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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Reichsverfassung und Umtarismus.

eine politische Richtung, die mit der im bundesstaatlichen Reiche vorhandenen
Konzentration der nationalen Kraft sich nicht zufrieden giebt, sondern, kurz
gesagt, es auf eine Verpreußung Deutschlands abgesehen hat. Der heutige Uni¬
tarismus würde also nichts andres sein, als eine Politik, die zum Ziele hat
die Aufsaugung der Neichsinstitutionen durch die führende Macht Preußen.

Träumen und wünschen kann jeder einzelne für sich; um Politik zu
treiben, die Beachtung finden kann, muß er sich entweder mit einer erheblichen
Anzahl andrer zur Erreichung der gleichen staatlichen Zwecke verbinden, oder
er muß im Staate eine rechtliche Stellung einnehmen, die seine politische
Ansicht und Willensrichtung zu einer für die Gesamtheit erheblichen macht.
Wenn also dem Unitarismus irgendwelche Bedeutung zukommen sollte, so müßte
er entweder den Grundgedanken abgeben zu einer ins Gewicht fallenden Partei¬
bildung, oder er müßte bei deu Lenkern des preußischen Staates auf Beifall
zu rechnen haben. Das beides in absehbarer Zeit -- mit ihr allein befaßt
sich die Realpolitik -- nicht der Fall sein kann, dafür läßt sich der über¬
zeugende Beweis folgern aus den Thatsachen, welche die Reichsverfassung
selber liefert.

Bei der Begründung des Norddeutschen Bundes und dem Hinzutritt der
süddeutschen Staaten standen sich die bis dahin souveränen deutschen Staaten
als völlig gleichberechtigte Persönlichkeiten gegenüber. Das Bundesverhältnis,
in das sie getreten sind, der bundesstaatliche Charakter des Reiches, beruht
eben auf Anerkennung dieser Gleichberechtigung. Die Mitgliedschaftsrechte sind
grundsätzlich für alle Staaten gleich in dem Sinne, daß auf alle Staaten die¬
selben Rechtsregeln Anwendung finden. Es folgt daraus als allgemeines Prinzip
für die Reichsgesetzgebung, daß jede Abweichung von der Gleichberechtigung zu
Ungunsten eines oder einzelner Mitglieder des Reiches deren besondre Zustim¬
mung erfordert. Es dürfte überflüssig sein, sich bei dem Nachweis aufzuhalten,
daß keine vernünftige Parteibeftrebung darauf gerichtet sein kann, diesen oder
jenen verbündeten Staat zu einem Selbstmorde zu veranlassen, um einem der
Mitverbündeten die Erbschaft zuzuwenden.

Anders stellt sich allerdings die Frage, wenn wir von unmittelbarer
Übertragung der Rechte einzelner Staaten an den Mächtigsten unter den Ver¬
bündeten absehen und die gleichzeitige Aufsaugung der Rechte aller Einzel¬
staaten durch das Reich ins Auge fassen, welches dadurch in seiner Verfassung
eine Veränderung erleiden würde, die einer Aufhebung der gliedstaatlichen Ge¬
walten zu gunsten der Krone Preußen in der Wirklichkeit beinahe gleichkäme.
Im Prinzip steht das Feld für derartige Parteibestrebungen offen. Artikel 78
der Verfassung sagt kurz und bündig: "Veränderungen der Verfassung erfolgen
im Wege der Gesetzgebung." Das Reich als souveräner Staat setzt seine Kom¬
petenz selber fest. Es beschränkt sich selber, ist also, ideell genommen, durch
nichts beschränkt, auch nicht durch die Staatsgewalten seiner Gliedstaaten. Der-


Reichsverfassung und Umtarismus.

eine politische Richtung, die mit der im bundesstaatlichen Reiche vorhandenen
Konzentration der nationalen Kraft sich nicht zufrieden giebt, sondern, kurz
gesagt, es auf eine Verpreußung Deutschlands abgesehen hat. Der heutige Uni¬
tarismus würde also nichts andres sein, als eine Politik, die zum Ziele hat
die Aufsaugung der Neichsinstitutionen durch die führende Macht Preußen.

Träumen und wünschen kann jeder einzelne für sich; um Politik zu
treiben, die Beachtung finden kann, muß er sich entweder mit einer erheblichen
Anzahl andrer zur Erreichung der gleichen staatlichen Zwecke verbinden, oder
er muß im Staate eine rechtliche Stellung einnehmen, die seine politische
Ansicht und Willensrichtung zu einer für die Gesamtheit erheblichen macht.
Wenn also dem Unitarismus irgendwelche Bedeutung zukommen sollte, so müßte
er entweder den Grundgedanken abgeben zu einer ins Gewicht fallenden Partei¬
bildung, oder er müßte bei deu Lenkern des preußischen Staates auf Beifall
zu rechnen haben. Das beides in absehbarer Zeit — mit ihr allein befaßt
sich die Realpolitik — nicht der Fall sein kann, dafür läßt sich der über¬
zeugende Beweis folgern aus den Thatsachen, welche die Reichsverfassung
selber liefert.

Bei der Begründung des Norddeutschen Bundes und dem Hinzutritt der
süddeutschen Staaten standen sich die bis dahin souveränen deutschen Staaten
als völlig gleichberechtigte Persönlichkeiten gegenüber. Das Bundesverhältnis,
in das sie getreten sind, der bundesstaatliche Charakter des Reiches, beruht
eben auf Anerkennung dieser Gleichberechtigung. Die Mitgliedschaftsrechte sind
grundsätzlich für alle Staaten gleich in dem Sinne, daß auf alle Staaten die¬
selben Rechtsregeln Anwendung finden. Es folgt daraus als allgemeines Prinzip
für die Reichsgesetzgebung, daß jede Abweichung von der Gleichberechtigung zu
Ungunsten eines oder einzelner Mitglieder des Reiches deren besondre Zustim¬
mung erfordert. Es dürfte überflüssig sein, sich bei dem Nachweis aufzuhalten,
daß keine vernünftige Parteibeftrebung darauf gerichtet sein kann, diesen oder
jenen verbündeten Staat zu einem Selbstmorde zu veranlassen, um einem der
Mitverbündeten die Erbschaft zuzuwenden.

Anders stellt sich allerdings die Frage, wenn wir von unmittelbarer
Übertragung der Rechte einzelner Staaten an den Mächtigsten unter den Ver¬
bündeten absehen und die gleichzeitige Aufsaugung der Rechte aller Einzel¬
staaten durch das Reich ins Auge fassen, welches dadurch in seiner Verfassung
eine Veränderung erleiden würde, die einer Aufhebung der gliedstaatlichen Ge¬
walten zu gunsten der Krone Preußen in der Wirklichkeit beinahe gleichkäme.
Im Prinzip steht das Feld für derartige Parteibestrebungen offen. Artikel 78
der Verfassung sagt kurz und bündig: „Veränderungen der Verfassung erfolgen
im Wege der Gesetzgebung." Das Reich als souveräner Staat setzt seine Kom¬
petenz selber fest. Es beschränkt sich selber, ist also, ideell genommen, durch
nichts beschränkt, auch nicht durch die Staatsgewalten seiner Gliedstaaten. Der-


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[0252] Reichsverfassung und Umtarismus. eine politische Richtung, die mit der im bundesstaatlichen Reiche vorhandenen Konzentration der nationalen Kraft sich nicht zufrieden giebt, sondern, kurz gesagt, es auf eine Verpreußung Deutschlands abgesehen hat. Der heutige Uni¬ tarismus würde also nichts andres sein, als eine Politik, die zum Ziele hat die Aufsaugung der Neichsinstitutionen durch die führende Macht Preußen. Träumen und wünschen kann jeder einzelne für sich; um Politik zu treiben, die Beachtung finden kann, muß er sich entweder mit einer erheblichen Anzahl andrer zur Erreichung der gleichen staatlichen Zwecke verbinden, oder er muß im Staate eine rechtliche Stellung einnehmen, die seine politische Ansicht und Willensrichtung zu einer für die Gesamtheit erheblichen macht. Wenn also dem Unitarismus irgendwelche Bedeutung zukommen sollte, so müßte er entweder den Grundgedanken abgeben zu einer ins Gewicht fallenden Partei¬ bildung, oder er müßte bei deu Lenkern des preußischen Staates auf Beifall zu rechnen haben. Das beides in absehbarer Zeit — mit ihr allein befaßt sich die Realpolitik — nicht der Fall sein kann, dafür läßt sich der über¬ zeugende Beweis folgern aus den Thatsachen, welche die Reichsverfassung selber liefert. Bei der Begründung des Norddeutschen Bundes und dem Hinzutritt der süddeutschen Staaten standen sich die bis dahin souveränen deutschen Staaten als völlig gleichberechtigte Persönlichkeiten gegenüber. Das Bundesverhältnis, in das sie getreten sind, der bundesstaatliche Charakter des Reiches, beruht eben auf Anerkennung dieser Gleichberechtigung. Die Mitgliedschaftsrechte sind grundsätzlich für alle Staaten gleich in dem Sinne, daß auf alle Staaten die¬ selben Rechtsregeln Anwendung finden. Es folgt daraus als allgemeines Prinzip für die Reichsgesetzgebung, daß jede Abweichung von der Gleichberechtigung zu Ungunsten eines oder einzelner Mitglieder des Reiches deren besondre Zustim¬ mung erfordert. Es dürfte überflüssig sein, sich bei dem Nachweis aufzuhalten, daß keine vernünftige Parteibeftrebung darauf gerichtet sein kann, diesen oder jenen verbündeten Staat zu einem Selbstmorde zu veranlassen, um einem der Mitverbündeten die Erbschaft zuzuwenden. Anders stellt sich allerdings die Frage, wenn wir von unmittelbarer Übertragung der Rechte einzelner Staaten an den Mächtigsten unter den Ver¬ bündeten absehen und die gleichzeitige Aufsaugung der Rechte aller Einzel¬ staaten durch das Reich ins Auge fassen, welches dadurch in seiner Verfassung eine Veränderung erleiden würde, die einer Aufhebung der gliedstaatlichen Ge¬ walten zu gunsten der Krone Preußen in der Wirklichkeit beinahe gleichkäme. Im Prinzip steht das Feld für derartige Parteibestrebungen offen. Artikel 78 der Verfassung sagt kurz und bündig: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung." Das Reich als souveräner Staat setzt seine Kom¬ petenz selber fest. Es beschränkt sich selber, ist also, ideell genommen, durch nichts beschränkt, auch nicht durch die Staatsgewalten seiner Gliedstaaten. Der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/252>, abgerufen am 01.07.2024.