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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Kultur und Technik,

reisen, nach Erforschung unbekannter Länder und Völker und der ungeheure
Enthusiasmus der Europäer für die Entdeckungen selbst, sowie für die kühnen
Seemänner, vom Admiral bis zum letzten Matrosen herab, der das Glück
hatte, zuerst neue Gegenden und bisher unbekannte Völker zu sehen. Mehrere
Jahrhunderte des Mittelalters hindurch war die Mystik eine im tiefsten
Grunde bloß ästhetische Äquivalenz, und bald nachher, als die positiv religiöse
Seite derselben immer mehr zurücktrat, verwandelte sich in Europa diese
ästhetische Form in die des Pantheismus, der in Indien und China seit langen
Zeiten und später auch im mohammedanischen Orient so einflußreich wurde . . . .
Die sonderbarste ästhetische Äquivalenz, die allerdings nur wenige Jahrzehnte
eine große Rolle spielte, war der Militarismus unter Napoleon. So wie Na¬
poleon in seinen Proklamationen und Bulletins eine neue Art von Stil, die
"militärische Poesie", wie die französischen Akademiker sie nannten, auf die Welt
brachte, so bewirkten seine Siege, das Lagerleben, die weiten Kriegszüge in ent>
fermee Länder einen bisher unbekannten Rausch; Anekdoten, wahre Geschichten,
Beschreibungen, Romane, alles dies wirkte zusammen, um einer ganzen Gene¬
ration auf dem europäischen Kontinent eine ästhetische Stimmung ganz
origineller Art zu bringen .... In unserm Jahrhundert ist die wissen¬
schaftliche und technische Äquivalenz eine Angelegenheit von mehr als zweihundert
Millionen Menschen." Die unfruchtbaren Ideale einer Zeit wie der Napoleo¬
nischen nennt Popper mit einem glücklichen Bilde "Lichtmottenideale"; in dieser
Zeit verzehren gleichsam die Menschen sich selbst.

Aus dem Wesen des ästhetischen Genusses, der mit Ruhe, d. h. mit Ab¬
wesenheit irgend eines Ermüdungsgefühlcs und mit der Unerschöpflichkeit der
freudigen Stimmung verbunden ist, hat Popper das Bedürfnis der Menschheit
nach Kunst und künstlerischen Eindrücken erklärt. Es ist eine Reaktion gegen
die Vergänglichkeit. "Ohne das permanente, instinktive Gefühl der Endlichkeit
des Individuums, also ohne das Sterbenmüssen, wäre der Drang nach ästhe¬
tischen Genüssen gar nicht so intensiv und im Dasein des Menschen nicht
entfernt so bedeutungsvoll, wie er wirklich ist." Um dieses Ziel der be¬
seligenden Täuschung des Menschen über seine Endlichkeit zu erreichen, traten
zu verschiedenen Zeiten verschiedene "ästhetische Äquivalenzen" auf, auch "Licht¬
mottenideale," welche die Kultur nicht gefördert haben. Die technischen Künste
und Wissenschaften sind auch solche "ästhetische Äquivalenzen." Welchen Wert
haben sie nun für die Kultur? Das ist die Frage, zu der sich Poppers Ge¬
dankengang zuspitzt.

Man erkennt schon aus dem Bisherigen, daß Popper, ein Mann der Natur¬
wissenschaft, auf gesundem Boden steht. Wie er als Physiker den gesamten
Kosmos als unveränderliche Summe von Kräften anzusehen gewöhnt ist, die
sich nur in verschiedenen Formen, je nach Umwandlung der Materie, offenbaren,
so erkennt er auch in der Menschheit die ewig sich gleich bleibende Natur, in der


Kultur und Technik,

reisen, nach Erforschung unbekannter Länder und Völker und der ungeheure
Enthusiasmus der Europäer für die Entdeckungen selbst, sowie für die kühnen
Seemänner, vom Admiral bis zum letzten Matrosen herab, der das Glück
hatte, zuerst neue Gegenden und bisher unbekannte Völker zu sehen. Mehrere
Jahrhunderte des Mittelalters hindurch war die Mystik eine im tiefsten
Grunde bloß ästhetische Äquivalenz, und bald nachher, als die positiv religiöse
Seite derselben immer mehr zurücktrat, verwandelte sich in Europa diese
ästhetische Form in die des Pantheismus, der in Indien und China seit langen
Zeiten und später auch im mohammedanischen Orient so einflußreich wurde . . . .
Die sonderbarste ästhetische Äquivalenz, die allerdings nur wenige Jahrzehnte
eine große Rolle spielte, war der Militarismus unter Napoleon. So wie Na¬
poleon in seinen Proklamationen und Bulletins eine neue Art von Stil, die
„militärische Poesie", wie die französischen Akademiker sie nannten, auf die Welt
brachte, so bewirkten seine Siege, das Lagerleben, die weiten Kriegszüge in ent>
fermee Länder einen bisher unbekannten Rausch; Anekdoten, wahre Geschichten,
Beschreibungen, Romane, alles dies wirkte zusammen, um einer ganzen Gene¬
ration auf dem europäischen Kontinent eine ästhetische Stimmung ganz
origineller Art zu bringen .... In unserm Jahrhundert ist die wissen¬
schaftliche und technische Äquivalenz eine Angelegenheit von mehr als zweihundert
Millionen Menschen." Die unfruchtbaren Ideale einer Zeit wie der Napoleo¬
nischen nennt Popper mit einem glücklichen Bilde „Lichtmottenideale"; in dieser
Zeit verzehren gleichsam die Menschen sich selbst.

Aus dem Wesen des ästhetischen Genusses, der mit Ruhe, d. h. mit Ab¬
wesenheit irgend eines Ermüdungsgefühlcs und mit der Unerschöpflichkeit der
freudigen Stimmung verbunden ist, hat Popper das Bedürfnis der Menschheit
nach Kunst und künstlerischen Eindrücken erklärt. Es ist eine Reaktion gegen
die Vergänglichkeit. „Ohne das permanente, instinktive Gefühl der Endlichkeit
des Individuums, also ohne das Sterbenmüssen, wäre der Drang nach ästhe¬
tischen Genüssen gar nicht so intensiv und im Dasein des Menschen nicht
entfernt so bedeutungsvoll, wie er wirklich ist." Um dieses Ziel der be¬
seligenden Täuschung des Menschen über seine Endlichkeit zu erreichen, traten
zu verschiedenen Zeiten verschiedene „ästhetische Äquivalenzen" auf, auch „Licht¬
mottenideale," welche die Kultur nicht gefördert haben. Die technischen Künste
und Wissenschaften sind auch solche „ästhetische Äquivalenzen." Welchen Wert
haben sie nun für die Kultur? Das ist die Frage, zu der sich Poppers Ge¬
dankengang zuspitzt.

Man erkennt schon aus dem Bisherigen, daß Popper, ein Mann der Natur¬
wissenschaft, auf gesundem Boden steht. Wie er als Physiker den gesamten
Kosmos als unveränderliche Summe von Kräften anzusehen gewöhnt ist, die
sich nur in verschiedenen Formen, je nach Umwandlung der Materie, offenbaren,
so erkennt er auch in der Menschheit die ewig sich gleich bleibende Natur, in der


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[0176] Kultur und Technik, reisen, nach Erforschung unbekannter Länder und Völker und der ungeheure Enthusiasmus der Europäer für die Entdeckungen selbst, sowie für die kühnen Seemänner, vom Admiral bis zum letzten Matrosen herab, der das Glück hatte, zuerst neue Gegenden und bisher unbekannte Völker zu sehen. Mehrere Jahrhunderte des Mittelalters hindurch war die Mystik eine im tiefsten Grunde bloß ästhetische Äquivalenz, und bald nachher, als die positiv religiöse Seite derselben immer mehr zurücktrat, verwandelte sich in Europa diese ästhetische Form in die des Pantheismus, der in Indien und China seit langen Zeiten und später auch im mohammedanischen Orient so einflußreich wurde . . . . Die sonderbarste ästhetische Äquivalenz, die allerdings nur wenige Jahrzehnte eine große Rolle spielte, war der Militarismus unter Napoleon. So wie Na¬ poleon in seinen Proklamationen und Bulletins eine neue Art von Stil, die „militärische Poesie", wie die französischen Akademiker sie nannten, auf die Welt brachte, so bewirkten seine Siege, das Lagerleben, die weiten Kriegszüge in ent> fermee Länder einen bisher unbekannten Rausch; Anekdoten, wahre Geschichten, Beschreibungen, Romane, alles dies wirkte zusammen, um einer ganzen Gene¬ ration auf dem europäischen Kontinent eine ästhetische Stimmung ganz origineller Art zu bringen .... In unserm Jahrhundert ist die wissen¬ schaftliche und technische Äquivalenz eine Angelegenheit von mehr als zweihundert Millionen Menschen." Die unfruchtbaren Ideale einer Zeit wie der Napoleo¬ nischen nennt Popper mit einem glücklichen Bilde „Lichtmottenideale"; in dieser Zeit verzehren gleichsam die Menschen sich selbst. Aus dem Wesen des ästhetischen Genusses, der mit Ruhe, d. h. mit Ab¬ wesenheit irgend eines Ermüdungsgefühlcs und mit der Unerschöpflichkeit der freudigen Stimmung verbunden ist, hat Popper das Bedürfnis der Menschheit nach Kunst und künstlerischen Eindrücken erklärt. Es ist eine Reaktion gegen die Vergänglichkeit. „Ohne das permanente, instinktive Gefühl der Endlichkeit des Individuums, also ohne das Sterbenmüssen, wäre der Drang nach ästhe¬ tischen Genüssen gar nicht so intensiv und im Dasein des Menschen nicht entfernt so bedeutungsvoll, wie er wirklich ist." Um dieses Ziel der be¬ seligenden Täuschung des Menschen über seine Endlichkeit zu erreichen, traten zu verschiedenen Zeiten verschiedene „ästhetische Äquivalenzen" auf, auch „Licht¬ mottenideale," welche die Kultur nicht gefördert haben. Die technischen Künste und Wissenschaften sind auch solche „ästhetische Äquivalenzen." Welchen Wert haben sie nun für die Kultur? Das ist die Frage, zu der sich Poppers Ge¬ dankengang zuspitzt. Man erkennt schon aus dem Bisherigen, daß Popper, ein Mann der Natur¬ wissenschaft, auf gesundem Boden steht. Wie er als Physiker den gesamten Kosmos als unveränderliche Summe von Kräften anzusehen gewöhnt ist, die sich nur in verschiedenen Formen, je nach Umwandlung der Materie, offenbaren, so erkennt er auch in der Menschheit die ewig sich gleich bleibende Natur, in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/176>, abgerufen am 28.09.2024.