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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

kennen, daß "die Welt als Wille" einen Eindruck auf ihn gemacht und ihn zu ver¬
schiedenen Betrachtungen veranlaßt hat. So legt er sich das Verhältnis des
Individuums zur Gattung im Schopenhcmerschen Sinne zurecht. "Das All¬
gemeine," sagt er in den "Betrachtungen im Sinne der Wandrer," "und Be¬
sondre fallen zusammen, das Besondre ist das Allgemeine unter verschiedenen
Bedingungen erscheinend." Und in der dritten Abteilung der "Maximen und Re¬
flexionen": "Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondre das Allgemeine
repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche
Offenbarung des Unerforschlichen. -- Die Idee ist ewig und einzig; daß wir
auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr werden
und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe
sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff. -- Wie man
gebildete Menschen sieht, so findet man, daß sie nur für eine Manifestation
des Urwesens oder doch nur für wenige empfänglich sind, und dies ist schon
genug." Schopenhauer drückt dies so aus (3. Buch, Kap. 29): "Hat der In¬
tellekt Kraft genug, das Übergewicht zu erlangen und die Beziehungen der
Dinge auf den Willen ganz fahren zu lassen, um statt ihrer das durch alle
Relationen hindurch sich aussprechende, rein objektive Wesen einer Erscheinung
aufzufassen, so verläßt er, mit dem Dienste des Willens zugleich, auch die Auf¬
fassung bloßer Relationen und damit auch die des einzelnen Dinges als solchen.
Er schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig; im einzelnen Dinge
erkennt er bloß das Wesentliche und daher die ganze Gattung desselben, folglich
hat er zu seinem Objekte jetzt die Ideen, also die beharrenden, unwandelbaren,
von der zeitlichen Existenz der Einzelwesen unabhängigen Gestalten, die sxsoios
rsrum, als welche eigentlich das rein Objektive der Erscheinungen ausmachen."
Ja man kann die angeführten Äußerungen Goethes auch im transscenden¬
ten Sinne auf den Urgrund aller Dinge beziehen, und dann würden sie mit
dem übereinstimmen, was Schopenhauer an andrer Stelle (2. Buch, Kap. 25)
sagt: "Inzwischen ist mir, bei Betrachtung der Unermeßlichkeit der Welt, das
Wichtigste dieses, daß das Wesen an sich, dessen Erscheinung die Welt ist --
was immer es auch sein möchte --, doch nicht sein wahres Selbst solchergestalt
im grenzenlosen Raume auseinandergezogen und zerteilt haben kann, sondern
diese unendliche Ausdehnung ganz allein seiner Erscheinung angehört, es selbst
hingegen in jeglichem Dinge der Natur, in jedem Lebenden, ganz und ungeteilt
gegenwärtig ist; daher eben man nichts verliert, wenn man bei irgend einem
einzelnen stehen bleibt, und auch die wahre Weisheit nicht dadurch zu erlangen
ist, daß man die grenzenlose Welt ausmißt, oder, was noch zweckmäßiger wäre,
den endlosen Raum persönlich durch flöge, sondern vielmehr dadurch, daß man
irgend ein einzelnes ganz erforscht, indem man das wahre und eigentliche Wesen
desselben vollkommen erkennen und verstehen zu lernen sucht."

Auch der Grundgedanke Schopenhauers, daß der Wille zum Leben sich


Goethe und Schopenhauer.

kennen, daß „die Welt als Wille" einen Eindruck auf ihn gemacht und ihn zu ver¬
schiedenen Betrachtungen veranlaßt hat. So legt er sich das Verhältnis des
Individuums zur Gattung im Schopenhcmerschen Sinne zurecht. „Das All¬
gemeine," sagt er in den „Betrachtungen im Sinne der Wandrer," „und Be¬
sondre fallen zusammen, das Besondre ist das Allgemeine unter verschiedenen
Bedingungen erscheinend." Und in der dritten Abteilung der „Maximen und Re¬
flexionen": „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondre das Allgemeine
repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche
Offenbarung des Unerforschlichen. — Die Idee ist ewig und einzig; daß wir
auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr werden
und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe
sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff. — Wie man
gebildete Menschen sieht, so findet man, daß sie nur für eine Manifestation
des Urwesens oder doch nur für wenige empfänglich sind, und dies ist schon
genug." Schopenhauer drückt dies so aus (3. Buch, Kap. 29): „Hat der In¬
tellekt Kraft genug, das Übergewicht zu erlangen und die Beziehungen der
Dinge auf den Willen ganz fahren zu lassen, um statt ihrer das durch alle
Relationen hindurch sich aussprechende, rein objektive Wesen einer Erscheinung
aufzufassen, so verläßt er, mit dem Dienste des Willens zugleich, auch die Auf¬
fassung bloßer Relationen und damit auch die des einzelnen Dinges als solchen.
Er schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig; im einzelnen Dinge
erkennt er bloß das Wesentliche und daher die ganze Gattung desselben, folglich
hat er zu seinem Objekte jetzt die Ideen, also die beharrenden, unwandelbaren,
von der zeitlichen Existenz der Einzelwesen unabhängigen Gestalten, die sxsoios
rsrum, als welche eigentlich das rein Objektive der Erscheinungen ausmachen."
Ja man kann die angeführten Äußerungen Goethes auch im transscenden¬
ten Sinne auf den Urgrund aller Dinge beziehen, und dann würden sie mit
dem übereinstimmen, was Schopenhauer an andrer Stelle (2. Buch, Kap. 25)
sagt: „Inzwischen ist mir, bei Betrachtung der Unermeßlichkeit der Welt, das
Wichtigste dieses, daß das Wesen an sich, dessen Erscheinung die Welt ist —
was immer es auch sein möchte —, doch nicht sein wahres Selbst solchergestalt
im grenzenlosen Raume auseinandergezogen und zerteilt haben kann, sondern
diese unendliche Ausdehnung ganz allein seiner Erscheinung angehört, es selbst
hingegen in jeglichem Dinge der Natur, in jedem Lebenden, ganz und ungeteilt
gegenwärtig ist; daher eben man nichts verliert, wenn man bei irgend einem
einzelnen stehen bleibt, und auch die wahre Weisheit nicht dadurch zu erlangen
ist, daß man die grenzenlose Welt ausmißt, oder, was noch zweckmäßiger wäre,
den endlosen Raum persönlich durch flöge, sondern vielmehr dadurch, daß man
irgend ein einzelnes ganz erforscht, indem man das wahre und eigentliche Wesen
desselben vollkommen erkennen und verstehen zu lernen sucht."

Auch der Grundgedanke Schopenhauers, daß der Wille zum Leben sich


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[0182] Goethe und Schopenhauer. kennen, daß „die Welt als Wille" einen Eindruck auf ihn gemacht und ihn zu ver¬ schiedenen Betrachtungen veranlaßt hat. So legt er sich das Verhältnis des Individuums zur Gattung im Schopenhcmerschen Sinne zurecht. „Das All¬ gemeine," sagt er in den „Betrachtungen im Sinne der Wandrer," „und Be¬ sondre fallen zusammen, das Besondre ist das Allgemeine unter verschiedenen Bedingungen erscheinend." Und in der dritten Abteilung der „Maximen und Re¬ flexionen": „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondre das Allgemeine repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen. — Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff. — Wie man gebildete Menschen sieht, so findet man, daß sie nur für eine Manifestation des Urwesens oder doch nur für wenige empfänglich sind, und dies ist schon genug." Schopenhauer drückt dies so aus (3. Buch, Kap. 29): „Hat der In¬ tellekt Kraft genug, das Übergewicht zu erlangen und die Beziehungen der Dinge auf den Willen ganz fahren zu lassen, um statt ihrer das durch alle Relationen hindurch sich aussprechende, rein objektive Wesen einer Erscheinung aufzufassen, so verläßt er, mit dem Dienste des Willens zugleich, auch die Auf¬ fassung bloßer Relationen und damit auch die des einzelnen Dinges als solchen. Er schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig; im einzelnen Dinge erkennt er bloß das Wesentliche und daher die ganze Gattung desselben, folglich hat er zu seinem Objekte jetzt die Ideen, also die beharrenden, unwandelbaren, von der zeitlichen Existenz der Einzelwesen unabhängigen Gestalten, die sxsoios rsrum, als welche eigentlich das rein Objektive der Erscheinungen ausmachen." Ja man kann die angeführten Äußerungen Goethes auch im transscenden¬ ten Sinne auf den Urgrund aller Dinge beziehen, und dann würden sie mit dem übereinstimmen, was Schopenhauer an andrer Stelle (2. Buch, Kap. 25) sagt: „Inzwischen ist mir, bei Betrachtung der Unermeßlichkeit der Welt, das Wichtigste dieses, daß das Wesen an sich, dessen Erscheinung die Welt ist — was immer es auch sein möchte —, doch nicht sein wahres Selbst solchergestalt im grenzenlosen Raume auseinandergezogen und zerteilt haben kann, sondern diese unendliche Ausdehnung ganz allein seiner Erscheinung angehört, es selbst hingegen in jeglichem Dinge der Natur, in jedem Lebenden, ganz und ungeteilt gegenwärtig ist; daher eben man nichts verliert, wenn man bei irgend einem einzelnen stehen bleibt, und auch die wahre Weisheit nicht dadurch zu erlangen ist, daß man die grenzenlose Welt ausmißt, oder, was noch zweckmäßiger wäre, den endlosen Raum persönlich durch flöge, sondern vielmehr dadurch, daß man irgend ein einzelnes ganz erforscht, indem man das wahre und eigentliche Wesen desselben vollkommen erkennen und verstehen zu lernen sucht." Auch der Grundgedanke Schopenhauers, daß der Wille zum Leben sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/182>, abgerufen am 03.07.2024.