Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsverfassung und Unitarismus.

tionelle, bei den letztern eine historische. In den selbstvcrwaltenden Körperschaften,
die der Sprachgebrauch gewöhnlich so benennt, überwiegen die sozialen Inter¬
essen, in dem Charakter der deutschen Staaten, wenigstens der bedeutenderen
unter ihnen, tritt auch heute noch die politische Seite stark hervor. Doch haben
gerade infolge des Entwicklungsganges, den das deutsche Volk genommen hat,
infolge der daraus entstandenen Verbindungen und Gewohnheiten, die sozialen
Interessen, deren Pflege mit Fug der Selbstverwaltung anheimfällt, meist ihren
nächsten natürlichen Mittelpunkt da gefunden, wo auch die politische Dezentra¬
lisation den ihrigen besitzt. Der Widerspruch zwischen einer rein rationellen und
der bestehenden historisch-politischen Bildung der Selbstverwaltungskörper ist
jedenfalls bei weitem nicht so bedeutend, daß er Anlaß gäbe zu einer syste¬
matischen Untergrabung des geschichtlich gegebenen und verfassungsmäßig aner¬
kannten Bestandes. Es ist klar, daß für eine nationale Richtung auch des aus¬
geprägtesten Charakters die Frage nach Abgrenzung der Kompetenz zwischen
Reich und Einzelstaaten, sei es nun daß diese als autonome oder als nur selbst¬
verwaltende Körperschaften in Betracht kommen, in keiner Weise mehr eine Prin¬
zipienfrage sein kann, sondern nur Sache der Zweckmäßigkeit. Man wird also
zur Erledigung derartiger Fragen, wo sie etwa auftauchen, nicht eine Partei¬
macht aufzubieten suchen, man wird durch Geltendmachung guter Gründe, die
der Natur der in Betracht stehenden sachlichen Interessen entnommen sind, im
einzelnen Falle zu einer ausgleichenden Verständigung gelangen. Ein gewisser
Gegensatz der Neigung zu zentralisirender Staatsthätigkeit auf der einen Seite,
zu dezentralisirender Berücksichtigung der Gesellschaftsinteressen auf der andern
wird immer bestehen, aber in einer derartigen zentralistischen Tendenz liegt nicht
einmal der Keim verborgen zu den gegen die Grundlagen der Reichsverfassung
gerichteten Bestrebungen, die man mit dem Namen "unitarisch" bezeichnet und mit
diesem Namen gebrandmarkt glaubt. Solange die gegenwärtige soziale Ordnung
aufrecht erhalten bleibt, kann und wird es weder im Parlament noch im Volke
Deutschlands jemals eine unitarische Partei geben.

Ebenso wenig ist vom preußischen Staate, solange er seinen geschichtlichen
Charakter nicht gänzlich verändert, die Unterstützung einer derartigen Parteibe¬
strebung, auch wenn sie im Volke auftauchen sollte, jemals zu erwarten. Was
Preußen dazu vermocht hat, sein ganzes Dasein als Großmacht aufs Spiel zu
setzen, um zu einer Umwandlung des frühern Staatenbundes in einen engeren,
nationalstaatlichen Verband zu gelangen, liegt offen zu Tage. Am klarsten
hat es Fürst Bismarck in seiner auf Vundesreform dringenden Depesche vom
24. März 1866 ausgesprochen, worin er sagt: "Wenn wir Deutschlands nicht
sicher sind, ist unsre Stellung gerade wegen unsrer geographischen Lage gefährdeter,
als die der meisten andern europäischen Staaten; das Schicksal Preußens aber
wird das Schicksal Deutschlands nach sich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß,
wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutschland an der Politik der


Reichsverfassung und Unitarismus.

tionelle, bei den letztern eine historische. In den selbstvcrwaltenden Körperschaften,
die der Sprachgebrauch gewöhnlich so benennt, überwiegen die sozialen Inter¬
essen, in dem Charakter der deutschen Staaten, wenigstens der bedeutenderen
unter ihnen, tritt auch heute noch die politische Seite stark hervor. Doch haben
gerade infolge des Entwicklungsganges, den das deutsche Volk genommen hat,
infolge der daraus entstandenen Verbindungen und Gewohnheiten, die sozialen
Interessen, deren Pflege mit Fug der Selbstverwaltung anheimfällt, meist ihren
nächsten natürlichen Mittelpunkt da gefunden, wo auch die politische Dezentra¬
lisation den ihrigen besitzt. Der Widerspruch zwischen einer rein rationellen und
der bestehenden historisch-politischen Bildung der Selbstverwaltungskörper ist
jedenfalls bei weitem nicht so bedeutend, daß er Anlaß gäbe zu einer syste¬
matischen Untergrabung des geschichtlich gegebenen und verfassungsmäßig aner¬
kannten Bestandes. Es ist klar, daß für eine nationale Richtung auch des aus¬
geprägtesten Charakters die Frage nach Abgrenzung der Kompetenz zwischen
Reich und Einzelstaaten, sei es nun daß diese als autonome oder als nur selbst¬
verwaltende Körperschaften in Betracht kommen, in keiner Weise mehr eine Prin¬
zipienfrage sein kann, sondern nur Sache der Zweckmäßigkeit. Man wird also
zur Erledigung derartiger Fragen, wo sie etwa auftauchen, nicht eine Partei¬
macht aufzubieten suchen, man wird durch Geltendmachung guter Gründe, die
der Natur der in Betracht stehenden sachlichen Interessen entnommen sind, im
einzelnen Falle zu einer ausgleichenden Verständigung gelangen. Ein gewisser
Gegensatz der Neigung zu zentralisirender Staatsthätigkeit auf der einen Seite,
zu dezentralisirender Berücksichtigung der Gesellschaftsinteressen auf der andern
wird immer bestehen, aber in einer derartigen zentralistischen Tendenz liegt nicht
einmal der Keim verborgen zu den gegen die Grundlagen der Reichsverfassung
gerichteten Bestrebungen, die man mit dem Namen „unitarisch" bezeichnet und mit
diesem Namen gebrandmarkt glaubt. Solange die gegenwärtige soziale Ordnung
aufrecht erhalten bleibt, kann und wird es weder im Parlament noch im Volke
Deutschlands jemals eine unitarische Partei geben.

Ebenso wenig ist vom preußischen Staate, solange er seinen geschichtlichen
Charakter nicht gänzlich verändert, die Unterstützung einer derartigen Parteibe¬
strebung, auch wenn sie im Volke auftauchen sollte, jemals zu erwarten. Was
Preußen dazu vermocht hat, sein ganzes Dasein als Großmacht aufs Spiel zu
setzen, um zu einer Umwandlung des frühern Staatenbundes in einen engeren,
nationalstaatlichen Verband zu gelangen, liegt offen zu Tage. Am klarsten
hat es Fürst Bismarck in seiner auf Vundesreform dringenden Depesche vom
24. März 1866 ausgesprochen, worin er sagt: „Wenn wir Deutschlands nicht
sicher sind, ist unsre Stellung gerade wegen unsrer geographischen Lage gefährdeter,
als die der meisten andern europäischen Staaten; das Schicksal Preußens aber
wird das Schicksal Deutschlands nach sich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß,
wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutschland an der Politik der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0256" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203691"/>
          <fw type="header" place="top"> Reichsverfassung und Unitarismus.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_626" prev="#ID_625"> tionelle, bei den letztern eine historische. In den selbstvcrwaltenden Körperschaften,<lb/>
die der Sprachgebrauch gewöhnlich so benennt, überwiegen die sozialen Inter¬<lb/>
essen, in dem Charakter der deutschen Staaten, wenigstens der bedeutenderen<lb/>
unter ihnen, tritt auch heute noch die politische Seite stark hervor. Doch haben<lb/>
gerade infolge des Entwicklungsganges, den das deutsche Volk genommen hat,<lb/>
infolge der daraus entstandenen Verbindungen und Gewohnheiten, die sozialen<lb/>
Interessen, deren Pflege mit Fug der Selbstverwaltung anheimfällt, meist ihren<lb/>
nächsten natürlichen Mittelpunkt da gefunden, wo auch die politische Dezentra¬<lb/>
lisation den ihrigen besitzt. Der Widerspruch zwischen einer rein rationellen und<lb/>
der bestehenden historisch-politischen Bildung der Selbstverwaltungskörper ist<lb/>
jedenfalls bei weitem nicht so bedeutend, daß er Anlaß gäbe zu einer syste¬<lb/>
matischen Untergrabung des geschichtlich gegebenen und verfassungsmäßig aner¬<lb/>
kannten Bestandes. Es ist klar, daß für eine nationale Richtung auch des aus¬<lb/>
geprägtesten Charakters die Frage nach Abgrenzung der Kompetenz zwischen<lb/>
Reich und Einzelstaaten, sei es nun daß diese als autonome oder als nur selbst¬<lb/>
verwaltende Körperschaften in Betracht kommen, in keiner Weise mehr eine Prin¬<lb/>
zipienfrage sein kann, sondern nur Sache der Zweckmäßigkeit. Man wird also<lb/>
zur Erledigung derartiger Fragen, wo sie etwa auftauchen, nicht eine Partei¬<lb/>
macht aufzubieten suchen, man wird durch Geltendmachung guter Gründe, die<lb/>
der Natur der in Betracht stehenden sachlichen Interessen entnommen sind, im<lb/>
einzelnen Falle zu einer ausgleichenden Verständigung gelangen. Ein gewisser<lb/>
Gegensatz der Neigung zu zentralisirender Staatsthätigkeit auf der einen Seite,<lb/>
zu dezentralisirender Berücksichtigung der Gesellschaftsinteressen auf der andern<lb/>
wird immer bestehen, aber in einer derartigen zentralistischen Tendenz liegt nicht<lb/>
einmal der Keim verborgen zu den gegen die Grundlagen der Reichsverfassung<lb/>
gerichteten Bestrebungen, die man mit dem Namen &#x201E;unitarisch" bezeichnet und mit<lb/>
diesem Namen gebrandmarkt glaubt. Solange die gegenwärtige soziale Ordnung<lb/>
aufrecht erhalten bleibt, kann und wird es weder im Parlament noch im Volke<lb/>
Deutschlands jemals eine unitarische Partei geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_627" next="#ID_628"> Ebenso wenig ist vom preußischen Staate, solange er seinen geschichtlichen<lb/>
Charakter nicht gänzlich verändert, die Unterstützung einer derartigen Parteibe¬<lb/>
strebung, auch wenn sie im Volke auftauchen sollte, jemals zu erwarten. Was<lb/>
Preußen dazu vermocht hat, sein ganzes Dasein als Großmacht aufs Spiel zu<lb/>
setzen, um zu einer Umwandlung des frühern Staatenbundes in einen engeren,<lb/>
nationalstaatlichen Verband zu gelangen, liegt offen zu Tage. Am klarsten<lb/>
hat es Fürst Bismarck in seiner auf Vundesreform dringenden Depesche vom<lb/>
24. März 1866 ausgesprochen, worin er sagt: &#x201E;Wenn wir Deutschlands nicht<lb/>
sicher sind, ist unsre Stellung gerade wegen unsrer geographischen Lage gefährdeter,<lb/>
als die der meisten andern europäischen Staaten; das Schicksal Preußens aber<lb/>
wird das Schicksal Deutschlands nach sich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß,<lb/>
wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutschland an der Politik der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0256] Reichsverfassung und Unitarismus. tionelle, bei den letztern eine historische. In den selbstvcrwaltenden Körperschaften, die der Sprachgebrauch gewöhnlich so benennt, überwiegen die sozialen Inter¬ essen, in dem Charakter der deutschen Staaten, wenigstens der bedeutenderen unter ihnen, tritt auch heute noch die politische Seite stark hervor. Doch haben gerade infolge des Entwicklungsganges, den das deutsche Volk genommen hat, infolge der daraus entstandenen Verbindungen und Gewohnheiten, die sozialen Interessen, deren Pflege mit Fug der Selbstverwaltung anheimfällt, meist ihren nächsten natürlichen Mittelpunkt da gefunden, wo auch die politische Dezentra¬ lisation den ihrigen besitzt. Der Widerspruch zwischen einer rein rationellen und der bestehenden historisch-politischen Bildung der Selbstverwaltungskörper ist jedenfalls bei weitem nicht so bedeutend, daß er Anlaß gäbe zu einer syste¬ matischen Untergrabung des geschichtlich gegebenen und verfassungsmäßig aner¬ kannten Bestandes. Es ist klar, daß für eine nationale Richtung auch des aus¬ geprägtesten Charakters die Frage nach Abgrenzung der Kompetenz zwischen Reich und Einzelstaaten, sei es nun daß diese als autonome oder als nur selbst¬ verwaltende Körperschaften in Betracht kommen, in keiner Weise mehr eine Prin¬ zipienfrage sein kann, sondern nur Sache der Zweckmäßigkeit. Man wird also zur Erledigung derartiger Fragen, wo sie etwa auftauchen, nicht eine Partei¬ macht aufzubieten suchen, man wird durch Geltendmachung guter Gründe, die der Natur der in Betracht stehenden sachlichen Interessen entnommen sind, im einzelnen Falle zu einer ausgleichenden Verständigung gelangen. Ein gewisser Gegensatz der Neigung zu zentralisirender Staatsthätigkeit auf der einen Seite, zu dezentralisirender Berücksichtigung der Gesellschaftsinteressen auf der andern wird immer bestehen, aber in einer derartigen zentralistischen Tendenz liegt nicht einmal der Keim verborgen zu den gegen die Grundlagen der Reichsverfassung gerichteten Bestrebungen, die man mit dem Namen „unitarisch" bezeichnet und mit diesem Namen gebrandmarkt glaubt. Solange die gegenwärtige soziale Ordnung aufrecht erhalten bleibt, kann und wird es weder im Parlament noch im Volke Deutschlands jemals eine unitarische Partei geben. Ebenso wenig ist vom preußischen Staate, solange er seinen geschichtlichen Charakter nicht gänzlich verändert, die Unterstützung einer derartigen Parteibe¬ strebung, auch wenn sie im Volke auftauchen sollte, jemals zu erwarten. Was Preußen dazu vermocht hat, sein ganzes Dasein als Großmacht aufs Spiel zu setzen, um zu einer Umwandlung des frühern Staatenbundes in einen engeren, nationalstaatlichen Verband zu gelangen, liegt offen zu Tage. Am klarsten hat es Fürst Bismarck in seiner auf Vundesreform dringenden Depesche vom 24. März 1866 ausgesprochen, worin er sagt: „Wenn wir Deutschlands nicht sicher sind, ist unsre Stellung gerade wegen unsrer geographischen Lage gefährdeter, als die der meisten andern europäischen Staaten; das Schicksal Preußens aber wird das Schicksal Deutschlands nach sich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß, wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutschland an der Politik der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/256
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/256>, abgerufen am 02.07.2024.