Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dreißig Jahre in Paris.

ein besserer Mensch. Hinweg mit Trübsinn und Unruhe -- dies einfache Früh¬
stück hatte mich wie Champagner berauscht.

Wir gingen Arm in Arm weiter und sprachen sehr laut. Eben ward es
voller Tag; Paris lächelte mich aus allen geöffneten Läden an, selbst das
Odeon setzte, um mich zu begrüßen, eine freundliche Miene auf, und die weißen
Marmorstatuen im Luxemburggarten, die ich durch das Gitter betrachtete, schienen
anmutig den Kopf zu neigen und mich willkommen zu heißen.

Mein Bruder war reich. Er bekleidete das Amt eines Sekretärs bei einem
alten Herrn, der ihm feine Erinnerungen diktirte und erhielt dafür monatlich
75 Franken. Mit diesen 76 Franken mußten wir in Erwartung künftigen Ruhmes
leben, mußten das kleine Zimmer im fünften Stock des Senatshotels in der Rue
Tournon teilen, das nicht viel mehr als eine Bodenkammer war, mir aber vor¬
trefflich erschien. War es doch eine Pariser Bodenkammer. Die Worte "HStel
des Senats" in großen Buchstaben im Schilde des Hauses prangen zu sehen,
schmeichelte meiner Eigenliebe und machte mich schwindeln. Angesichts des
Hotels auf der andern Seite der Straße stand ein Haus aus dem vorigen
Jahrhundert, das auf seinem Giebel zwei liegende Figuren trug, welche be¬
ständig Miene machten von der Höhe der Mauer auf die Straße hinabzufallen.

Dort wohnt Ricord, sagte mein Bruder, der berühmte Ricord, der Arzt
des Kaisers. Das HStel des Senats -- der Arzt des Kaisers -- diese
Worte kitzelten meine Eitelkeit und beglückten mich! O diese ersten Eindrücke
von Paris! --

Mit der vorstehenden, höchst lebendigen und charakteristischen Schilderung
seiner ersten Ankunft in der französischen Hauptstadt eröffnet ein bedeutender und
vielgefeierter Schriftsteller, Alphonse Daudet, seine Dreißig Jahre in Paris,*)
einen Band, der, mit hübschen kleinen Illustrationen von Vieler, Montsgut,
Mhrbach, Picard und Rossi verziert, wohl der Vorläufer einiger ähnlichen
Bücher ist, da ihm bereits neue "Erinnerungen eines Schriftstellers" aus der¬
selben Feder gefolgt sind. Die wunderliche französische Mode, nach der neuer¬
dings jedes Buch, das gehen soll, in einem Bande zusammengedrängt sein muß,
zwingt zu ebenso wunderlichen Auswegen. In den vorliegenden "Dreißig Jahren"
wechseln Genrebilder wie "Die Ankunft," "Der erste Frack," "Mein Trommel¬
schläger," "Das erste Stück," "Die Sperlingsinsel," Charakteristiken hervor¬
ragender, Daudets Entwicklung beeinflußender Persönlichkeiten wie Villemessant,
Henri Nochefort, Henri Monnier, Turgeniew (den Daudet Tourgusneff schreibt)
und endlich einige Kapitel "Geschichte meiner Bücher" mit einander ab, und da von
diesen Büchern nur "Der kleine Dingsda," "Tartarin von Tarascon," "Jack" und
"Fromont^jren. und Rister hör." besprochen werden, geht allein hieraus hervor,
daß wir einige Fortsetzungen der ^hiermit begonnenen Erinnerungen zu erwarten



rrsuto !MS av ?g,ris. ?s,ris, v. Ng.rxon ot Nu,mag.rioii, 1333.
Dreißig Jahre in Paris.

ein besserer Mensch. Hinweg mit Trübsinn und Unruhe — dies einfache Früh¬
stück hatte mich wie Champagner berauscht.

Wir gingen Arm in Arm weiter und sprachen sehr laut. Eben ward es
voller Tag; Paris lächelte mich aus allen geöffneten Läden an, selbst das
Odeon setzte, um mich zu begrüßen, eine freundliche Miene auf, und die weißen
Marmorstatuen im Luxemburggarten, die ich durch das Gitter betrachtete, schienen
anmutig den Kopf zu neigen und mich willkommen zu heißen.

Mein Bruder war reich. Er bekleidete das Amt eines Sekretärs bei einem
alten Herrn, der ihm feine Erinnerungen diktirte und erhielt dafür monatlich
75 Franken. Mit diesen 76 Franken mußten wir in Erwartung künftigen Ruhmes
leben, mußten das kleine Zimmer im fünften Stock des Senatshotels in der Rue
Tournon teilen, das nicht viel mehr als eine Bodenkammer war, mir aber vor¬
trefflich erschien. War es doch eine Pariser Bodenkammer. Die Worte „HStel
des Senats" in großen Buchstaben im Schilde des Hauses prangen zu sehen,
schmeichelte meiner Eigenliebe und machte mich schwindeln. Angesichts des
Hotels auf der andern Seite der Straße stand ein Haus aus dem vorigen
Jahrhundert, das auf seinem Giebel zwei liegende Figuren trug, welche be¬
ständig Miene machten von der Höhe der Mauer auf die Straße hinabzufallen.

Dort wohnt Ricord, sagte mein Bruder, der berühmte Ricord, der Arzt
des Kaisers. Das HStel des Senats — der Arzt des Kaisers — diese
Worte kitzelten meine Eitelkeit und beglückten mich! O diese ersten Eindrücke
von Paris! —

Mit der vorstehenden, höchst lebendigen und charakteristischen Schilderung
seiner ersten Ankunft in der französischen Hauptstadt eröffnet ein bedeutender und
vielgefeierter Schriftsteller, Alphonse Daudet, seine Dreißig Jahre in Paris,*)
einen Band, der, mit hübschen kleinen Illustrationen von Vieler, Montsgut,
Mhrbach, Picard und Rossi verziert, wohl der Vorläufer einiger ähnlichen
Bücher ist, da ihm bereits neue „Erinnerungen eines Schriftstellers" aus der¬
selben Feder gefolgt sind. Die wunderliche französische Mode, nach der neuer¬
dings jedes Buch, das gehen soll, in einem Bande zusammengedrängt sein muß,
zwingt zu ebenso wunderlichen Auswegen. In den vorliegenden „Dreißig Jahren"
wechseln Genrebilder wie „Die Ankunft," „Der erste Frack," „Mein Trommel¬
schläger," „Das erste Stück," „Die Sperlingsinsel," Charakteristiken hervor¬
ragender, Daudets Entwicklung beeinflußender Persönlichkeiten wie Villemessant,
Henri Nochefort, Henri Monnier, Turgeniew (den Daudet Tourgusneff schreibt)
und endlich einige Kapitel „Geschichte meiner Bücher" mit einander ab, und da von
diesen Büchern nur „Der kleine Dingsda," „Tartarin von Tarascon," „Jack" und
„Fromont^jren. und Rister hör." besprochen werden, geht allein hieraus hervor,
daß wir einige Fortsetzungen der ^hiermit begonnenen Erinnerungen zu erwarten



rrsuto !MS av ?g,ris. ?s,ris, v. Ng.rxon ot Nu,mag.rioii, 1333.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0235" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203670"/>
          <fw type="header" place="top"> Dreißig Jahre in Paris.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_564" prev="#ID_563"> ein besserer Mensch. Hinweg mit Trübsinn und Unruhe &#x2014; dies einfache Früh¬<lb/>
stück hatte mich wie Champagner berauscht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_565"> Wir gingen Arm in Arm weiter und sprachen sehr laut. Eben ward es<lb/>
voller Tag; Paris lächelte mich aus allen geöffneten Läden an, selbst das<lb/>
Odeon setzte, um mich zu begrüßen, eine freundliche Miene auf, und die weißen<lb/>
Marmorstatuen im Luxemburggarten, die ich durch das Gitter betrachtete, schienen<lb/>
anmutig den Kopf zu neigen und mich willkommen zu heißen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_566"> Mein Bruder war reich. Er bekleidete das Amt eines Sekretärs bei einem<lb/>
alten Herrn, der ihm feine Erinnerungen diktirte und erhielt dafür monatlich<lb/>
75 Franken. Mit diesen 76 Franken mußten wir in Erwartung künftigen Ruhmes<lb/>
leben, mußten das kleine Zimmer im fünften Stock des Senatshotels in der Rue<lb/>
Tournon teilen, das nicht viel mehr als eine Bodenkammer war, mir aber vor¬<lb/>
trefflich erschien. War es doch eine Pariser Bodenkammer. Die Worte &#x201E;HStel<lb/>
des Senats" in großen Buchstaben im Schilde des Hauses prangen zu sehen,<lb/>
schmeichelte meiner Eigenliebe und machte mich schwindeln. Angesichts des<lb/>
Hotels auf der andern Seite der Straße stand ein Haus aus dem vorigen<lb/>
Jahrhundert, das auf seinem Giebel zwei liegende Figuren trug, welche be¬<lb/>
ständig Miene machten von der Höhe der Mauer auf die Straße hinabzufallen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_567"> Dort wohnt Ricord, sagte mein Bruder, der berühmte Ricord, der Arzt<lb/>
des Kaisers. Das HStel des Senats &#x2014; der Arzt des Kaisers &#x2014; diese<lb/>
Worte kitzelten meine Eitelkeit und beglückten mich! O diese ersten Eindrücke<lb/>
von Paris! &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_568" next="#ID_569"> Mit der vorstehenden, höchst lebendigen und charakteristischen Schilderung<lb/>
seiner ersten Ankunft in der französischen Hauptstadt eröffnet ein bedeutender und<lb/>
vielgefeierter Schriftsteller, Alphonse Daudet, seine Dreißig Jahre in Paris,*)<lb/>
einen Band, der, mit hübschen kleinen Illustrationen von Vieler, Montsgut,<lb/>
Mhrbach, Picard und Rossi verziert, wohl der Vorläufer einiger ähnlichen<lb/>
Bücher ist, da ihm bereits neue &#x201E;Erinnerungen eines Schriftstellers" aus der¬<lb/>
selben Feder gefolgt sind. Die wunderliche französische Mode, nach der neuer¬<lb/>
dings jedes Buch, das gehen soll, in einem Bande zusammengedrängt sein muß,<lb/>
zwingt zu ebenso wunderlichen Auswegen. In den vorliegenden &#x201E;Dreißig Jahren"<lb/>
wechseln Genrebilder wie &#x201E;Die Ankunft," &#x201E;Der erste Frack," &#x201E;Mein Trommel¬<lb/>
schläger," &#x201E;Das erste Stück," &#x201E;Die Sperlingsinsel," Charakteristiken hervor¬<lb/>
ragender, Daudets Entwicklung beeinflußender Persönlichkeiten wie Villemessant,<lb/>
Henri Nochefort, Henri Monnier, Turgeniew (den Daudet Tourgusneff schreibt)<lb/>
und endlich einige Kapitel &#x201E;Geschichte meiner Bücher" mit einander ab, und da von<lb/>
diesen Büchern nur &#x201E;Der kleine Dingsda," &#x201E;Tartarin von Tarascon," &#x201E;Jack" und<lb/>
&#x201E;Fromont^jren. und Rister hör." besprochen werden, geht allein hieraus hervor,<lb/>
daß wir einige Fortsetzungen der ^hiermit begonnenen Erinnerungen zu erwarten</p><lb/>
          <note xml:id="FID_25" place="foot"> rrsuto !MS av ?g,ris.  ?s,ris, v. Ng.rxon ot   Nu,mag.rioii, 1333.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0235] Dreißig Jahre in Paris. ein besserer Mensch. Hinweg mit Trübsinn und Unruhe — dies einfache Früh¬ stück hatte mich wie Champagner berauscht. Wir gingen Arm in Arm weiter und sprachen sehr laut. Eben ward es voller Tag; Paris lächelte mich aus allen geöffneten Läden an, selbst das Odeon setzte, um mich zu begrüßen, eine freundliche Miene auf, und die weißen Marmorstatuen im Luxemburggarten, die ich durch das Gitter betrachtete, schienen anmutig den Kopf zu neigen und mich willkommen zu heißen. Mein Bruder war reich. Er bekleidete das Amt eines Sekretärs bei einem alten Herrn, der ihm feine Erinnerungen diktirte und erhielt dafür monatlich 75 Franken. Mit diesen 76 Franken mußten wir in Erwartung künftigen Ruhmes leben, mußten das kleine Zimmer im fünften Stock des Senatshotels in der Rue Tournon teilen, das nicht viel mehr als eine Bodenkammer war, mir aber vor¬ trefflich erschien. War es doch eine Pariser Bodenkammer. Die Worte „HStel des Senats" in großen Buchstaben im Schilde des Hauses prangen zu sehen, schmeichelte meiner Eigenliebe und machte mich schwindeln. Angesichts des Hotels auf der andern Seite der Straße stand ein Haus aus dem vorigen Jahrhundert, das auf seinem Giebel zwei liegende Figuren trug, welche be¬ ständig Miene machten von der Höhe der Mauer auf die Straße hinabzufallen. Dort wohnt Ricord, sagte mein Bruder, der berühmte Ricord, der Arzt des Kaisers. Das HStel des Senats — der Arzt des Kaisers — diese Worte kitzelten meine Eitelkeit und beglückten mich! O diese ersten Eindrücke von Paris! — Mit der vorstehenden, höchst lebendigen und charakteristischen Schilderung seiner ersten Ankunft in der französischen Hauptstadt eröffnet ein bedeutender und vielgefeierter Schriftsteller, Alphonse Daudet, seine Dreißig Jahre in Paris,*) einen Band, der, mit hübschen kleinen Illustrationen von Vieler, Montsgut, Mhrbach, Picard und Rossi verziert, wohl der Vorläufer einiger ähnlichen Bücher ist, da ihm bereits neue „Erinnerungen eines Schriftstellers" aus der¬ selben Feder gefolgt sind. Die wunderliche französische Mode, nach der neuer¬ dings jedes Buch, das gehen soll, in einem Bande zusammengedrängt sein muß, zwingt zu ebenso wunderlichen Auswegen. In den vorliegenden „Dreißig Jahren" wechseln Genrebilder wie „Die Ankunft," „Der erste Frack," „Mein Trommel¬ schläger," „Das erste Stück," „Die Sperlingsinsel," Charakteristiken hervor¬ ragender, Daudets Entwicklung beeinflußender Persönlichkeiten wie Villemessant, Henri Nochefort, Henri Monnier, Turgeniew (den Daudet Tourgusneff schreibt) und endlich einige Kapitel „Geschichte meiner Bücher" mit einander ab, und da von diesen Büchern nur „Der kleine Dingsda," „Tartarin von Tarascon," „Jack" und „Fromont^jren. und Rister hör." besprochen werden, geht allein hieraus hervor, daß wir einige Fortsetzungen der ^hiermit begonnenen Erinnerungen zu erwarten rrsuto !MS av ?g,ris. ?s,ris, v. Ng.rxon ot Nu,mag.rioii, 1333.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/235
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/235>, abgerufen am 02.07.2024.