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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Dreißig Jahre in Paris.

haben. Wie dem immer sei, s.hon die vorliegenden "Dreißig Jahre" ge¬
nügen, um die Art und Weise des Schriftstellers wiederzuerkennen und an
einer seiner Leistungen wieder einmal vollere Teilnahme zu gewinnen als an
"Sappho" und dem "Unsterblichen."

Gleich die eben mitgeteilte Einleitung legt freilich eine ernste Betrachtung
nahe. Die Schilderung des ärmlichen Einzuges Daudets in Paris erinnert
lebhaft an die verwandten Schilderungen I. I. Rousseaus, Alexander Dumas
des Älteren und manches andern, die gleich Daudet, arm an Beutel und reich an
Hoffnungen, das Pflaster der Weltstadt an der Seine zuerst betraten. Für den
Schriftsteller wie für seine Leser liegt ein unsäglicher Reiz in den Schilde¬
rungen so dürftiger Anfänge, die von einem glücklich erreichten Ziele aus ent¬
worfen werden. Denn die Tausende, welche ähnlich arm und hoffnungsreich
anfangen, aber vor einem rühmlichen oder auch nur leidlichen Ziel in den
Wirbeln der Großstadt untergehen, hinterlassen keine ^dauernden Erinnerungen,
die Selbstbiographie eines völlig gescheiterten wird kaum geschrieben werden,
und insofern mischt sich in den Eindruck, den Bücher, wie die "Dreißig Jahre"
Daudets hinterlassen, immer ein Element der Täuschung. Indem man sich des
Talentes freut, das sich mannhaft aus Dunkelheit und Dürftigkeit zu Ehren
emporgekämpft hat, vergißt man leicht, welchen Anteil auch das Glück hieran
cehabt hat. Daudet vergißt es in seinen Aufzeichnungen nicht ganz, die blinde
Göttin zu preise", aber natürlich legt er ihrem Walten minderes Gewicht bei
als seinem eignen Streben, seinem Genie und vielleicht ein wenig seiner Liebens¬
würdigkeit und Weltklugheit. Denn den Erinnerungen Dandets fehlt nicht
jener Anhauch von Eitelkeit, der fast allen Franzosen in gleicher Lebenslage
und Berufsrichtung eigentümlich ist. Man kann nicht sagen, daß er bei unserm
Schrissteller besonders stark sei, und obschon Daudet ein Südfranzose ist, hat
er sich doch oft zu über die Ruhmredigkeit Tcirtarins von Tarascon und
Nouma Noumestans lustig gemacht, um in ihren Ton zu fallen. Alexander
Dumas' Memoiren schlagen z. B. den gascognischen Ton viel enschiedener an
als die Aufzeichnungen Daudets, obschon Daudet der Gascogner und Dumas
der Nordfranzose ist.

Daudet kam im Jahre 1867 nach Paris, in der Glanzzeit des zweiten
Kaiserreichs, dessen leitenden und maßgebenden Persönlichkeiten er als Sekretär
des Herzogs von Morny nahe rückte. Er sah sich bald nach der Veröffent¬
lichung seiner Jugendgedichte und des Erstlingsromans "Der kleine Dingsda"
in den Kreis jener begünstigten Schriftsteller versetzt, von denen Gesellschaft,
Presse und Buchhandel von Paris ein günstiges Vorurteil hegen, bei denen
sie die Möglichkeit eines künftigen großen Erfolges voraussetzen. Und hier
läßt sich nicht verschweigen, daß der junge französische Schriftsteller, obgleich
sich auch in Frankreich die Litteraturzustände seit den dreißiger und vierziger
Jahren wesentlich verschlechtert haben, vor dem deutschen etwas voraus hat.


Dreißig Jahre in Paris.

haben. Wie dem immer sei, s.hon die vorliegenden „Dreißig Jahre" ge¬
nügen, um die Art und Weise des Schriftstellers wiederzuerkennen und an
einer seiner Leistungen wieder einmal vollere Teilnahme zu gewinnen als an
„Sappho" und dem „Unsterblichen."

Gleich die eben mitgeteilte Einleitung legt freilich eine ernste Betrachtung
nahe. Die Schilderung des ärmlichen Einzuges Daudets in Paris erinnert
lebhaft an die verwandten Schilderungen I. I. Rousseaus, Alexander Dumas
des Älteren und manches andern, die gleich Daudet, arm an Beutel und reich an
Hoffnungen, das Pflaster der Weltstadt an der Seine zuerst betraten. Für den
Schriftsteller wie für seine Leser liegt ein unsäglicher Reiz in den Schilde¬
rungen so dürftiger Anfänge, die von einem glücklich erreichten Ziele aus ent¬
worfen werden. Denn die Tausende, welche ähnlich arm und hoffnungsreich
anfangen, aber vor einem rühmlichen oder auch nur leidlichen Ziel in den
Wirbeln der Großstadt untergehen, hinterlassen keine ^dauernden Erinnerungen,
die Selbstbiographie eines völlig gescheiterten wird kaum geschrieben werden,
und insofern mischt sich in den Eindruck, den Bücher, wie die „Dreißig Jahre"
Daudets hinterlassen, immer ein Element der Täuschung. Indem man sich des
Talentes freut, das sich mannhaft aus Dunkelheit und Dürftigkeit zu Ehren
emporgekämpft hat, vergißt man leicht, welchen Anteil auch das Glück hieran
cehabt hat. Daudet vergißt es in seinen Aufzeichnungen nicht ganz, die blinde
Göttin zu preise», aber natürlich legt er ihrem Walten minderes Gewicht bei
als seinem eignen Streben, seinem Genie und vielleicht ein wenig seiner Liebens¬
würdigkeit und Weltklugheit. Denn den Erinnerungen Dandets fehlt nicht
jener Anhauch von Eitelkeit, der fast allen Franzosen in gleicher Lebenslage
und Berufsrichtung eigentümlich ist. Man kann nicht sagen, daß er bei unserm
Schrissteller besonders stark sei, und obschon Daudet ein Südfranzose ist, hat
er sich doch oft zu über die Ruhmredigkeit Tcirtarins von Tarascon und
Nouma Noumestans lustig gemacht, um in ihren Ton zu fallen. Alexander
Dumas' Memoiren schlagen z. B. den gascognischen Ton viel enschiedener an
als die Aufzeichnungen Daudets, obschon Daudet der Gascogner und Dumas
der Nordfranzose ist.

Daudet kam im Jahre 1867 nach Paris, in der Glanzzeit des zweiten
Kaiserreichs, dessen leitenden und maßgebenden Persönlichkeiten er als Sekretär
des Herzogs von Morny nahe rückte. Er sah sich bald nach der Veröffent¬
lichung seiner Jugendgedichte und des Erstlingsromans „Der kleine Dingsda"
in den Kreis jener begünstigten Schriftsteller versetzt, von denen Gesellschaft,
Presse und Buchhandel von Paris ein günstiges Vorurteil hegen, bei denen
sie die Möglichkeit eines künftigen großen Erfolges voraussetzen. Und hier
läßt sich nicht verschweigen, daß der junge französische Schriftsteller, obgleich
sich auch in Frankreich die Litteraturzustände seit den dreißiger und vierziger
Jahren wesentlich verschlechtert haben, vor dem deutschen etwas voraus hat.


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[0236] Dreißig Jahre in Paris. haben. Wie dem immer sei, s.hon die vorliegenden „Dreißig Jahre" ge¬ nügen, um die Art und Weise des Schriftstellers wiederzuerkennen und an einer seiner Leistungen wieder einmal vollere Teilnahme zu gewinnen als an „Sappho" und dem „Unsterblichen." Gleich die eben mitgeteilte Einleitung legt freilich eine ernste Betrachtung nahe. Die Schilderung des ärmlichen Einzuges Daudets in Paris erinnert lebhaft an die verwandten Schilderungen I. I. Rousseaus, Alexander Dumas des Älteren und manches andern, die gleich Daudet, arm an Beutel und reich an Hoffnungen, das Pflaster der Weltstadt an der Seine zuerst betraten. Für den Schriftsteller wie für seine Leser liegt ein unsäglicher Reiz in den Schilde¬ rungen so dürftiger Anfänge, die von einem glücklich erreichten Ziele aus ent¬ worfen werden. Denn die Tausende, welche ähnlich arm und hoffnungsreich anfangen, aber vor einem rühmlichen oder auch nur leidlichen Ziel in den Wirbeln der Großstadt untergehen, hinterlassen keine ^dauernden Erinnerungen, die Selbstbiographie eines völlig gescheiterten wird kaum geschrieben werden, und insofern mischt sich in den Eindruck, den Bücher, wie die „Dreißig Jahre" Daudets hinterlassen, immer ein Element der Täuschung. Indem man sich des Talentes freut, das sich mannhaft aus Dunkelheit und Dürftigkeit zu Ehren emporgekämpft hat, vergißt man leicht, welchen Anteil auch das Glück hieran cehabt hat. Daudet vergißt es in seinen Aufzeichnungen nicht ganz, die blinde Göttin zu preise», aber natürlich legt er ihrem Walten minderes Gewicht bei als seinem eignen Streben, seinem Genie und vielleicht ein wenig seiner Liebens¬ würdigkeit und Weltklugheit. Denn den Erinnerungen Dandets fehlt nicht jener Anhauch von Eitelkeit, der fast allen Franzosen in gleicher Lebenslage und Berufsrichtung eigentümlich ist. Man kann nicht sagen, daß er bei unserm Schrissteller besonders stark sei, und obschon Daudet ein Südfranzose ist, hat er sich doch oft zu über die Ruhmredigkeit Tcirtarins von Tarascon und Nouma Noumestans lustig gemacht, um in ihren Ton zu fallen. Alexander Dumas' Memoiren schlagen z. B. den gascognischen Ton viel enschiedener an als die Aufzeichnungen Daudets, obschon Daudet der Gascogner und Dumas der Nordfranzose ist. Daudet kam im Jahre 1867 nach Paris, in der Glanzzeit des zweiten Kaiserreichs, dessen leitenden und maßgebenden Persönlichkeiten er als Sekretär des Herzogs von Morny nahe rückte. Er sah sich bald nach der Veröffent¬ lichung seiner Jugendgedichte und des Erstlingsromans „Der kleine Dingsda" in den Kreis jener begünstigten Schriftsteller versetzt, von denen Gesellschaft, Presse und Buchhandel von Paris ein günstiges Vorurteil hegen, bei denen sie die Möglichkeit eines künftigen großen Erfolges voraussetzen. Und hier läßt sich nicht verschweigen, daß der junge französische Schriftsteller, obgleich sich auch in Frankreich die Litteraturzustände seit den dreißiger und vierziger Jahren wesentlich verschlechtert haben, vor dem deutschen etwas voraus hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/236>, abgerufen am 04.07.2024.