Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.Goethe und Schopenhauer. nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort Mit dieser Apotheose des christlichen Sittlichkeitsideals möge die Reihe der Damit soll, wie gesagt, Goethe keineswegs zu einem Bekenner von Schopen¬
Goethe und Schopenhauer. nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort Mit dieser Apotheose des christlichen Sittlichkeitsideals möge die Reihe der Damit soll, wie gesagt, Goethe keineswegs zu einem Bekenner von Schopen¬
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203622"/> <fw type="header" place="top"> Goethe und Schopenhauer.</fw><lb/> <p xml:id="ID_426" prev="#ID_425"> nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort<lb/> zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach<lb/> und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und<lb/> Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu ver¬<lb/> ehren und lieb zu gewinnen. Hiervon finden sich zwar Spuren durch alle<lb/> Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die<lb/> Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion<lb/> da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann "</p><lb/> <p xml:id="ID_427"> Mit dieser Apotheose des christlichen Sittlichkeitsideals möge die Reihe der<lb/> Beispiele schließen, welche die Anklänge Schopenhauerscher Philosophie in Goethes<lb/> spätern Äußerungen zu Gehör bringen sollten. Es ließe sich noch manches<lb/> hinzufügen. So ist in den „Orphischen Stanzen," die freilich schon vor dem<lb/> Erscheinen von Schopenhauers Werk gedichtet worden sind, und noch mehr in<lb/> dem Kommentar dazu vom Jahre 1820 ein Anklang an den intelligibeln (ur¬<lb/> sprünglichen, unveränderlichen) und empirischen Charakter zu erkennen. Am<lb/> meisten beeinflußt von Schopenhauers Philosophie sind die Sentenzen in den<lb/> „Wanderjahren" und die Gespräche mit Eckermann, einigermaßen die naturphilo¬<lb/> sophischen Betrachtungen in den „Morphologischen Heften," und auch der zweite<lb/> Teil von Faust ist nicht unberührt geblieben.</p><lb/> <p xml:id="ID_428"> Damit soll, wie gesagt, Goethe keineswegs zu einem Bekenner von Schopen¬<lb/> hauers Philosophie gestempelt werden. Dies wäre ebenso thöricht, als wenn man<lb/> ihn zu einem Hegelianer machen wollte, weil sich Hegelscher Einfluß in den letzten<lb/> Jahrzehnten seines Lebens ebenfalls bei ihm nachweisen läßt. Wie er sich zu<lb/> den neuern Philosophen verhielt, sagt er besser als in seinem Aufsatze: „Ein¬<lb/> wirkung der neuern Philosophie" in dem Gedichte: „Vermächtnis", das er im<lb/> Jahre 1829 dichtete, und das, da es in weitern Kreisen weniger bekannt ist,<lb/> hier in ganzer Gestalt Zeugnis ablegen mag:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_11" type="poem"> <l> Kein Wesen kann zu nichts zerfallen I<lb/> Das Ew'ge regt sich fort in allen,<lb/> Am Sein erhalte dich beglückt!<lb/> Das Sein ist ewig, denn Gesetze<lb/> Bewahren die lebend'gen Schatze,<lb/> Aus welchen sich das All geschmückt.</l> <l> Das Wahre war schon längst gefunden,<lb/> Hat edle Geisterschaft verbunden,<lb/> Das alte Wahre, sass' es an!<lb/> Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,<lb/> Der ihr, die Sonne zu umkreisen,<lb/> Und dem Geschwister wies die Bahn.</l> <l> Sofort nun wende dich nach innen,<lb/> Das Centrum findest du dadrinnen,<lb/> Woran kein Edler zweifeln mag,</l> </lg> </quote><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0187]
Goethe und Schopenhauer.
nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort
zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach
und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und
Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu ver¬
ehren und lieb zu gewinnen. Hiervon finden sich zwar Spuren durch alle
Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die
Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion
da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann "
Mit dieser Apotheose des christlichen Sittlichkeitsideals möge die Reihe der
Beispiele schließen, welche die Anklänge Schopenhauerscher Philosophie in Goethes
spätern Äußerungen zu Gehör bringen sollten. Es ließe sich noch manches
hinzufügen. So ist in den „Orphischen Stanzen," die freilich schon vor dem
Erscheinen von Schopenhauers Werk gedichtet worden sind, und noch mehr in
dem Kommentar dazu vom Jahre 1820 ein Anklang an den intelligibeln (ur¬
sprünglichen, unveränderlichen) und empirischen Charakter zu erkennen. Am
meisten beeinflußt von Schopenhauers Philosophie sind die Sentenzen in den
„Wanderjahren" und die Gespräche mit Eckermann, einigermaßen die naturphilo¬
sophischen Betrachtungen in den „Morphologischen Heften," und auch der zweite
Teil von Faust ist nicht unberührt geblieben.
Damit soll, wie gesagt, Goethe keineswegs zu einem Bekenner von Schopen¬
hauers Philosophie gestempelt werden. Dies wäre ebenso thöricht, als wenn man
ihn zu einem Hegelianer machen wollte, weil sich Hegelscher Einfluß in den letzten
Jahrzehnten seines Lebens ebenfalls bei ihm nachweisen läßt. Wie er sich zu
den neuern Philosophen verhielt, sagt er besser als in seinem Aufsatze: „Ein¬
wirkung der neuern Philosophie" in dem Gedichte: „Vermächtnis", das er im
Jahre 1829 dichtete, und das, da es in weitern Kreisen weniger bekannt ist,
hier in ganzer Gestalt Zeugnis ablegen mag:
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen I
Das Ew'ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebend'gen Schatze,
Aus welchen sich das All geschmückt. Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden,
Das alte Wahre, sass' es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn. Sofort nun wende dich nach innen,
Das Centrum findest du dadrinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag,
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