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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Reichsverfassung und Unitarismus.

erforderlich ist, in keiner Weise auf. Vielleicht bedarf es nur einer weitern
Verbreitung der richtigen Einsicht in dieses Verhältnis, um die Unterstellung
"einheitsstaatlicher" d. h. auf Herstellung eines einfachen Staates gerichteter
Bestrebungen zu beseitigen. Was die Unitarier wollen, ist eine einheitliche,
machtvolle Staatsgewalt für ein Gemeinwesen deutscher Nation; im deutschen
Reiche ist das Ersehnte zur Thatsache geworden. Wir besitzen es im Rechte.
Was ein gesicherter Rechtsbesitz geworden ist, braucht in der Politik nicht mehr
erstrebt zu werden.

Eine richtige Einsicht in die wahre Natur der deutschen Reichsverfassung
ist freilich weit entfernt, Gemeingut des Volkes zu sein. Teilweise stehen po¬
litische Vorurteile entgegen. Zum Teil aber trägt die Staatswissenschaft, der
es zukommt, über die im Staate bestehenden Verhältnisse Licht zu verbreiten,
selbst einigermaßen Schuld daran. Vom Beginn des Jahrhunderts an hatten
die Deutschen unmittelbar vor sich eine Mehrzahl von Staaten, alle souverän,
monarchisch und einfach, dazu einige Republiken. Der Sinn, den man mit
dem Worte "republikanisch" zu verbinden pflegte, war indes weniger durch den
Gedanken an die vier freien Städte des deutschen Bundes bestimmt worden,
als durch den Eindruck des politischen Lebens in den demokratischen Freistaaten
der schweizerischen Eidgenossenschaft und der nordamerikanischen Union. Wer
von Republik sprach, meinte demokratische Republik. Daher sträubte sich und
sträubt sich noch heute der Sprachgebrauch gegen Anwendung der Bezeichnung
"republikanisch" auf eine Staatsform, worin Träger der Staatsgewalt eine Mehr¬
heit von Monarchen ist. Wenn nun die staatsrechtliche Wissenschaft den Satz
aufstellte: "Ihrer Form nach ist jede Staatsverfassung monarchisch oder repu¬
blikanisch, je nachdem sie einer physischen Person die Staatsgewalt beilegt oder
einem Kollegium," das monarchische Gefühl sich aber sträubte, das deutsche
Reich, für welches der letztere Fall zutrifft, eine Republik zu nennen, so schien
nur der Ausnieg übrig zu bleiben, dem Reiche, das nicht monarchisch war und
republikanisch nicht sein sollte, überhaupt den staatlichen Charakter abzusprechen.
Die Schwierigkeit ist aber sofort beseitigt, wenn in der staatsrechtlichen Lehre
an Stelle der politisch anstößigen Alternative monarchisch und republikanisch
die Einteilung in monarchische (einherrschaftliche) und pleoncirchische (mehrherr¬
schaftliche) Staaten beliebt wird. Das deutsche Reich ist ein vollkommen ein¬
heitliches, aber pleonarchisches Staatswesen.

So überzeugend der gegebene Nachweis erscheinen dürfte, daß die früheren
unitarischen Bestrebungen im deutschen Reiche ihre volle Erfüllung gefunden
und deswegen aufgehört haben, in unserm politischen Leben eine Rolle zu
spielen, wir werden die Partikularistischen Einwürfe doch so leichten Kaufes nicht
los werden. Zugegeben, wird man von dieser Seite erwidern, daß der Aus¬
druck Unitarismus, Streben nach einer einheitlichen deutschen Staatsgewalt,
die Sache, die wir meinen, nicht ganz deckt, sie besteht aber doch, es besteht


Reichsverfassung und Unitarismus.

erforderlich ist, in keiner Weise auf. Vielleicht bedarf es nur einer weitern
Verbreitung der richtigen Einsicht in dieses Verhältnis, um die Unterstellung
„einheitsstaatlicher" d. h. auf Herstellung eines einfachen Staates gerichteter
Bestrebungen zu beseitigen. Was die Unitarier wollen, ist eine einheitliche,
machtvolle Staatsgewalt für ein Gemeinwesen deutscher Nation; im deutschen
Reiche ist das Ersehnte zur Thatsache geworden. Wir besitzen es im Rechte.
Was ein gesicherter Rechtsbesitz geworden ist, braucht in der Politik nicht mehr
erstrebt zu werden.

Eine richtige Einsicht in die wahre Natur der deutschen Reichsverfassung
ist freilich weit entfernt, Gemeingut des Volkes zu sein. Teilweise stehen po¬
litische Vorurteile entgegen. Zum Teil aber trägt die Staatswissenschaft, der
es zukommt, über die im Staate bestehenden Verhältnisse Licht zu verbreiten,
selbst einigermaßen Schuld daran. Vom Beginn des Jahrhunderts an hatten
die Deutschen unmittelbar vor sich eine Mehrzahl von Staaten, alle souverän,
monarchisch und einfach, dazu einige Republiken. Der Sinn, den man mit
dem Worte „republikanisch" zu verbinden pflegte, war indes weniger durch den
Gedanken an die vier freien Städte des deutschen Bundes bestimmt worden,
als durch den Eindruck des politischen Lebens in den demokratischen Freistaaten
der schweizerischen Eidgenossenschaft und der nordamerikanischen Union. Wer
von Republik sprach, meinte demokratische Republik. Daher sträubte sich und
sträubt sich noch heute der Sprachgebrauch gegen Anwendung der Bezeichnung
„republikanisch" auf eine Staatsform, worin Träger der Staatsgewalt eine Mehr¬
heit von Monarchen ist. Wenn nun die staatsrechtliche Wissenschaft den Satz
aufstellte: „Ihrer Form nach ist jede Staatsverfassung monarchisch oder repu¬
blikanisch, je nachdem sie einer physischen Person die Staatsgewalt beilegt oder
einem Kollegium," das monarchische Gefühl sich aber sträubte, das deutsche
Reich, für welches der letztere Fall zutrifft, eine Republik zu nennen, so schien
nur der Ausnieg übrig zu bleiben, dem Reiche, das nicht monarchisch war und
republikanisch nicht sein sollte, überhaupt den staatlichen Charakter abzusprechen.
Die Schwierigkeit ist aber sofort beseitigt, wenn in der staatsrechtlichen Lehre
an Stelle der politisch anstößigen Alternative monarchisch und republikanisch
die Einteilung in monarchische (einherrschaftliche) und pleoncirchische (mehrherr¬
schaftliche) Staaten beliebt wird. Das deutsche Reich ist ein vollkommen ein¬
heitliches, aber pleonarchisches Staatswesen.

So überzeugend der gegebene Nachweis erscheinen dürfte, daß die früheren
unitarischen Bestrebungen im deutschen Reiche ihre volle Erfüllung gefunden
und deswegen aufgehört haben, in unserm politischen Leben eine Rolle zu
spielen, wir werden die Partikularistischen Einwürfe doch so leichten Kaufes nicht
los werden. Zugegeben, wird man von dieser Seite erwidern, daß der Aus¬
druck Unitarismus, Streben nach einer einheitlichen deutschen Staatsgewalt,
die Sache, die wir meinen, nicht ganz deckt, sie besteht aber doch, es besteht


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[0251] Reichsverfassung und Unitarismus. erforderlich ist, in keiner Weise auf. Vielleicht bedarf es nur einer weitern Verbreitung der richtigen Einsicht in dieses Verhältnis, um die Unterstellung „einheitsstaatlicher" d. h. auf Herstellung eines einfachen Staates gerichteter Bestrebungen zu beseitigen. Was die Unitarier wollen, ist eine einheitliche, machtvolle Staatsgewalt für ein Gemeinwesen deutscher Nation; im deutschen Reiche ist das Ersehnte zur Thatsache geworden. Wir besitzen es im Rechte. Was ein gesicherter Rechtsbesitz geworden ist, braucht in der Politik nicht mehr erstrebt zu werden. Eine richtige Einsicht in die wahre Natur der deutschen Reichsverfassung ist freilich weit entfernt, Gemeingut des Volkes zu sein. Teilweise stehen po¬ litische Vorurteile entgegen. Zum Teil aber trägt die Staatswissenschaft, der es zukommt, über die im Staate bestehenden Verhältnisse Licht zu verbreiten, selbst einigermaßen Schuld daran. Vom Beginn des Jahrhunderts an hatten die Deutschen unmittelbar vor sich eine Mehrzahl von Staaten, alle souverän, monarchisch und einfach, dazu einige Republiken. Der Sinn, den man mit dem Worte „republikanisch" zu verbinden pflegte, war indes weniger durch den Gedanken an die vier freien Städte des deutschen Bundes bestimmt worden, als durch den Eindruck des politischen Lebens in den demokratischen Freistaaten der schweizerischen Eidgenossenschaft und der nordamerikanischen Union. Wer von Republik sprach, meinte demokratische Republik. Daher sträubte sich und sträubt sich noch heute der Sprachgebrauch gegen Anwendung der Bezeichnung „republikanisch" auf eine Staatsform, worin Träger der Staatsgewalt eine Mehr¬ heit von Monarchen ist. Wenn nun die staatsrechtliche Wissenschaft den Satz aufstellte: „Ihrer Form nach ist jede Staatsverfassung monarchisch oder repu¬ blikanisch, je nachdem sie einer physischen Person die Staatsgewalt beilegt oder einem Kollegium," das monarchische Gefühl sich aber sträubte, das deutsche Reich, für welches der letztere Fall zutrifft, eine Republik zu nennen, so schien nur der Ausnieg übrig zu bleiben, dem Reiche, das nicht monarchisch war und republikanisch nicht sein sollte, überhaupt den staatlichen Charakter abzusprechen. Die Schwierigkeit ist aber sofort beseitigt, wenn in der staatsrechtlichen Lehre an Stelle der politisch anstößigen Alternative monarchisch und republikanisch die Einteilung in monarchische (einherrschaftliche) und pleoncirchische (mehrherr¬ schaftliche) Staaten beliebt wird. Das deutsche Reich ist ein vollkommen ein¬ heitliches, aber pleonarchisches Staatswesen. So überzeugend der gegebene Nachweis erscheinen dürfte, daß die früheren unitarischen Bestrebungen im deutschen Reiche ihre volle Erfüllung gefunden und deswegen aufgehört haben, in unserm politischen Leben eine Rolle zu spielen, wir werden die Partikularistischen Einwürfe doch so leichten Kaufes nicht los werden. Zugegeben, wird man von dieser Seite erwidern, daß der Aus¬ druck Unitarismus, Streben nach einer einheitlichen deutschen Staatsgewalt, die Sache, die wir meinen, nicht ganz deckt, sie besteht aber doch, es besteht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/251>, abgerufen am 29.06.2024.