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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

auf allen Stufen des organischen und unorganischen Lebens objektivire und
somit alles mit einer Art Bewußtsein, das freilich von dem menschlichen sich weit
entfernt, durchdringe, klingt bei Goethe an. So in "Makariens Archiv": "Das
Unsterbliche ist nicht dem sterblichen Lebenden zu vergleichen, und doch ist auch
das bloß Lebende verständig. So weiß der Magen recht gut, wenn er hungert
und dürstet. Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen,
wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des einen dringen, woher alles entspringt
und worauf alles zurückzuführen wäre."

Auf den Willen als weltbewegende Macht legte Goethe, freilich nur mit
Beziehung auf den Menschen, in den spätern Jahren seines Lebens wiederholt
ein besondres Gewicht. So sagte er am 12. Mai 1825 zu Eckermann: "Was
können wir denn unser Eignes nennen als die Energie, die Kraft, das WollenI"
Und am 4. Febr. 1829: "Die Überzeugung unsrer Fortdauer entspringt nur
aus dem Begriffe der Thätigkeit, denn wenn ich bis an mein Ende rastlos
wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andre Form des Daseins anzu¬
weisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag." Den
"Willen zum Leben" könnte man auch aus dem Satze heraushören, den er in
"Problem und Erwiederung" ausspricht: "Die Natur hat kein System, sie hat,
sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkenn¬
baren Grenze." Schopenhauer sagt (2. Buch, Z 29): "In der That gehört
Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen zum Wesen des Willens an sich, der
ein endloses Streben ist."

Den Tod charakterisirt Goethe als eine Pause im kontinuirlichem Zuge des
Lebens mit demselben Bilde wie Schopenhauer. Am 2. Mai 1824 betrachtete
er die untergehende Sonne und sagte zu Eckermann: "Wenn einer 76 Jahre
alt ist, kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt
dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser
Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen
unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fort¬
leuchtet." Schopenhauer drückt dies (4. Buch, § 54) so aus: "Der Objek-
tivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als aus¬
dehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und
unverrückbar fest steht, gleich einem immerwährenden Mittag, ohne kühlenden
Abend; wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur schein¬
bar in den Schoß der Nacht sinkt; daher, wenn ein Mensch den Tod als seine
Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne
könne am Abend klagen: "Wehe mir! ich gehe unter in ewige Nacht." In der
dritten Auflage seines Werkes hat er dieser Stelle die Anmerkung hinzugefügt:
"Goethe hat das Gleichnis von mir, nicht etwa ich von ihm. Ohne Zweifel
gebraucht er es infolge einer, vielleicht unbewußten Reminiscenz obiger Stelle,


Goethe und Schopenhauer.

auf allen Stufen des organischen und unorganischen Lebens objektivire und
somit alles mit einer Art Bewußtsein, das freilich von dem menschlichen sich weit
entfernt, durchdringe, klingt bei Goethe an. So in „Makariens Archiv": „Das
Unsterbliche ist nicht dem sterblichen Lebenden zu vergleichen, und doch ist auch
das bloß Lebende verständig. So weiß der Magen recht gut, wenn er hungert
und dürstet. Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen,
wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des einen dringen, woher alles entspringt
und worauf alles zurückzuführen wäre."

Auf den Willen als weltbewegende Macht legte Goethe, freilich nur mit
Beziehung auf den Menschen, in den spätern Jahren seines Lebens wiederholt
ein besondres Gewicht. So sagte er am 12. Mai 1825 zu Eckermann: „Was
können wir denn unser Eignes nennen als die Energie, die Kraft, das WollenI"
Und am 4. Febr. 1829: „Die Überzeugung unsrer Fortdauer entspringt nur
aus dem Begriffe der Thätigkeit, denn wenn ich bis an mein Ende rastlos
wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andre Form des Daseins anzu¬
weisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag." Den
„Willen zum Leben" könnte man auch aus dem Satze heraushören, den er in
„Problem und Erwiederung" ausspricht: „Die Natur hat kein System, sie hat,
sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkenn¬
baren Grenze." Schopenhauer sagt (2. Buch, Z 29): „In der That gehört
Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen zum Wesen des Willens an sich, der
ein endloses Streben ist."

Den Tod charakterisirt Goethe als eine Pause im kontinuirlichem Zuge des
Lebens mit demselben Bilde wie Schopenhauer. Am 2. Mai 1824 betrachtete
er die untergehende Sonne und sagte zu Eckermann: „Wenn einer 76 Jahre
alt ist, kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt
dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser
Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen
unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fort¬
leuchtet." Schopenhauer drückt dies (4. Buch, § 54) so aus: „Der Objek-
tivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als aus¬
dehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und
unverrückbar fest steht, gleich einem immerwährenden Mittag, ohne kühlenden
Abend; wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur schein¬
bar in den Schoß der Nacht sinkt; daher, wenn ein Mensch den Tod als seine
Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne
könne am Abend klagen: „Wehe mir! ich gehe unter in ewige Nacht." In der
dritten Auflage seines Werkes hat er dieser Stelle die Anmerkung hinzugefügt:
„Goethe hat das Gleichnis von mir, nicht etwa ich von ihm. Ohne Zweifel
gebraucht er es infolge einer, vielleicht unbewußten Reminiscenz obiger Stelle,


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[0183] Goethe und Schopenhauer. auf allen Stufen des organischen und unorganischen Lebens objektivire und somit alles mit einer Art Bewußtsein, das freilich von dem menschlichen sich weit entfernt, durchdringe, klingt bei Goethe an. So in „Makariens Archiv": „Das Unsterbliche ist nicht dem sterblichen Lebenden zu vergleichen, und doch ist auch das bloß Lebende verständig. So weiß der Magen recht gut, wenn er hungert und dürstet. Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des einen dringen, woher alles entspringt und worauf alles zurückzuführen wäre." Auf den Willen als weltbewegende Macht legte Goethe, freilich nur mit Beziehung auf den Menschen, in den spätern Jahren seines Lebens wiederholt ein besondres Gewicht. So sagte er am 12. Mai 1825 zu Eckermann: „Was können wir denn unser Eignes nennen als die Energie, die Kraft, das WollenI" Und am 4. Febr. 1829: „Die Überzeugung unsrer Fortdauer entspringt nur aus dem Begriffe der Thätigkeit, denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andre Form des Daseins anzu¬ weisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag." Den „Willen zum Leben" könnte man auch aus dem Satze heraushören, den er in „Problem und Erwiederung" ausspricht: „Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu einer nicht erkenn¬ baren Grenze." Schopenhauer sagt (2. Buch, Z 29): „In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist." Den Tod charakterisirt Goethe als eine Pause im kontinuirlichem Zuge des Lebens mit demselben Bilde wie Schopenhauer. Am 2. Mai 1824 betrachtete er die untergehende Sonne und sagte zu Eckermann: „Wenn einer 76 Jahre alt ist, kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fort¬ leuchtet." Schopenhauer drückt dies (4. Buch, § 54) so aus: „Der Objek- tivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als aus¬ dehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und unverrückbar fest steht, gleich einem immerwährenden Mittag, ohne kühlenden Abend; wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur schein¬ bar in den Schoß der Nacht sinkt; daher, wenn ein Mensch den Tod als seine Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne könne am Abend klagen: „Wehe mir! ich gehe unter in ewige Nacht." In der dritten Auflage seines Werkes hat er dieser Stelle die Anmerkung hinzugefügt: „Goethe hat das Gleichnis von mir, nicht etwa ich von ihm. Ohne Zweifel gebraucht er es infolge einer, vielleicht unbewußten Reminiscenz obiger Stelle,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/183>, abgerufen am 22.07.2024.