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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

Wirst keine Regel da vermissen;
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle, sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.
Genieße mäßig Füll' und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leven sich des Lebens freut.
Daun ist Vergangenheit beständig.
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen,
Was fruchtbar ist, allein ist wahr,
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schaar!
Und wie von Alters her im Stillen
Ein Liebcwerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen,
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.

Da dieses Gedicht die Berichtigung eines früher gedichteten ist, das die Über¬
schrift "Eins und Alles" trägt und die Weltanschauung Schellings durch¬
blicken läßt, so enthält es offenbar eine Kritik der gesamten nachkantischen
idealistischen Philosophie und ist in dieser Beziehung höchst wichtig.

Von Schopenhauers übrigen Werken hat Goethe keins gekannt, sie er¬
schienen erst, wie auch der zweite Band seines Hauptwerkes, nach dessen
Tode. Daher ist es auch kein Wunder, daß Goethe seinen philosophischen Freund
allmählich ganz aus den Augen verlor, um so schneller, als Schopenhauer sich
bekanntlich mehr und mehr einem einsiedlerischen Leben hingab. Nachdem er
einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, als Lehrer an der Berliner Universität
unter den Professoren festen Fuß zu fassen, ging er nach Frankfurt, wo er
als Sonderling, nicht als berühmter Philosoph, eine bekannte Persönlichkeit war.
Er mußte lange auf Anerkennung warten. Die wissenschaftlichen Kreise Deutsch¬
lands lagen so ganz im Banne der Hegelschen Phrasen, daß sie für gar nichts
andres Auge und Ohr hatten. Brockhaus, der Verleger, betrachtete die nicht
starken Auflagen der Schriften Schopenhauers resignirt als Makulatur. Erst
in den fünfziger Jahren, als man sich bei den hochtrabenden Orakelsprüchen des


Goethe und Schopenhauer.

Wirst keine Regel da vermissen;
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle, sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.
Genieße mäßig Füll' und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leven sich des Lebens freut.
Daun ist Vergangenheit beständig.
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen,
Was fruchtbar ist, allein ist wahr,
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schaar!
Und wie von Alters her im Stillen
Ein Liebcwerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen,
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.

Da dieses Gedicht die Berichtigung eines früher gedichteten ist, das die Über¬
schrift „Eins und Alles" trägt und die Weltanschauung Schellings durch¬
blicken läßt, so enthält es offenbar eine Kritik der gesamten nachkantischen
idealistischen Philosophie und ist in dieser Beziehung höchst wichtig.

Von Schopenhauers übrigen Werken hat Goethe keins gekannt, sie er¬
schienen erst, wie auch der zweite Band seines Hauptwerkes, nach dessen
Tode. Daher ist es auch kein Wunder, daß Goethe seinen philosophischen Freund
allmählich ganz aus den Augen verlor, um so schneller, als Schopenhauer sich
bekanntlich mehr und mehr einem einsiedlerischen Leben hingab. Nachdem er
einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, als Lehrer an der Berliner Universität
unter den Professoren festen Fuß zu fassen, ging er nach Frankfurt, wo er
als Sonderling, nicht als berühmter Philosoph, eine bekannte Persönlichkeit war.
Er mußte lange auf Anerkennung warten. Die wissenschaftlichen Kreise Deutsch¬
lands lagen so ganz im Banne der Hegelschen Phrasen, daß sie für gar nichts
andres Auge und Ohr hatten. Brockhaus, der Verleger, betrachtete die nicht
starken Auflagen der Schriften Schopenhauers resignirt als Makulatur. Erst
in den fünfziger Jahren, als man sich bei den hochtrabenden Orakelsprüchen des


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[0188] Goethe und Schopenhauer. Wirst keine Regel da vermissen; Denn das selbständige Gewissen Ist Sonne deinem Sittentag. Den Sinnen hast du dann zu trauen, Kein Falsches lassen sie dich schauen, Wenn dein Verstand dich wach erhält. Mit frischem Blick bemerke freudig Und wandle, sicher wie geschmeidig, Durch Auen reichbegabter Welt. Genieße mäßig Füll' und Segen, Vernunft sei überall zugegen, Wo Leven sich des Lebens freut. Daun ist Vergangenheit beständig. Das Künftige voraus lebendig, Der Augenblick ist Ewigkeit. Und war es endlich dir gelungen, Und bist du vom Gefühl durchdrungen, Was fruchtbar ist, allein ist wahr, Du prüfst das allgemeine Walten, Es wird nach seiner Weise schalten, Geselle dich zur kleinsten Schaar! Und wie von Alters her im Stillen Ein Liebcwerk nach eignem Willen Der Philosoph, der Dichter schuf, So wirst du schönste Gunst erzielen, Denn edlen Seelen vorzufühlen Ist wünschenswertester Beruf. Da dieses Gedicht die Berichtigung eines früher gedichteten ist, das die Über¬ schrift „Eins und Alles" trägt und die Weltanschauung Schellings durch¬ blicken läßt, so enthält es offenbar eine Kritik der gesamten nachkantischen idealistischen Philosophie und ist in dieser Beziehung höchst wichtig. Von Schopenhauers übrigen Werken hat Goethe keins gekannt, sie er¬ schienen erst, wie auch der zweite Band seines Hauptwerkes, nach dessen Tode. Daher ist es auch kein Wunder, daß Goethe seinen philosophischen Freund allmählich ganz aus den Augen verlor, um so schneller, als Schopenhauer sich bekanntlich mehr und mehr einem einsiedlerischen Leben hingab. Nachdem er einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, als Lehrer an der Berliner Universität unter den Professoren festen Fuß zu fassen, ging er nach Frankfurt, wo er als Sonderling, nicht als berühmter Philosoph, eine bekannte Persönlichkeit war. Er mußte lange auf Anerkennung warten. Die wissenschaftlichen Kreise Deutsch¬ lands lagen so ganz im Banne der Hegelschen Phrasen, daß sie für gar nichts andres Auge und Ohr hatten. Brockhaus, der Verleger, betrachtete die nicht starken Auflagen der Schriften Schopenhauers resignirt als Makulatur. Erst in den fünfziger Jahren, als man sich bei den hochtrabenden Orakelsprüchen des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/188>, abgerufen am 22.07.2024.