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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

Würdig ist, was er darüber am 23. Oktober 1828 zu Eckermann auf dessen Be¬
merkung, daß die Entwicklung der Menschheit auf Jahrtausende angelegt scheine,
sagte. "Wer weiß," erwiederte Goethe, "vielleicht auf Millionen. Aber laß
die Menschheit dauern, so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen,
die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Not, damit sie ihre Kräfte ent¬
wickle. Klüger und vorsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und
thatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo
Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß
zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles darnach angelegt,
und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese
Verjüngungsepoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und
wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auf dieser lieben alten
Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben." Es ist dasselbe, wenn er (am 18. Januar
1825) sagt: "Die Welt bleibt immer dieselbe, die Zustände wiederholen sich,
das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andre, warum sollte denn der
eine Poet nicht wie der andre dichten?"

Schopenhauer hat im zweiten Bande seines Hauptwerkes, den Goethe
nicht kannte, der Geschichte ein eignes Kapitel gewidmet und spricht sich darin
sehr entschieden gegen das Bestreben Hegels aus, die Weltgeschichte als ein plan¬
mäßiges Ganze zu fassen. Diese Konstruktionsgcschichten, erklärt er, "laufen, von
plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften,
fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik
und Industrie hinaus, weil diese in der That die allein mögliche ist, da das
Moralische im wesentlichen unverändert bleibt." Aber auch schon im ersten
Bande, den Goethe kannte, besonders im vierten Buche, betont er wiederholt
"das Vergebliche und Nichtige" des ganzen Strebens der Menschheit. In K 62
sagt er: "Erreichte der Staat seinen Zweck vollkommen, so könnte gewisser¬
maßen, da er, durch die in ihm vereinigten Menschenkräfte, auch die übrige
Natur sich mehr und mehr dienstbar zu machen weiß, zuletzt, durch Fortschaffung
aller Arten von Übel, etwas dem Schlarafsenlande sich annäherndes zu stände
kommen. Allein teils ist er noch sehr weit von diesem Ziele entfernt, teils würden
noch immer unzählige, dem Leben durchaus wesentliche Übel es nach wie vor im
Leiden erhalten." Selbst der Askese, der "Verneinung des Willens" in Schopenhauers
philosophischer Sprache, steht Goethe nicht so fern, wie es scheinen möchte, er läßt
sie gelten, und sie giebt ihm Veranlassung, die welterlösende Macht des Christen¬
tums zu preisen. Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht, was er in den "Wander¬
jahren" (2. Buch, Kapitel 1) einen der Pädagogen in der pädagogischen Pro¬
vinz sagen läßt: "Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet
auf die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliche, weil
sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart, es ist ein Letztes, wozu
die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde


Goethe und Schopenhauer.

Würdig ist, was er darüber am 23. Oktober 1828 zu Eckermann auf dessen Be¬
merkung, daß die Entwicklung der Menschheit auf Jahrtausende angelegt scheine,
sagte. „Wer weiß," erwiederte Goethe, „vielleicht auf Millionen. Aber laß
die Menschheit dauern, so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen,
die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Not, damit sie ihre Kräfte ent¬
wickle. Klüger und vorsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und
thatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo
Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß
zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles darnach angelegt,
und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese
Verjüngungsepoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und
wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auf dieser lieben alten
Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben." Es ist dasselbe, wenn er (am 18. Januar
1825) sagt: „Die Welt bleibt immer dieselbe, die Zustände wiederholen sich,
das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andre, warum sollte denn der
eine Poet nicht wie der andre dichten?"

Schopenhauer hat im zweiten Bande seines Hauptwerkes, den Goethe
nicht kannte, der Geschichte ein eignes Kapitel gewidmet und spricht sich darin
sehr entschieden gegen das Bestreben Hegels aus, die Weltgeschichte als ein plan¬
mäßiges Ganze zu fassen. Diese Konstruktionsgcschichten, erklärt er, „laufen, von
plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften,
fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik
und Industrie hinaus, weil diese in der That die allein mögliche ist, da das
Moralische im wesentlichen unverändert bleibt." Aber auch schon im ersten
Bande, den Goethe kannte, besonders im vierten Buche, betont er wiederholt
„das Vergebliche und Nichtige" des ganzen Strebens der Menschheit. In K 62
sagt er: „Erreichte der Staat seinen Zweck vollkommen, so könnte gewisser¬
maßen, da er, durch die in ihm vereinigten Menschenkräfte, auch die übrige
Natur sich mehr und mehr dienstbar zu machen weiß, zuletzt, durch Fortschaffung
aller Arten von Übel, etwas dem Schlarafsenlande sich annäherndes zu stände
kommen. Allein teils ist er noch sehr weit von diesem Ziele entfernt, teils würden
noch immer unzählige, dem Leben durchaus wesentliche Übel es nach wie vor im
Leiden erhalten." Selbst der Askese, der „Verneinung des Willens" in Schopenhauers
philosophischer Sprache, steht Goethe nicht so fern, wie es scheinen möchte, er läßt
sie gelten, und sie giebt ihm Veranlassung, die welterlösende Macht des Christen¬
tums zu preisen. Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht, was er in den „Wander¬
jahren" (2. Buch, Kapitel 1) einen der Pädagogen in der pädagogischen Pro¬
vinz sagen läßt: „Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet
auf die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliche, weil
sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart, es ist ein Letztes, wozu
die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde


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[0186] Goethe und Schopenhauer. Würdig ist, was er darüber am 23. Oktober 1828 zu Eckermann auf dessen Be¬ merkung, daß die Entwicklung der Menschheit auf Jahrtausende angelegt scheine, sagte. „Wer weiß," erwiederte Goethe, „vielleicht auf Millionen. Aber laß die Menschheit dauern, so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen, die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Not, damit sie ihre Kräfte ent¬ wickle. Klüger und vorsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles darnach angelegt, und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungsepoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auf dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben." Es ist dasselbe, wenn er (am 18. Januar 1825) sagt: „Die Welt bleibt immer dieselbe, die Zustände wiederholen sich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andre, warum sollte denn der eine Poet nicht wie der andre dichten?" Schopenhauer hat im zweiten Bande seines Hauptwerkes, den Goethe nicht kannte, der Geschichte ein eignes Kapitel gewidmet und spricht sich darin sehr entschieden gegen das Bestreben Hegels aus, die Weltgeschichte als ein plan¬ mäßiges Ganze zu fassen. Diese Konstruktionsgcschichten, erklärt er, „laufen, von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie hinaus, weil diese in der That die allein mögliche ist, da das Moralische im wesentlichen unverändert bleibt." Aber auch schon im ersten Bande, den Goethe kannte, besonders im vierten Buche, betont er wiederholt „das Vergebliche und Nichtige" des ganzen Strebens der Menschheit. In K 62 sagt er: „Erreichte der Staat seinen Zweck vollkommen, so könnte gewisser¬ maßen, da er, durch die in ihm vereinigten Menschenkräfte, auch die übrige Natur sich mehr und mehr dienstbar zu machen weiß, zuletzt, durch Fortschaffung aller Arten von Übel, etwas dem Schlarafsenlande sich annäherndes zu stände kommen. Allein teils ist er noch sehr weit von diesem Ziele entfernt, teils würden noch immer unzählige, dem Leben durchaus wesentliche Übel es nach wie vor im Leiden erhalten." Selbst der Askese, der „Verneinung des Willens" in Schopenhauers philosophischer Sprache, steht Goethe nicht so fern, wie es scheinen möchte, er läßt sie gelten, und sie giebt ihm Veranlassung, die welterlösende Macht des Christen¬ tums zu preisen. Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht, was er in den „Wander¬ jahren" (2. Buch, Kapitel 1) einen der Pädagogen in der pädagogischen Pro¬ vinz sagen läßt: „Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet auf die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliche, weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart, es ist ein Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/186>, abgerufen am 22.07.2024.