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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft.

Der deutschen Freihandelsschule war und ist gleich der englischen eigen¬
tümlich, daß sie nicht unterscheidet zwischen der Notwendigkeit der Handels¬
freiheit innerhalb des Staates und der reinen Zweckmäßigkeitsfrage der Handels¬
freiheit mit andern Staaten. Die Betrachtung beider Fragen unter ganz
gleichenWesichtspunkten verrät eine völlig mechanistische, nur äußerliches erfassende
Denkweise. Jedes Volk Hot seine eigne geschichtliche Entwicklung, die im un¬
mittelbarsten Zusammenhange steht mit seinen Charaktereigenschaften, seinen sitt¬
lichen Trieben, seinem staatlichen Verfassuugsleben, mit der Natur und den
Hilfsmitteln des Landes, welches es bewohnt u. s. w. Sollte die wirtschaft¬
liche Entwicklung eines Volkes unabhängig sein von diesen Umständen? Das
wird die oberflächlichste Betrachtungsweise nicht einräumen wollen. Der ur¬
sächliche Zusammenhang dieser Beziehungen ist so eng, daß die wirtschaftlichen
Zustände zweier Länder niemals als meßbare Größen nebeneinander gestellt
werden können. Die "internationale Arbeitsteilung" aber, welche die Frei¬
händler als Zielpunkt der Wirtschaftspolitik verkünden, ist in der extremen
Form, die ihr von ihnen gegeben wird, ein Unding und als solches schon so
häufig nachgewiesen worden, daß wir ein weiteres Wort darüber nicht zu ver¬
lieren brauchen.

Damit ein Volk seine gesamte wirtschaftliche Kraft entwickle, bedarf es der
Verkehrsfreiheit innerhalb seiner staatlichen Grenzen. Alles weitere ist Sache
der reinen Zweckmäßigkeit. Ein Volk, das in seinem Bedarf auf benachbarte
Völker angewiesen ist, kann mit diesen in einen engern Wirtschaftsverband
treten, eine gemeinsame Zollgrenze aufrichten. Aber es kann auch genötigt sein,
seine Grenzen der fremden Einfuhr ganz zu öffnen. In jedem dieser Fälle
wird nach der Lage der Umstände zu entscheiden sein, aber niemals wird dabei
der Grundsatz freien Binnenverkehrs als Beweis für die Notwendigkeit abso¬
luter Freiheit des internationalen Verkehrs für alle Staaten benutzt werden
können. Diese Frage kann auch nicht nach naturrechtlichen Abstraktionen und
Deduktionen, sondern nur auf Grund eingehender Prüfung der thatsächlichen
Verhältnisse entschieden werden. Der Freihandel wird das Ziel sein, das jedes
aufstrebende Jndustrievolk zu erreichen suchen muß, aber seine Staatsmänner
werden darauf bedacht sein müssen, daß der Übergang nicht zu frühe geschehe,
damit der Staat keinen Schaden leidet.

Wie wenig übrigens die im Mutterlande das Freihandelsprinzip so eifrig
verfechtenden Engländer auf dieser Neigung beharren, sobald sie sich in ihre
Kolonien begeben und eine Industrie begründen wollen, ist bekannt. Die Zoll¬
politik vieler englischen Kolonien ist entschieden schutzzöllnerisch, nicht zum we¬
nigsten gerade gegen die überlegene Industrie des Mutterlandes gerichtet, und
alle Lockungen des letztern, durch die Gründung eines England und alle seine
Kolonien verbindenden Zollvereines ein Llrsg.or Lritaw zu schaffen, gehen an
dem Widerstande der auf ihren wirtschaftlichen Fortschritt bedachten Kolonien


Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft.

Der deutschen Freihandelsschule war und ist gleich der englischen eigen¬
tümlich, daß sie nicht unterscheidet zwischen der Notwendigkeit der Handels¬
freiheit innerhalb des Staates und der reinen Zweckmäßigkeitsfrage der Handels¬
freiheit mit andern Staaten. Die Betrachtung beider Fragen unter ganz
gleichenWesichtspunkten verrät eine völlig mechanistische, nur äußerliches erfassende
Denkweise. Jedes Volk Hot seine eigne geschichtliche Entwicklung, die im un¬
mittelbarsten Zusammenhange steht mit seinen Charaktereigenschaften, seinen sitt¬
lichen Trieben, seinem staatlichen Verfassuugsleben, mit der Natur und den
Hilfsmitteln des Landes, welches es bewohnt u. s. w. Sollte die wirtschaft¬
liche Entwicklung eines Volkes unabhängig sein von diesen Umständen? Das
wird die oberflächlichste Betrachtungsweise nicht einräumen wollen. Der ur¬
sächliche Zusammenhang dieser Beziehungen ist so eng, daß die wirtschaftlichen
Zustände zweier Länder niemals als meßbare Größen nebeneinander gestellt
werden können. Die „internationale Arbeitsteilung" aber, welche die Frei¬
händler als Zielpunkt der Wirtschaftspolitik verkünden, ist in der extremen
Form, die ihr von ihnen gegeben wird, ein Unding und als solches schon so
häufig nachgewiesen worden, daß wir ein weiteres Wort darüber nicht zu ver¬
lieren brauchen.

Damit ein Volk seine gesamte wirtschaftliche Kraft entwickle, bedarf es der
Verkehrsfreiheit innerhalb seiner staatlichen Grenzen. Alles weitere ist Sache
der reinen Zweckmäßigkeit. Ein Volk, das in seinem Bedarf auf benachbarte
Völker angewiesen ist, kann mit diesen in einen engern Wirtschaftsverband
treten, eine gemeinsame Zollgrenze aufrichten. Aber es kann auch genötigt sein,
seine Grenzen der fremden Einfuhr ganz zu öffnen. In jedem dieser Fälle
wird nach der Lage der Umstände zu entscheiden sein, aber niemals wird dabei
der Grundsatz freien Binnenverkehrs als Beweis für die Notwendigkeit abso¬
luter Freiheit des internationalen Verkehrs für alle Staaten benutzt werden
können. Diese Frage kann auch nicht nach naturrechtlichen Abstraktionen und
Deduktionen, sondern nur auf Grund eingehender Prüfung der thatsächlichen
Verhältnisse entschieden werden. Der Freihandel wird das Ziel sein, das jedes
aufstrebende Jndustrievolk zu erreichen suchen muß, aber seine Staatsmänner
werden darauf bedacht sein müssen, daß der Übergang nicht zu frühe geschehe,
damit der Staat keinen Schaden leidet.

Wie wenig übrigens die im Mutterlande das Freihandelsprinzip so eifrig
verfechtenden Engländer auf dieser Neigung beharren, sobald sie sich in ihre
Kolonien begeben und eine Industrie begründen wollen, ist bekannt. Die Zoll¬
politik vieler englischen Kolonien ist entschieden schutzzöllnerisch, nicht zum we¬
nigsten gerade gegen die überlegene Industrie des Mutterlandes gerichtet, und
alle Lockungen des letztern, durch die Gründung eines England und alle seine
Kolonien verbindenden Zollvereines ein Llrsg.or Lritaw zu schaffen, gehen an
dem Widerstande der auf ihren wirtschaftlichen Fortschritt bedachten Kolonien


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[0261] Die Freihandelslehre in Geschichte und Wissenschaft. Der deutschen Freihandelsschule war und ist gleich der englischen eigen¬ tümlich, daß sie nicht unterscheidet zwischen der Notwendigkeit der Handels¬ freiheit innerhalb des Staates und der reinen Zweckmäßigkeitsfrage der Handels¬ freiheit mit andern Staaten. Die Betrachtung beider Fragen unter ganz gleichenWesichtspunkten verrät eine völlig mechanistische, nur äußerliches erfassende Denkweise. Jedes Volk Hot seine eigne geschichtliche Entwicklung, die im un¬ mittelbarsten Zusammenhange steht mit seinen Charaktereigenschaften, seinen sitt¬ lichen Trieben, seinem staatlichen Verfassuugsleben, mit der Natur und den Hilfsmitteln des Landes, welches es bewohnt u. s. w. Sollte die wirtschaft¬ liche Entwicklung eines Volkes unabhängig sein von diesen Umständen? Das wird die oberflächlichste Betrachtungsweise nicht einräumen wollen. Der ur¬ sächliche Zusammenhang dieser Beziehungen ist so eng, daß die wirtschaftlichen Zustände zweier Länder niemals als meßbare Größen nebeneinander gestellt werden können. Die „internationale Arbeitsteilung" aber, welche die Frei¬ händler als Zielpunkt der Wirtschaftspolitik verkünden, ist in der extremen Form, die ihr von ihnen gegeben wird, ein Unding und als solches schon so häufig nachgewiesen worden, daß wir ein weiteres Wort darüber nicht zu ver¬ lieren brauchen. Damit ein Volk seine gesamte wirtschaftliche Kraft entwickle, bedarf es der Verkehrsfreiheit innerhalb seiner staatlichen Grenzen. Alles weitere ist Sache der reinen Zweckmäßigkeit. Ein Volk, das in seinem Bedarf auf benachbarte Völker angewiesen ist, kann mit diesen in einen engern Wirtschaftsverband treten, eine gemeinsame Zollgrenze aufrichten. Aber es kann auch genötigt sein, seine Grenzen der fremden Einfuhr ganz zu öffnen. In jedem dieser Fälle wird nach der Lage der Umstände zu entscheiden sein, aber niemals wird dabei der Grundsatz freien Binnenverkehrs als Beweis für die Notwendigkeit abso¬ luter Freiheit des internationalen Verkehrs für alle Staaten benutzt werden können. Diese Frage kann auch nicht nach naturrechtlichen Abstraktionen und Deduktionen, sondern nur auf Grund eingehender Prüfung der thatsächlichen Verhältnisse entschieden werden. Der Freihandel wird das Ziel sein, das jedes aufstrebende Jndustrievolk zu erreichen suchen muß, aber seine Staatsmänner werden darauf bedacht sein müssen, daß der Übergang nicht zu frühe geschehe, damit der Staat keinen Schaden leidet. Wie wenig übrigens die im Mutterlande das Freihandelsprinzip so eifrig verfechtenden Engländer auf dieser Neigung beharren, sobald sie sich in ihre Kolonien begeben und eine Industrie begründen wollen, ist bekannt. Die Zoll¬ politik vieler englischen Kolonien ist entschieden schutzzöllnerisch, nicht zum we¬ nigsten gerade gegen die überlegene Industrie des Mutterlandes gerichtet, und alle Lockungen des letztern, durch die Gründung eines England und alle seine Kolonien verbindenden Zollvereines ein Llrsg.or Lritaw zu schaffen, gehen an dem Widerstande der auf ihren wirtschaftlichen Fortschritt bedachten Kolonien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/261>, abgerufen am 04.07.2024.