Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethe und Schopenhauer.

Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort.
Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz, die Erreichung gebiert schnell Sätti¬
gung, das Ziel war nur scheinbar, der Besitz nimmt den Schmerz weg, unter einer
neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein; wo nicht, so folgt
Öde, Leere, Langeweile, gegen die der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Not.
So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschenleben füllen
und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen sie doch nicht die
Unzulänglichkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes, das Leere und Schale
des Daseins zu verdecken oder die Langeweile auszuschließen, die immer bereit
ist, jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt. Daraus ist es entstanden,
daß der menschliche Geist, noch nicht zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen
und Beschäftigungen, die ihm die wirkliche Welt auferlegt, sich in der Gestalt
von tausend verschiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit
dieser sich dann auf alle Weise zu thun macht und Zeit und Kräfte an ihr
verschwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er gar
nicht, empfänglich ist."

Durchaus pessimistisch sind manche Äußerungen Goethes über seine wissen¬
schaftlichen Gegner. So klagte er Eckermann am 16. Oktober 1825: "Ich
hätte die Erbärmlichkeit der Menschen, und wie wenig es ihnen um wahrhaft
große Zwecke zu thun ist, nie so kennen gelernt, wenn ich mich nicht durch meine
naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht Hütte. Da aber sah ich,
daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und
daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben." Es
ist, als ob man Schopenhauer hörte, wenn er seinem Ärger über die Philoso¬
phieprofessoren Luft macht.

Noch stürmischer betont Goethe die Berechtigung einer pessimistischen Welt¬
anschauung in der dritten Abteilung der "Maximen und Reflexionen," wo er
unumwunden sagt: "Die empirisch sittliche Welt besteht größtenteils nur aus
bösem Willen und Neid." Schopenhauer verbreitet sich über diesen Punkt aus¬
führlich im vierten Buche (Z 59): "Jeder, der aus den ersten Jugendträumen er¬
wacht ist, eigne und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte
der Vergangenheit und des eignen Zeitalters, endlich in den Werken der großen
Dichter umgesehen hat, wird, wenn nicht irgend ein unauslöschlich eingeprägtes
Vorurteil seine Urteilskraft leidend, wohl das Resultat erkennen, daß diese
Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrtums ist, die unbarmherzig
darin schalten, im großen wie im kleinen, neben welchen aber noch Thorheit
und Bosheit die Geißel schwingen; daher es kommt, daß jedes Bessere nur
mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung
gelangt."

Wie Schopenhauer, so glaubt auch Goethe nicht an eine zusammenhängende
Weiterentwicklung der Menschheit nach einem idealen sittlichen Endziele. Merk-


Grenzboten IV. 1388. 23
Goethe und Schopenhauer.

Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort.
Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz, die Erreichung gebiert schnell Sätti¬
gung, das Ziel war nur scheinbar, der Besitz nimmt den Schmerz weg, unter einer
neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein; wo nicht, so folgt
Öde, Leere, Langeweile, gegen die der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Not.
So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschenleben füllen
und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen sie doch nicht die
Unzulänglichkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes, das Leere und Schale
des Daseins zu verdecken oder die Langeweile auszuschließen, die immer bereit
ist, jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt. Daraus ist es entstanden,
daß der menschliche Geist, noch nicht zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen
und Beschäftigungen, die ihm die wirkliche Welt auferlegt, sich in der Gestalt
von tausend verschiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit
dieser sich dann auf alle Weise zu thun macht und Zeit und Kräfte an ihr
verschwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er gar
nicht, empfänglich ist."

Durchaus pessimistisch sind manche Äußerungen Goethes über seine wissen¬
schaftlichen Gegner. So klagte er Eckermann am 16. Oktober 1825: „Ich
hätte die Erbärmlichkeit der Menschen, und wie wenig es ihnen um wahrhaft
große Zwecke zu thun ist, nie so kennen gelernt, wenn ich mich nicht durch meine
naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht Hütte. Da aber sah ich,
daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und
daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben." Es
ist, als ob man Schopenhauer hörte, wenn er seinem Ärger über die Philoso¬
phieprofessoren Luft macht.

Noch stürmischer betont Goethe die Berechtigung einer pessimistischen Welt¬
anschauung in der dritten Abteilung der „Maximen und Reflexionen," wo er
unumwunden sagt: „Die empirisch sittliche Welt besteht größtenteils nur aus
bösem Willen und Neid." Schopenhauer verbreitet sich über diesen Punkt aus¬
führlich im vierten Buche (Z 59): „Jeder, der aus den ersten Jugendträumen er¬
wacht ist, eigne und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte
der Vergangenheit und des eignen Zeitalters, endlich in den Werken der großen
Dichter umgesehen hat, wird, wenn nicht irgend ein unauslöschlich eingeprägtes
Vorurteil seine Urteilskraft leidend, wohl das Resultat erkennen, daß diese
Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrtums ist, die unbarmherzig
darin schalten, im großen wie im kleinen, neben welchen aber noch Thorheit
und Bosheit die Geißel schwingen; daher es kommt, daß jedes Bessere nur
mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung
gelangt."

Wie Schopenhauer, so glaubt auch Goethe nicht an eine zusammenhängende
Weiterentwicklung der Menschheit nach einem idealen sittlichen Endziele. Merk-


Grenzboten IV. 1388. 23
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203620"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethe und Schopenhauer.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_420" prev="#ID_419"> Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort.<lb/>
Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz, die Erreichung gebiert schnell Sätti¬<lb/>
gung, das Ziel war nur scheinbar, der Besitz nimmt den Schmerz weg, unter einer<lb/>
neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein; wo nicht, so folgt<lb/>
Öde, Leere, Langeweile, gegen die der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Not.<lb/>
So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschenleben füllen<lb/>
und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen sie doch nicht die<lb/>
Unzulänglichkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes, das Leere und Schale<lb/>
des Daseins zu verdecken oder die Langeweile auszuschließen, die immer bereit<lb/>
ist, jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt. Daraus ist es entstanden,<lb/>
daß der menschliche Geist, noch nicht zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen<lb/>
und Beschäftigungen, die ihm die wirkliche Welt auferlegt, sich in der Gestalt<lb/>
von tausend verschiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit<lb/>
dieser sich dann auf alle Weise zu thun macht und Zeit und Kräfte an ihr<lb/>
verschwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er gar<lb/>
nicht, empfänglich ist."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_421"> Durchaus pessimistisch sind manche Äußerungen Goethes über seine wissen¬<lb/>
schaftlichen Gegner. So klagte er Eckermann am 16. Oktober 1825: &#x201E;Ich<lb/>
hätte die Erbärmlichkeit der Menschen, und wie wenig es ihnen um wahrhaft<lb/>
große Zwecke zu thun ist, nie so kennen gelernt, wenn ich mich nicht durch meine<lb/>
naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht Hütte. Da aber sah ich,<lb/>
daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und<lb/>
daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben." Es<lb/>
ist, als ob man Schopenhauer hörte, wenn er seinem Ärger über die Philoso¬<lb/>
phieprofessoren Luft macht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_422"> Noch stürmischer betont Goethe die Berechtigung einer pessimistischen Welt¬<lb/>
anschauung in der dritten Abteilung der &#x201E;Maximen und Reflexionen," wo er<lb/>
unumwunden sagt: &#x201E;Die empirisch sittliche Welt besteht größtenteils nur aus<lb/>
bösem Willen und Neid." Schopenhauer verbreitet sich über diesen Punkt aus¬<lb/>
führlich im vierten Buche (Z 59): &#x201E;Jeder, der aus den ersten Jugendträumen er¬<lb/>
wacht ist, eigne und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte<lb/>
der Vergangenheit und des eignen Zeitalters, endlich in den Werken der großen<lb/>
Dichter umgesehen hat, wird, wenn nicht irgend ein unauslöschlich eingeprägtes<lb/>
Vorurteil seine Urteilskraft leidend, wohl das Resultat erkennen, daß diese<lb/>
Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrtums ist, die unbarmherzig<lb/>
darin schalten, im großen wie im kleinen, neben welchen aber noch Thorheit<lb/>
und Bosheit die Geißel schwingen; daher es kommt, daß jedes Bessere nur<lb/>
mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung<lb/>
gelangt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_423" next="#ID_424"> Wie Schopenhauer, so glaubt auch Goethe nicht an eine zusammenhängende<lb/>
Weiterentwicklung der Menschheit nach einem idealen sittlichen Endziele. Merk-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1388. 23</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0185] Goethe und Schopenhauer. Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz, die Erreichung gebiert schnell Sätti¬ gung, das Ziel war nur scheinbar, der Besitz nimmt den Schmerz weg, unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein; wo nicht, so folgt Öde, Leere, Langeweile, gegen die der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Not. So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschenleben füllen und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen sie doch nicht die Unzulänglichkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes, das Leere und Schale des Daseins zu verdecken oder die Langeweile auszuschließen, die immer bereit ist, jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt. Daraus ist es entstanden, daß der menschliche Geist, noch nicht zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen und Beschäftigungen, die ihm die wirkliche Welt auferlegt, sich in der Gestalt von tausend verschiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit dieser sich dann auf alle Weise zu thun macht und Zeit und Kräfte an ihr verschwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er gar nicht, empfänglich ist." Durchaus pessimistisch sind manche Äußerungen Goethes über seine wissen¬ schaftlichen Gegner. So klagte er Eckermann am 16. Oktober 1825: „Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen, und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu thun ist, nie so kennen gelernt, wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht Hütte. Da aber sah ich, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben." Es ist, als ob man Schopenhauer hörte, wenn er seinem Ärger über die Philoso¬ phieprofessoren Luft macht. Noch stürmischer betont Goethe die Berechtigung einer pessimistischen Welt¬ anschauung in der dritten Abteilung der „Maximen und Reflexionen," wo er unumwunden sagt: „Die empirisch sittliche Welt besteht größtenteils nur aus bösem Willen und Neid." Schopenhauer verbreitet sich über diesen Punkt aus¬ führlich im vierten Buche (Z 59): „Jeder, der aus den ersten Jugendträumen er¬ wacht ist, eigne und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte der Vergangenheit und des eignen Zeitalters, endlich in den Werken der großen Dichter umgesehen hat, wird, wenn nicht irgend ein unauslöschlich eingeprägtes Vorurteil seine Urteilskraft leidend, wohl das Resultat erkennen, daß diese Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrtums ist, die unbarmherzig darin schalten, im großen wie im kleinen, neben welchen aber noch Thorheit und Bosheit die Geißel schwingen; daher es kommt, daß jedes Bessere nur mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung gelangt." Wie Schopenhauer, so glaubt auch Goethe nicht an eine zusammenhängende Weiterentwicklung der Menschheit nach einem idealen sittlichen Endziele. Merk- Grenzboten IV. 1388. 23

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/185
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/185>, abgerufen am 22.07.2024.