Kultur im gegebenen Augenblicke bieten, nicht nur in staatlicher, sondern auch in wirtschaftlicher Be¬ ziehung. Es beugt den Gefahren, die ihm drohen, nach der zeitlichen und ört¬ lichen Zweckmäßigkeit der Lage und der Mittel vor, und es sucht sich politische und wirtschaftliche Überlegenheit mit den gleichen Mitteln zu erringen und zu sichern. Aber werden diese Mittel für alle Völker und für alle Zeiten die gleichen sein? Nein. Sie werden angepaßt sein müssen der Kulturentwicklung des Volkes und der Verschiedenheit der bestehenden Machtverhältnisse. Und diejenigen Mittel, die diesen Umständen angepaßt sind, sind die natürlichen, die aber weit entfernt sind von jenen „natürlichen" Mitteln, welche eine ab¬ strakte rationalistische Irrlehre preist. Wir können also nicht zugestehen, daß auf wirtschaftlichem Gebiete jedes bestimmende Eingreifen des Menschen nutzlos und verwerflich sei, sondern halten es nach den Umständen des Ortes und der Zeit sogar für ein Gebot der un¬ bedingten Notwendigkeit. Die ratio der Freihandelslehre hätte die Engländer niemals bewogen zum Freihandel überzugehen — sie hätten dann ja nicht so lange zu warten brauchen —, noch weniger hätten die beiden Fabrikanten Bright und Cobden ihre Kollegen von der Zweckmäßigkeit des Freihandels überzeugen können, wenn nicht die englische Industrie auf einem Stande gewesen wäre, auf dem der Freihandel nur Vorteile bringen konnte. Der „Cobdenklub" wußte mit den Hilfsmitteln der englischen Freihandcls- schule seiner Agitation eine so allgemeine und blendend vernunftgemäße Unter¬ lage zu geben, daß er so kosmopolitisch angelegte Naturen wie die deutsche über seine eigentlichen Zwecke und die ihnen zu Grunde liegenden Schwächen und Einseitigkeiten hinwegtäuschte. Auch die deutsche Freihandelsschule hat es bis heute übersehen, daß die naturrechtliche Auffassung der Gesellschaft ihre eigentliche Voraussetzung, daß die mit einander konkurrirenden Personen und Kräfte gleich seien, vollkommen beiseite läßt und den Mechanismus der Volks-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/259
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/259>, abgerufen am 30.06.2024.