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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Reichsverfassung und Unitarismus.

liebe Abbröckelung müßte die Autonomie mehr und mehr zusammenschwinden
und in bloße Selbstverwaltungsstellung übergehen; wo aber bisher Selbstver-
waltungsthätigkcit der Einzelstaaten bestanden hätte, müßte solche allmählich
der Verwaltung durch das Reich Platz machen. Eine Partei, zu deren wesent¬
lichen Grundsätzen es gehört, einem derartigen Prozesse Vorschub zu leisten,
müßte eine unitarische genannt werden. Die Frage ist: Besteht im deutschen
Reiche eine solche unitarische Parteirichtung? Kann in absehbarer Zeit eine solche
entstehen? Eine entschieden verneinende Antwort zu begründen, dürfte nicht allzu
schwierig sein. Der Vorwurf des Unitarismus wird nur erhoben gegen Männer,
die der nationalen Richtung angehören. Sie, die der Begründung der natio¬
nalen Einheit, wie sie sich in der Reichsverfassung darstellt, Beifall gezollt, viel¬
leicht persönlich dabei mitgewirkt haben, sollen -- so wird angenommen --
nicht befriedigt sein durch das, was verfassungsmäßig zu Rechte besteht, sondern
darüber hinaus nach größrer Zentralisation Deutschlands streben und zwar
grundsätzlich und planmäßig. Ein Blick auf die Geschichte der nationalen Be¬
wegung in Deutschland seit den vierziger Jahren beweist unwidersprechlich, daß
diese ihre lebhaftesten und stärksten Antriebe erhielt aus den materiellen und
geistigen Interessen des Bürgertums. Die Macht der nationalen Idee als solcher
stieg und fiel mit dem Ansehen und der Macht des deutschen Bürgertums.
Das Bürgertum ist aber zugleich der Träger des Liberalismus im weitesten
Sinne des Wortes. In den sozialen Interessen und Anschauungen des Bürger¬
tums wurzelt die Staatsgesinnung, die man als liberal zu bezeichnen pflegt;
der Liberalismus ist die Staatsphilosophie der bürgerlichen Klasse. Aus der
Vielfältigkeit der Bestrebungen des Bürgerstandes als erwerbender Klasse ergiebt
sich mit Notwendigkeit ein Bestreben desselben, im Staate sür die einzelnen
Interessen und Interessengruppen, für deren Bildung und Bethätigung, den
freiesten Spielraum zu finden. Aus diesem Bedürfnis und recht eigentlich aus
der liberalen Grundidee ist auch das Streben nach Selbstverwaltung hervor¬
gegangen, die eine besondre Art der staatlichen Dezentralisation ist. Es folgt
also: die Dezentralisation liegt in der Idee des Liberalismus. Der Selbstver¬
waltungsgedanke gehört ganz ebenso und in ebenso grundlegender Weise wie
die nationale Idee zum politischen Programm des Bürgertums. In den aller¬
ersten Regungen der nationalstaatlichen Idee, wie sie sich in dem verjüngten
Deutschland unsrer Zeit gestaltet hat, zeigt sich ein vorahnendes Bewußtsein
hiervon. Paul Pfizer preist im "Briefwechsel zweier Deutschen" die dezentra-
lisirende Tendenz der preußischen Provinzialverfassung als einen besonders gün¬
stigen Umstand für die künftige Zusammenfassung des gesamten Deutschlands.

Nun besteht allerdings auch ein unverkennbarer Unterschied zwischen den
Selbstverwaltungskörpern des einfachen Staates und dem Charakter der deut¬
schen Staaten in den Beziehungen, in welchen sie Selbstverwaltungskörper des
Reiches genannt werden können. Die Abgrenzung ist bei den erstem eine ra-


Reichsverfassung und Unitarismus.

liebe Abbröckelung müßte die Autonomie mehr und mehr zusammenschwinden
und in bloße Selbstverwaltungsstellung übergehen; wo aber bisher Selbstver-
waltungsthätigkcit der Einzelstaaten bestanden hätte, müßte solche allmählich
der Verwaltung durch das Reich Platz machen. Eine Partei, zu deren wesent¬
lichen Grundsätzen es gehört, einem derartigen Prozesse Vorschub zu leisten,
müßte eine unitarische genannt werden. Die Frage ist: Besteht im deutschen
Reiche eine solche unitarische Parteirichtung? Kann in absehbarer Zeit eine solche
entstehen? Eine entschieden verneinende Antwort zu begründen, dürfte nicht allzu
schwierig sein. Der Vorwurf des Unitarismus wird nur erhoben gegen Männer,
die der nationalen Richtung angehören. Sie, die der Begründung der natio¬
nalen Einheit, wie sie sich in der Reichsverfassung darstellt, Beifall gezollt, viel¬
leicht persönlich dabei mitgewirkt haben, sollen — so wird angenommen —
nicht befriedigt sein durch das, was verfassungsmäßig zu Rechte besteht, sondern
darüber hinaus nach größrer Zentralisation Deutschlands streben und zwar
grundsätzlich und planmäßig. Ein Blick auf die Geschichte der nationalen Be¬
wegung in Deutschland seit den vierziger Jahren beweist unwidersprechlich, daß
diese ihre lebhaftesten und stärksten Antriebe erhielt aus den materiellen und
geistigen Interessen des Bürgertums. Die Macht der nationalen Idee als solcher
stieg und fiel mit dem Ansehen und der Macht des deutschen Bürgertums.
Das Bürgertum ist aber zugleich der Träger des Liberalismus im weitesten
Sinne des Wortes. In den sozialen Interessen und Anschauungen des Bürger¬
tums wurzelt die Staatsgesinnung, die man als liberal zu bezeichnen pflegt;
der Liberalismus ist die Staatsphilosophie der bürgerlichen Klasse. Aus der
Vielfältigkeit der Bestrebungen des Bürgerstandes als erwerbender Klasse ergiebt
sich mit Notwendigkeit ein Bestreben desselben, im Staate sür die einzelnen
Interessen und Interessengruppen, für deren Bildung und Bethätigung, den
freiesten Spielraum zu finden. Aus diesem Bedürfnis und recht eigentlich aus
der liberalen Grundidee ist auch das Streben nach Selbstverwaltung hervor¬
gegangen, die eine besondre Art der staatlichen Dezentralisation ist. Es folgt
also: die Dezentralisation liegt in der Idee des Liberalismus. Der Selbstver¬
waltungsgedanke gehört ganz ebenso und in ebenso grundlegender Weise wie
die nationale Idee zum politischen Programm des Bürgertums. In den aller¬
ersten Regungen der nationalstaatlichen Idee, wie sie sich in dem verjüngten
Deutschland unsrer Zeit gestaltet hat, zeigt sich ein vorahnendes Bewußtsein
hiervon. Paul Pfizer preist im „Briefwechsel zweier Deutschen" die dezentra-
lisirende Tendenz der preußischen Provinzialverfassung als einen besonders gün¬
stigen Umstand für die künftige Zusammenfassung des gesamten Deutschlands.

Nun besteht allerdings auch ein unverkennbarer Unterschied zwischen den
Selbstverwaltungskörpern des einfachen Staates und dem Charakter der deut¬
schen Staaten in den Beziehungen, in welchen sie Selbstverwaltungskörper des
Reiches genannt werden können. Die Abgrenzung ist bei den erstem eine ra-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/255>, abgerufen am 04.07.2024.