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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

diese versenkt und das ganze Bewußtsein ausfüllen läßt durch die ruhige Kon¬
templation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Land¬
schaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer, indem man nach
einer sinnvollen deutschen Redensart sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert,
d. h. eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines
Subjekt, als klarer Spiegel des Objektes bestehend bleibt, so daß es ist, als ob
der Gegenstand allein da wäre, ohne jemanden, der ihn wahrnimmt, und man
also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern
beide eins geworden sind, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen an¬
schaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist, wenn also solchermaßen
das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller
Relation zum Willen getreten ist, dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr
das einzelne Ding als solches, sondern es ist die Idee, die ewige Form, die
unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe, und eben darum ist
der in dieser Anschauung begriffene nicht mehr Individuum, sondern er ist
ein reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis." Nur
daß Schopenhauer, wie er an einer andern Stelle ausdrücklich hervorhebt, das
mathematische Denken als dem Satze des Grundes unterworfen von dem genialen
Schauen abtrennt, ja diesem entgegensetzt. Wenn man sich erinnert, wie freudig
Goethe den Auseinandersetzungen Schopenhauers über das künstlerische Schaffen
beistimmte, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß ihm bei den vielumstritte¬
nen Müttern im zweiten Teile des Faust nicht bloß Plutarchs trockne Notizen,
sondern mehr noch die Platonisch-Schopenhauerischen Ideen vorschwebten. Man
betrachte nur den Zusammenhang, in dem die Mütter vorkommen: der Zauber¬
schlüssel der poetischen Kraft führt in das Reich der Mütter, die von den Ur¬
bildern der Dinge umgeben sind, und bringt von dort herauf den Dreifuß,
aus dessen Zaubergewölk sich die poetischen Gestalten entwickeln. Trifft diese
Deutung nicht mit Schopenhauers Verherrlichung der Ideen nahe zusammen?
Ebenso teilt Goethe Schopenhauers Ansicht, daß das Genie von den Zeitgenossen
nicht erkannt werden könne, sondern die verdiente Würdigung von der Nachwelt
erhoffen müsse. So sagt er in der dritten Abteilung der "Maximen und Re¬
flexionen": "Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen, lebendigen
Gefühle, daß es ein Unvergängliches gebe und, wenn auch uicht gleich anerkannt
doch zuletzt aus der Minorität sich der Majorität werde zu erfreuen haben."
Schopenhauer, der dieses Thema in seinen spätern Schriften in den mannig¬
faltigsten Variationen abhandelt, sagt schon in seinem Hauptwerke (3. Buch,
Z 31): "So klein ist das eigentliche Publikum echter Philosophen, daß selbst
die Schüler, die verstehen, ihnen nur sparsam von den Jahrhunderten gebracht
werden."

So wenig Goethe sich berufen gefühlt haben mag, dem methaphhsischen
Grundgedanken Schopenhauers näher zu treten, so ist es doch nicht zu ver-


Goethe und Schopenhauer.

diese versenkt und das ganze Bewußtsein ausfüllen läßt durch die ruhige Kon¬
templation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Land¬
schaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer, indem man nach
einer sinnvollen deutschen Redensart sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert,
d. h. eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines
Subjekt, als klarer Spiegel des Objektes bestehend bleibt, so daß es ist, als ob
der Gegenstand allein da wäre, ohne jemanden, der ihn wahrnimmt, und man
also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern
beide eins geworden sind, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen an¬
schaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist, wenn also solchermaßen
das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller
Relation zum Willen getreten ist, dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr
das einzelne Ding als solches, sondern es ist die Idee, die ewige Form, die
unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe, und eben darum ist
der in dieser Anschauung begriffene nicht mehr Individuum, sondern er ist
ein reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis." Nur
daß Schopenhauer, wie er an einer andern Stelle ausdrücklich hervorhebt, das
mathematische Denken als dem Satze des Grundes unterworfen von dem genialen
Schauen abtrennt, ja diesem entgegensetzt. Wenn man sich erinnert, wie freudig
Goethe den Auseinandersetzungen Schopenhauers über das künstlerische Schaffen
beistimmte, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß ihm bei den vielumstritte¬
nen Müttern im zweiten Teile des Faust nicht bloß Plutarchs trockne Notizen,
sondern mehr noch die Platonisch-Schopenhauerischen Ideen vorschwebten. Man
betrachte nur den Zusammenhang, in dem die Mütter vorkommen: der Zauber¬
schlüssel der poetischen Kraft führt in das Reich der Mütter, die von den Ur¬
bildern der Dinge umgeben sind, und bringt von dort herauf den Dreifuß,
aus dessen Zaubergewölk sich die poetischen Gestalten entwickeln. Trifft diese
Deutung nicht mit Schopenhauers Verherrlichung der Ideen nahe zusammen?
Ebenso teilt Goethe Schopenhauers Ansicht, daß das Genie von den Zeitgenossen
nicht erkannt werden könne, sondern die verdiente Würdigung von der Nachwelt
erhoffen müsse. So sagt er in der dritten Abteilung der „Maximen und Re¬
flexionen": „Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen, lebendigen
Gefühle, daß es ein Unvergängliches gebe und, wenn auch uicht gleich anerkannt
doch zuletzt aus der Minorität sich der Majorität werde zu erfreuen haben."
Schopenhauer, der dieses Thema in seinen spätern Schriften in den mannig¬
faltigsten Variationen abhandelt, sagt schon in seinem Hauptwerke (3. Buch,
Z 31): „So klein ist das eigentliche Publikum echter Philosophen, daß selbst
die Schüler, die verstehen, ihnen nur sparsam von den Jahrhunderten gebracht
werden."

So wenig Goethe sich berufen gefühlt haben mag, dem methaphhsischen
Grundgedanken Schopenhauers näher zu treten, so ist es doch nicht zu ver-


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[0181] Goethe und Schopenhauer. diese versenkt und das ganze Bewußtsein ausfüllen läßt durch die ruhige Kon¬ templation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Land¬ schaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer, indem man nach einer sinnvollen deutschen Redensart sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objektes bestehend bleibt, so daß es ist, als ob der Gegenstand allein da wäre, ohne jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide eins geworden sind, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen an¬ schaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist, wenn also solchermaßen das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist, dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches, sondern es ist die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe, und eben darum ist der in dieser Anschauung begriffene nicht mehr Individuum, sondern er ist ein reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis." Nur daß Schopenhauer, wie er an einer andern Stelle ausdrücklich hervorhebt, das mathematische Denken als dem Satze des Grundes unterworfen von dem genialen Schauen abtrennt, ja diesem entgegensetzt. Wenn man sich erinnert, wie freudig Goethe den Auseinandersetzungen Schopenhauers über das künstlerische Schaffen beistimmte, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß ihm bei den vielumstritte¬ nen Müttern im zweiten Teile des Faust nicht bloß Plutarchs trockne Notizen, sondern mehr noch die Platonisch-Schopenhauerischen Ideen vorschwebten. Man betrachte nur den Zusammenhang, in dem die Mütter vorkommen: der Zauber¬ schlüssel der poetischen Kraft führt in das Reich der Mütter, die von den Ur¬ bildern der Dinge umgeben sind, und bringt von dort herauf den Dreifuß, aus dessen Zaubergewölk sich die poetischen Gestalten entwickeln. Trifft diese Deutung nicht mit Schopenhauers Verherrlichung der Ideen nahe zusammen? Ebenso teilt Goethe Schopenhauers Ansicht, daß das Genie von den Zeitgenossen nicht erkannt werden könne, sondern die verdiente Würdigung von der Nachwelt erhoffen müsse. So sagt er in der dritten Abteilung der „Maximen und Re¬ flexionen": „Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen, lebendigen Gefühle, daß es ein Unvergängliches gebe und, wenn auch uicht gleich anerkannt doch zuletzt aus der Minorität sich der Majorität werde zu erfreuen haben." Schopenhauer, der dieses Thema in seinen spätern Schriften in den mannig¬ faltigsten Variationen abhandelt, sagt schon in seinem Hauptwerke (3. Buch, Z 31): „So klein ist das eigentliche Publikum echter Philosophen, daß selbst die Schüler, die verstehen, ihnen nur sparsam von den Jahrhunderten gebracht werden." So wenig Goethe sich berufen gefühlt haben mag, dem methaphhsischen Grundgedanken Schopenhauers näher zu treten, so ist es doch nicht zu ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/181>, abgerufen am 01.07.2024.