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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Reichsverfassung und Unitarismus.

klar und zusammenhängend zum Bewußtsein zu bringen, hat mancher mit Ver¬
wundern eingesehen, daß, wenn die Form, in der das nationale Sehnen Er¬
füllung gefunden hat, nicht in allen Stücken seinen besondern Zukunftsträumen
entspricht, dafür im Wesen der Sache viel mehr erreicht ist, als er je zu hoffen
gewagt hatte. Staatsmännisches Genie hat auf eine Weise, die, ehe sie sich
in Thatsachen darstellte, kaum für möglich gehalten wurde, das große Rätsel
gelöst, wie allein und ausschließlich durch das Zmangsgebot der Lage die minder-
mächtigen Staaten Deutschlands vermocht werden könnten, in vertrauensvoller
Gemeinschaft mit Preußens Macht ein nationales Gemeinwesen zu errichten.
Es sei eine Wohlthat für die Kleinern, konnte der Unitarier vor Begründung
des Reiches meinen, einer doch unhaltbaren Existenz ein rasches Ende bereitet
zu sehen, denn, wie immer ein künftiger deutscher Bundesstaat beschaffen sein
möchte, es würden darin die Schwachen dem Starken gegenüberstehen wie die
Gefährten des Odysseus dem Cyklopen, der, je nach Appetit, einen nach dem
andern verspeiste. Heute sehen wir die beiden mächtigsten Bundesfürsten im
Reiche, unter dem jubelnden Zuruf der Nation, das Gelöbnis austauschen, daß
sie beide für ihre Person und zusammen mit den übrigen fürstlichen Führern
des deutschen Volkes in unwandelbarer Treue zusammenstehen wollen zum Schutz
und zum Heile des Vaterlandes.

Und es handelt sich hierbei nicht allein um Worte, an denen das erregte
Gefühl des Augenblickes einen Anteil haben könnte. In dauernden Institu¬
tionen, hervorgegangen aus dem Zusammenwirken der edelsten Kräfte, über
welche die Nation zu gebieten hatte, ist diese Treue, diese Vaterlandsliebe be¬
siegelt. Je näher wir diese Institutionen betrachten, desto mehr werden wir
uns überzeugen, daß sie in vollem Maße das leisten, was wir von einer weisen
und festgegründeten, weil den geschichtlich sich darstellenden Lebensbedingungen
des Volkes sich anpassenden Verfassung zu erwarten berechtigt sind.

Der erste deutsche Publizist des achtzehnten Jahrhunderts, "Friedrich der
Große, hat mit besonderm Nachdruck darauf hingewiesen, daß Macht und Ge¬
deihen eines Staatswesens davon abhänge, daß alle Teile desselben, indem sie
im einzelnen eine ihrem Wesen entsprechende kraftvolle Thätigkeit entfalten, sich
harmonisch zu einem lebendigen Ganzen zusammenschließen. Den Zusammen¬
schluß der nationalen Kraft besitzen wir im Reiche in der staatlichen Persön¬
lichkeit eines die Gliedstaaten überherrschenden Gemeinwesens höherer Ordnung,
worin eben diese Gliedstaaten, als Gesamtheit genommen, zugleich Träger der
obersten Rechtsmacht, der Souveränität, sind. Damit ist die erforderliche
Einheit der nationalen Staatsgewalt, die nationalstaatliche Einheit ebensogut
gegeben als im sogenannten Einheitsstaat, der richtiger als einfacher Staat be¬
zeichnet wird. Das Reich ist ein zusammengesetzter, ein Staatenstaat, aber
die relative Selbständigkeit der Teile hebt die Staatspersönlichkeit des Ganzen,
die straffste Zusammenfassung der nationalen Kraft auf den Gebieten, wo 'es


Reichsverfassung und Unitarismus.

klar und zusammenhängend zum Bewußtsein zu bringen, hat mancher mit Ver¬
wundern eingesehen, daß, wenn die Form, in der das nationale Sehnen Er¬
füllung gefunden hat, nicht in allen Stücken seinen besondern Zukunftsträumen
entspricht, dafür im Wesen der Sache viel mehr erreicht ist, als er je zu hoffen
gewagt hatte. Staatsmännisches Genie hat auf eine Weise, die, ehe sie sich
in Thatsachen darstellte, kaum für möglich gehalten wurde, das große Rätsel
gelöst, wie allein und ausschließlich durch das Zmangsgebot der Lage die minder-
mächtigen Staaten Deutschlands vermocht werden könnten, in vertrauensvoller
Gemeinschaft mit Preußens Macht ein nationales Gemeinwesen zu errichten.
Es sei eine Wohlthat für die Kleinern, konnte der Unitarier vor Begründung
des Reiches meinen, einer doch unhaltbaren Existenz ein rasches Ende bereitet
zu sehen, denn, wie immer ein künftiger deutscher Bundesstaat beschaffen sein
möchte, es würden darin die Schwachen dem Starken gegenüberstehen wie die
Gefährten des Odysseus dem Cyklopen, der, je nach Appetit, einen nach dem
andern verspeiste. Heute sehen wir die beiden mächtigsten Bundesfürsten im
Reiche, unter dem jubelnden Zuruf der Nation, das Gelöbnis austauschen, daß
sie beide für ihre Person und zusammen mit den übrigen fürstlichen Führern
des deutschen Volkes in unwandelbarer Treue zusammenstehen wollen zum Schutz
und zum Heile des Vaterlandes.

Und es handelt sich hierbei nicht allein um Worte, an denen das erregte
Gefühl des Augenblickes einen Anteil haben könnte. In dauernden Institu¬
tionen, hervorgegangen aus dem Zusammenwirken der edelsten Kräfte, über
welche die Nation zu gebieten hatte, ist diese Treue, diese Vaterlandsliebe be¬
siegelt. Je näher wir diese Institutionen betrachten, desto mehr werden wir
uns überzeugen, daß sie in vollem Maße das leisten, was wir von einer weisen
und festgegründeten, weil den geschichtlich sich darstellenden Lebensbedingungen
des Volkes sich anpassenden Verfassung zu erwarten berechtigt sind.

Der erste deutsche Publizist des achtzehnten Jahrhunderts, „Friedrich der
Große, hat mit besonderm Nachdruck darauf hingewiesen, daß Macht und Ge¬
deihen eines Staatswesens davon abhänge, daß alle Teile desselben, indem sie
im einzelnen eine ihrem Wesen entsprechende kraftvolle Thätigkeit entfalten, sich
harmonisch zu einem lebendigen Ganzen zusammenschließen. Den Zusammen¬
schluß der nationalen Kraft besitzen wir im Reiche in der staatlichen Persön¬
lichkeit eines die Gliedstaaten überherrschenden Gemeinwesens höherer Ordnung,
worin eben diese Gliedstaaten, als Gesamtheit genommen, zugleich Träger der
obersten Rechtsmacht, der Souveränität, sind. Damit ist die erforderliche
Einheit der nationalen Staatsgewalt, die nationalstaatliche Einheit ebensogut
gegeben als im sogenannten Einheitsstaat, der richtiger als einfacher Staat be¬
zeichnet wird. Das Reich ist ein zusammengesetzter, ein Staatenstaat, aber
die relative Selbständigkeit der Teile hebt die Staatspersönlichkeit des Ganzen,
die straffste Zusammenfassung der nationalen Kraft auf den Gebieten, wo 'es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/250>, abgerufen am 26.06.2024.