Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.Kultur und Technik. die ästhetischen Gefühle die tiefsten sind und nur äußerlich verschieden sich kund¬ Die ästhetische Ehrenrettung der Techniker ist Popper gelungen. M nie Da fragt es sich zunächst: Was ist unter "Kultur" zu verstehen? Jedes Grenzboten IV. 1333. 22
Kultur und Technik. die ästhetischen Gefühle die tiefsten sind und nur äußerlich verschieden sich kund¬ Die ästhetische Ehrenrettung der Techniker ist Popper gelungen. M nie Da fragt es sich zunächst: Was ist unter „Kultur" zu verstehen? Jedes Grenzboten IV. 1333. 22
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0177" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203612"/> <fw type="header" place="top"> Kultur und Technik.</fw><lb/> <p xml:id="ID_398" prev="#ID_397"> die ästhetischen Gefühle die tiefsten sind und nur äußerlich verschieden sich kund¬<lb/> geben. Schillers „Spieltrieb" hat in den „ästhetischen Äquivalenzen" seine<lb/> bedeutsame weltgeschichtliche Formulirung bekommen. Popper steht auf klassisch¬<lb/> humanistischem Boden und läßt sich von Darwinisten und ähnlichen Wolkengängern<lb/> nicht in die Irre leiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_399"> Die ästhetische Ehrenrettung der Techniker ist Popper gelungen. M nie<lb/> suol an! Auch im Reiche des Dampfkessels und des Treibriemens kommt der<lb/> Mensch als Mensch zur Geltung, und auch die Zeit der Maschinen entbehrt<lb/> durchaus nicht des Idealismus. Was hat aber ihre „ästhetische Äquivalenz"<lb/> für die Kultur geleistet?</p><lb/> <p xml:id="ID_400" next="#ID_401"> Da fragt es sich zunächst: Was ist unter „Kultur" zu verstehen? Jedes<lb/> Volk auf dem Erdkreise hat sich ein anders Ideal von Kultur gebildet; jedes<lb/> Volk hält seine Kultur für die beste und findet es durchaus nicht wünschens¬<lb/> wert, sie mit der eines andern zu vertauschen. Der Türke will kein Russe, der<lb/> Araber kein Europäer, der Chinese kein Amerikaner sein. Es giebt viele Kul¬<lb/> turen. Woran mißt man ihren Wert? Man muß doch so duldsam sein, jedem<lb/> sein Ideal zu lassen. Aber auch unter den Europäern selbst ist der Begriff der<lb/> Kultur, der Maßstab, an dem ihr Wert gemessen werden soll, verschieden.<lb/> „Liebig wollte den Grad der Kultur eines Volkes nach dem Verbrauche von<lb/> Seife, also nach dem Grade der körperlichen Reinlichkeit messen. Ein andrer,<lb/> der Geologe Bernhard von Cotta, meinte, die Kultur eines Staates werde am<lb/> besten nach der Menge der vorhandenen Wasserstraßen bemessen. Einige meinen,<lb/> die Stellung der Frau im bürgerlichen Leben; andre, eine große Zahl von geist¬<lb/> reichen Salons bezeichne die Höhe der Kultur; wieder andre: der Freihandel u. s. w."<lb/> Bei dieser Verschiedenheit der Meinungen hält es Popper, „um ohne Anmaßung<lb/> einer absoluten Autorität, die ja niemand besitzt, und ohne Einmischung sub¬<lb/> jektiver Ansichten" zu urteilen, für notwendig, die Menschen, die Individuen selbst<lb/> zu befragen, was sie als die Aufgabe der Kultur empfinden, denn auf ihr Heil<lb/> ist ja alles Streben der Kultur gerichtet. „Und da glaube ich selber nicht fehl<lb/> zu gehen, wenn ich behaupte, es finde eine vollkommene Übereinstimmung aller<lb/> Menschen statt in dem Verlangen nach einer Kultur, d. i. Pflege ihrer Indi¬<lb/> vidualität. Pflege der Wissenschaft, der Kunst, der technischen Künste, der Reli¬<lb/> gion u. s. w. sind stets nur einzelne Seiten dieser Jndividualitätskultur und<lb/> gelten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bald mehr, bald<lb/> weniger, bald gar nicht. Die Jndividualitätskultur jedoch gilt immer und<lb/> überall als Wunsch aller, als Ziel aller Thätigkeiten und als letzter Grund<lb/> aller Ereignisse. Individualität selbst aber, ein Begriff, der in der Biologie,<lb/> Ethik, Politik und Kunst von fundamentaler Bedeutung ist, muß so definirt<lb/> werden: Ein Individuum ist dasjenige Ding, das nicht aufhören will, und<lb/> zwar will es weder aufhören, überhaupt zu sein, noch nach seiner Art zu sein.<lb/> Dies ist eine Definition, die der der Materie durch die »Undurchdringlichkeit«,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1333. 22</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0177]
Kultur und Technik.
die ästhetischen Gefühle die tiefsten sind und nur äußerlich verschieden sich kund¬
geben. Schillers „Spieltrieb" hat in den „ästhetischen Äquivalenzen" seine
bedeutsame weltgeschichtliche Formulirung bekommen. Popper steht auf klassisch¬
humanistischem Boden und läßt sich von Darwinisten und ähnlichen Wolkengängern
nicht in die Irre leiten.
Die ästhetische Ehrenrettung der Techniker ist Popper gelungen. M nie
suol an! Auch im Reiche des Dampfkessels und des Treibriemens kommt der
Mensch als Mensch zur Geltung, und auch die Zeit der Maschinen entbehrt
durchaus nicht des Idealismus. Was hat aber ihre „ästhetische Äquivalenz"
für die Kultur geleistet?
Da fragt es sich zunächst: Was ist unter „Kultur" zu verstehen? Jedes
Volk auf dem Erdkreise hat sich ein anders Ideal von Kultur gebildet; jedes
Volk hält seine Kultur für die beste und findet es durchaus nicht wünschens¬
wert, sie mit der eines andern zu vertauschen. Der Türke will kein Russe, der
Araber kein Europäer, der Chinese kein Amerikaner sein. Es giebt viele Kul¬
turen. Woran mißt man ihren Wert? Man muß doch so duldsam sein, jedem
sein Ideal zu lassen. Aber auch unter den Europäern selbst ist der Begriff der
Kultur, der Maßstab, an dem ihr Wert gemessen werden soll, verschieden.
„Liebig wollte den Grad der Kultur eines Volkes nach dem Verbrauche von
Seife, also nach dem Grade der körperlichen Reinlichkeit messen. Ein andrer,
der Geologe Bernhard von Cotta, meinte, die Kultur eines Staates werde am
besten nach der Menge der vorhandenen Wasserstraßen bemessen. Einige meinen,
die Stellung der Frau im bürgerlichen Leben; andre, eine große Zahl von geist¬
reichen Salons bezeichne die Höhe der Kultur; wieder andre: der Freihandel u. s. w."
Bei dieser Verschiedenheit der Meinungen hält es Popper, „um ohne Anmaßung
einer absoluten Autorität, die ja niemand besitzt, und ohne Einmischung sub¬
jektiver Ansichten" zu urteilen, für notwendig, die Menschen, die Individuen selbst
zu befragen, was sie als die Aufgabe der Kultur empfinden, denn auf ihr Heil
ist ja alles Streben der Kultur gerichtet. „Und da glaube ich selber nicht fehl
zu gehen, wenn ich behaupte, es finde eine vollkommene Übereinstimmung aller
Menschen statt in dem Verlangen nach einer Kultur, d. i. Pflege ihrer Indi¬
vidualität. Pflege der Wissenschaft, der Kunst, der technischen Künste, der Reli¬
gion u. s. w. sind stets nur einzelne Seiten dieser Jndividualitätskultur und
gelten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bald mehr, bald
weniger, bald gar nicht. Die Jndividualitätskultur jedoch gilt immer und
überall als Wunsch aller, als Ziel aller Thätigkeiten und als letzter Grund
aller Ereignisse. Individualität selbst aber, ein Begriff, der in der Biologie,
Ethik, Politik und Kunst von fundamentaler Bedeutung ist, muß so definirt
werden: Ein Individuum ist dasjenige Ding, das nicht aufhören will, und
zwar will es weder aufhören, überhaupt zu sein, noch nach seiner Art zu sein.
Dies ist eine Definition, die der der Materie durch die »Undurchdringlichkeit«,
Grenzboten IV. 1333. 22
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |