Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsverfassung und Unitarismus.

artige juristische Grundsätze und die daraus logisch sich ergebenden Möglich¬
keiten festzustellen, ist für die staatsrechtliche Konstruktion von nicht zu unter¬
schätzender Bedeutung, für die politische Betrachtung giebt es aber andre Ge¬
sichtspunkte, die der thatsächlichen Wirklichkeit der Dinge entnommen sind.

In dieser Hinsicht genügt es nicht, die staatsrechtliche Natur des Reiches
an sich und die daraus sich ergebenden Folgesätze ins Auge zu fassen. Eine
nähere Betrachtung der Beziehungen, in denen die Einzelstaaten zur Reichs¬
gewalt stehen, ist unumgänglich nötig. Die Gliedstaaten des Reiches bilden, in
ihrer Gesamtheit genommen, den Souverän desselben, auf der andern Seite
sind sie auch wieder die Unterthanen des Reiches. Das Reich besitzt 25 unmit¬
telbare Unterthanen. Dies ist der Kern des staatsrechtlichen Verhältnisses, wie
es durch die Reichsverfassung geschaffen ist. Die Ausübung der Oberstaats-
gcwalt durch das Reich erfolgt aber auf dreifache Weise. Auf einzelnen Ge¬
bieten der staatlichen Bethätigung sind die Mitgliedstaaten ganz außer Wirk¬
samkeit gesetzt. Das Reich erfüllt die nationalen Aufgaben mit seinen eignen
Hilfsmitteln und macht die ihm zustehenden Rechte selbständig und unmittelbar
geltend. Das ist zunächst bezüglich der Reichsgesetzgebung der Fall, indem die
einzelnen Gesetze ihre verbindliche Kraft durch Verkündigung von Reichs wegen
erhalten. Sodann aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung:
auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere Post- und Telegraphenverwaltung
u. s. w. Hier hat das Reich zur Ausübung seiner Lebensthätigkeit sich seinen
eignen Apparat geschaffen, der Kreis der den Einzelstaaten verbliebenen Auf¬
gaben und ihrer dazu erforderlichen Befugnisse ist um ebensoviel verengt. Die
Landesgrenzen bezeichnen hier keine Abgrenzung verschiedener staatlicher Wil¬
lensbereiche, sondern höchstens noch geographische Scheidelinien für Verwaltungs¬
bezirke, in denen das Reich mit eignen Mitteln und unmittelbar seine staatliche
Thätigkeit entfaltet. Im geraden Gegensatz hierzu haben auf andern Gebieten
öffentlich-rechtlicher Thätigkeit die Einzelstaaten sich im Besitze einer kraft
eignen Rechtes ihnen zustehenden Fülle von obrigkeitlichen Befugnissen und
staatlicher Macht erhalten. Die Einzelstaaten sind in dieser Hinsicht nicht Or¬
gane des Reiches, die mit der Durchführung des im Gesetz geäußerten Willens
der Reichsgewalt betraut wären. Sie sind noch Staaten im vollen Sinne des
Wortes, wenn auch nicht souveräne Staaten. Sie befinden sich im Rahmen
der höhern Gewalt des Reiches, ihre Lebensthätigkeit vollzieht sich innerhalb
der Reichsverfassung, aber für eine Reihe sehr wichtiger Äußerungen dieser
Lebensthätigkeit sind sie autonom, es ist ihnen das Gesetzgebungsrecht und das
im Recht staatlicher Initiative begründete eigentliche Regierungsrecht verblieben.
Weder das Gesetzgebung^ noch das Aufsichtsrecht des Reiches erstreckt sich
auf sie in ihrer Bethätigung bezüglich ihrer innern Organisation, der Ordnung
des Thronfolgerechtes, bezüglich der direkten Steuern, des Unterrichtswesens
u. s. w. In allen diesen Dingen beschränkt sich das Reich auf die negative


Reichsverfassung und Unitarismus.

artige juristische Grundsätze und die daraus logisch sich ergebenden Möglich¬
keiten festzustellen, ist für die staatsrechtliche Konstruktion von nicht zu unter¬
schätzender Bedeutung, für die politische Betrachtung giebt es aber andre Ge¬
sichtspunkte, die der thatsächlichen Wirklichkeit der Dinge entnommen sind.

In dieser Hinsicht genügt es nicht, die staatsrechtliche Natur des Reiches
an sich und die daraus sich ergebenden Folgesätze ins Auge zu fassen. Eine
nähere Betrachtung der Beziehungen, in denen die Einzelstaaten zur Reichs¬
gewalt stehen, ist unumgänglich nötig. Die Gliedstaaten des Reiches bilden, in
ihrer Gesamtheit genommen, den Souverän desselben, auf der andern Seite
sind sie auch wieder die Unterthanen des Reiches. Das Reich besitzt 25 unmit¬
telbare Unterthanen. Dies ist der Kern des staatsrechtlichen Verhältnisses, wie
es durch die Reichsverfassung geschaffen ist. Die Ausübung der Oberstaats-
gcwalt durch das Reich erfolgt aber auf dreifache Weise. Auf einzelnen Ge¬
bieten der staatlichen Bethätigung sind die Mitgliedstaaten ganz außer Wirk¬
samkeit gesetzt. Das Reich erfüllt die nationalen Aufgaben mit seinen eignen
Hilfsmitteln und macht die ihm zustehenden Rechte selbständig und unmittelbar
geltend. Das ist zunächst bezüglich der Reichsgesetzgebung der Fall, indem die
einzelnen Gesetze ihre verbindliche Kraft durch Verkündigung von Reichs wegen
erhalten. Sodann aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung:
auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere Post- und Telegraphenverwaltung
u. s. w. Hier hat das Reich zur Ausübung seiner Lebensthätigkeit sich seinen
eignen Apparat geschaffen, der Kreis der den Einzelstaaten verbliebenen Auf¬
gaben und ihrer dazu erforderlichen Befugnisse ist um ebensoviel verengt. Die
Landesgrenzen bezeichnen hier keine Abgrenzung verschiedener staatlicher Wil¬
lensbereiche, sondern höchstens noch geographische Scheidelinien für Verwaltungs¬
bezirke, in denen das Reich mit eignen Mitteln und unmittelbar seine staatliche
Thätigkeit entfaltet. Im geraden Gegensatz hierzu haben auf andern Gebieten
öffentlich-rechtlicher Thätigkeit die Einzelstaaten sich im Besitze einer kraft
eignen Rechtes ihnen zustehenden Fülle von obrigkeitlichen Befugnissen und
staatlicher Macht erhalten. Die Einzelstaaten sind in dieser Hinsicht nicht Or¬
gane des Reiches, die mit der Durchführung des im Gesetz geäußerten Willens
der Reichsgewalt betraut wären. Sie sind noch Staaten im vollen Sinne des
Wortes, wenn auch nicht souveräne Staaten. Sie befinden sich im Rahmen
der höhern Gewalt des Reiches, ihre Lebensthätigkeit vollzieht sich innerhalb
der Reichsverfassung, aber für eine Reihe sehr wichtiger Äußerungen dieser
Lebensthätigkeit sind sie autonom, es ist ihnen das Gesetzgebungsrecht und das
im Recht staatlicher Initiative begründete eigentliche Regierungsrecht verblieben.
Weder das Gesetzgebung^ noch das Aufsichtsrecht des Reiches erstreckt sich
auf sie in ihrer Bethätigung bezüglich ihrer innern Organisation, der Ordnung
des Thronfolgerechtes, bezüglich der direkten Steuern, des Unterrichtswesens
u. s. w. In allen diesen Dingen beschränkt sich das Reich auf die negative


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0253" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203688"/>
          <fw type="header" place="top"> Reichsverfassung und Unitarismus.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_620" prev="#ID_619"> artige juristische Grundsätze und die daraus logisch sich ergebenden Möglich¬<lb/>
keiten festzustellen, ist für die staatsrechtliche Konstruktion von nicht zu unter¬<lb/>
schätzender Bedeutung, für die politische Betrachtung giebt es aber andre Ge¬<lb/>
sichtspunkte, die der thatsächlichen Wirklichkeit der Dinge entnommen sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_621" next="#ID_622"> In dieser Hinsicht genügt es nicht, die staatsrechtliche Natur des Reiches<lb/>
an sich und die daraus sich ergebenden Folgesätze ins Auge zu fassen. Eine<lb/>
nähere Betrachtung der Beziehungen, in denen die Einzelstaaten zur Reichs¬<lb/>
gewalt stehen, ist unumgänglich nötig. Die Gliedstaaten des Reiches bilden, in<lb/>
ihrer Gesamtheit genommen, den Souverän desselben, auf der andern Seite<lb/>
sind sie auch wieder die Unterthanen des Reiches. Das Reich besitzt 25 unmit¬<lb/>
telbare Unterthanen. Dies ist der Kern des staatsrechtlichen Verhältnisses, wie<lb/>
es durch die Reichsverfassung geschaffen ist. Die Ausübung der Oberstaats-<lb/>
gcwalt durch das Reich erfolgt aber auf dreifache Weise. Auf einzelnen Ge¬<lb/>
bieten der staatlichen Bethätigung sind die Mitgliedstaaten ganz außer Wirk¬<lb/>
samkeit gesetzt. Das Reich erfüllt die nationalen Aufgaben mit seinen eignen<lb/>
Hilfsmitteln und macht die ihm zustehenden Rechte selbständig und unmittelbar<lb/>
geltend. Das ist zunächst bezüglich der Reichsgesetzgebung der Fall, indem die<lb/>
einzelnen Gesetze ihre verbindliche Kraft durch Verkündigung von Reichs wegen<lb/>
erhalten. Sodann aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung:<lb/>
auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere Post- und Telegraphenverwaltung<lb/>
u. s. w. Hier hat das Reich zur Ausübung seiner Lebensthätigkeit sich seinen<lb/>
eignen Apparat geschaffen, der Kreis der den Einzelstaaten verbliebenen Auf¬<lb/>
gaben und ihrer dazu erforderlichen Befugnisse ist um ebensoviel verengt. Die<lb/>
Landesgrenzen bezeichnen hier keine Abgrenzung verschiedener staatlicher Wil¬<lb/>
lensbereiche, sondern höchstens noch geographische Scheidelinien für Verwaltungs¬<lb/>
bezirke, in denen das Reich mit eignen Mitteln und unmittelbar seine staatliche<lb/>
Thätigkeit entfaltet. Im geraden Gegensatz hierzu haben auf andern Gebieten<lb/>
öffentlich-rechtlicher Thätigkeit die Einzelstaaten sich im Besitze einer kraft<lb/>
eignen Rechtes ihnen zustehenden Fülle von obrigkeitlichen Befugnissen und<lb/>
staatlicher Macht erhalten. Die Einzelstaaten sind in dieser Hinsicht nicht Or¬<lb/>
gane des Reiches, die mit der Durchführung des im Gesetz geäußerten Willens<lb/>
der Reichsgewalt betraut wären. Sie sind noch Staaten im vollen Sinne des<lb/>
Wortes, wenn auch nicht souveräne Staaten. Sie befinden sich im Rahmen<lb/>
der höhern Gewalt des Reiches, ihre Lebensthätigkeit vollzieht sich innerhalb<lb/>
der Reichsverfassung, aber für eine Reihe sehr wichtiger Äußerungen dieser<lb/>
Lebensthätigkeit sind sie autonom, es ist ihnen das Gesetzgebungsrecht und das<lb/>
im Recht staatlicher Initiative begründete eigentliche Regierungsrecht verblieben.<lb/>
Weder das Gesetzgebung^ noch das Aufsichtsrecht des Reiches erstreckt sich<lb/>
auf sie in ihrer Bethätigung bezüglich ihrer innern Organisation, der Ordnung<lb/>
des Thronfolgerechtes, bezüglich der direkten Steuern, des Unterrichtswesens<lb/>
u. s. w. In allen diesen Dingen beschränkt sich das Reich auf die negative</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0253] Reichsverfassung und Unitarismus. artige juristische Grundsätze und die daraus logisch sich ergebenden Möglich¬ keiten festzustellen, ist für die staatsrechtliche Konstruktion von nicht zu unter¬ schätzender Bedeutung, für die politische Betrachtung giebt es aber andre Ge¬ sichtspunkte, die der thatsächlichen Wirklichkeit der Dinge entnommen sind. In dieser Hinsicht genügt es nicht, die staatsrechtliche Natur des Reiches an sich und die daraus sich ergebenden Folgesätze ins Auge zu fassen. Eine nähere Betrachtung der Beziehungen, in denen die Einzelstaaten zur Reichs¬ gewalt stehen, ist unumgänglich nötig. Die Gliedstaaten des Reiches bilden, in ihrer Gesamtheit genommen, den Souverän desselben, auf der andern Seite sind sie auch wieder die Unterthanen des Reiches. Das Reich besitzt 25 unmit¬ telbare Unterthanen. Dies ist der Kern des staatsrechtlichen Verhältnisses, wie es durch die Reichsverfassung geschaffen ist. Die Ausübung der Oberstaats- gcwalt durch das Reich erfolgt aber auf dreifache Weise. Auf einzelnen Ge¬ bieten der staatlichen Bethätigung sind die Mitgliedstaaten ganz außer Wirk¬ samkeit gesetzt. Das Reich erfüllt die nationalen Aufgaben mit seinen eignen Hilfsmitteln und macht die ihm zustehenden Rechte selbständig und unmittelbar geltend. Das ist zunächst bezüglich der Reichsgesetzgebung der Fall, indem die einzelnen Gesetze ihre verbindliche Kraft durch Verkündigung von Reichs wegen erhalten. Sodann aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung: auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere Post- und Telegraphenverwaltung u. s. w. Hier hat das Reich zur Ausübung seiner Lebensthätigkeit sich seinen eignen Apparat geschaffen, der Kreis der den Einzelstaaten verbliebenen Auf¬ gaben und ihrer dazu erforderlichen Befugnisse ist um ebensoviel verengt. Die Landesgrenzen bezeichnen hier keine Abgrenzung verschiedener staatlicher Wil¬ lensbereiche, sondern höchstens noch geographische Scheidelinien für Verwaltungs¬ bezirke, in denen das Reich mit eignen Mitteln und unmittelbar seine staatliche Thätigkeit entfaltet. Im geraden Gegensatz hierzu haben auf andern Gebieten öffentlich-rechtlicher Thätigkeit die Einzelstaaten sich im Besitze einer kraft eignen Rechtes ihnen zustehenden Fülle von obrigkeitlichen Befugnissen und staatlicher Macht erhalten. Die Einzelstaaten sind in dieser Hinsicht nicht Or¬ gane des Reiches, die mit der Durchführung des im Gesetz geäußerten Willens der Reichsgewalt betraut wären. Sie sind noch Staaten im vollen Sinne des Wortes, wenn auch nicht souveräne Staaten. Sie befinden sich im Rahmen der höhern Gewalt des Reiches, ihre Lebensthätigkeit vollzieht sich innerhalb der Reichsverfassung, aber für eine Reihe sehr wichtiger Äußerungen dieser Lebensthätigkeit sind sie autonom, es ist ihnen das Gesetzgebungsrecht und das im Recht staatlicher Initiative begründete eigentliche Regierungsrecht verblieben. Weder das Gesetzgebung^ noch das Aufsichtsrecht des Reiches erstreckt sich auf sie in ihrer Bethätigung bezüglich ihrer innern Organisation, der Ordnung des Thronfolgerechtes, bezüglich der direkten Steuern, des Unterrichtswesens u. s. w. In allen diesen Dingen beschränkt sich das Reich auf die negative

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/253
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/253>, abgerufen am 03.07.2024.