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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Kultur und Technik.

Es ist also außer Zweifel, daß auch die technischen Studien und Künste
ästhetische Befriedigung gewähren, was Popper nicht ohne Seitenhiebe gegen
die oberflächlichen Schöngeister feststellt, die dieses edelste der menschlichen Ge¬
fühle den Technikern bestreiten wollen. Freilich betont er auch mit Nachdruck,
daß diese von technischen Erzeugnissen gewährten Genüsse sich an hinreißender
Gewalt nicht mit den Erregungen der Kunstwerke im eigentlichen Sinne messen
können, und es fällt ihm nicht ein, irgend eine Kunst deswegen herabzusetzen.
Soweit wäre er also z. B. mit Wilhelm Jordan einverstanden, dessen letzter
Roman "Zwei Wiegen" auch die Poesie der modernen technischen Meisterschaft
des Menschen über die Natur feiert. Nur ergeht sich Jordan von hier aus
in schwindelnden Phantasien über die unabsehbaren Fortschritte des Menschen¬
geschlechtes, während Popper, der Techniker von Beruf, nüchtern bleibt und
eine tiefere Einsicht in das Wesen der menschlichen Natur entwickelt.

Nachdem er nämlich das Wesen des ästhetischen Gefühles und den Beruf
der Kunst in scharfsinniger Dialektik entwickelt hat, wirft er die Frage ans: Welchen
Wert haben denn die ästhetischen Gefühle überhaupt für die Menschheit? Welche
Rolle spielen sie in der Menschengeschichte? Und da stellt er zunächst fest, daß
zwar zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ziele die (europäische) Menschheit be¬
schäftigt haben, daß aber immer und überall die ästhetischen Gefühle, das heißt
die grundlose, an der Sache ohne irgend welchen Eigennutz Gefallen findende
Begeisterung mitwirkte. Und diese ästhetischen Gefühle verstärkten die jeweiligen
Strömungen und Bestrebungen in einer Weise, daß sie für den Charakter ihrer
Zeit ausschlaggebend wurden. "Je nach dem Zeitalter dringen mit immer grö¬
ßerer Energie neue oder bereits von der Zeit ausgelöste ästhetische Äquivalenzen
in die Entwicklung der Völker ein und mitunter so lebhaft und so allgemein,
daß sie oft der ganzen Epoche ihr Gepräge verleihen. So wie sich im Gebiete
der physikalischen Vorgänge der gesamte Arbeitsvorrat der Natur in immer
andre Formen umwandelt, die in Beziehung auf ein bestimmtes Maß einander
äquivalent sind, so formt sich die ästhetische Energie der Menschheit in die ver¬
schiedensten Gestalten um, und diese alle sind einander äquivalent, d.h. durch
sie alle wird dieselbe Wirkung, aber auf verschiedenen Wegen, erreicht." Und
nun geht Popper im Fluge die Jahrhunderte durch und zeigt, in wie verschie¬
dener Weise die "ästhetischen Äquivalenzen" sich abgelöst haben: "Zur Zeit der
Griechen waren die eigentlich sogenannten schönen Künste eine national-ästhetische
Äquivalenz. Im Zeitalter der Renaissance war die Begeisterung für Kunst,
Wissenschaft und für das klassische Altertum eine tiefgehende und weitverbreitete
ästhetische Äquivalenz. Im früheren Mittelalter waren es die Kreuzzüge, bei
denen, neben dem religiösen Triebe, stark der Drang, nach dem Orient zu ge¬
langen, als ein ästhetisches Ideal auftrat. Eine durch und durch ästhetische Äqui¬
valenz, genau so wie heute die technische, war im fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhundert der allerdings vom Golddurst angeregte Drang nach Entdeckuugs-


Kultur und Technik.

Es ist also außer Zweifel, daß auch die technischen Studien und Künste
ästhetische Befriedigung gewähren, was Popper nicht ohne Seitenhiebe gegen
die oberflächlichen Schöngeister feststellt, die dieses edelste der menschlichen Ge¬
fühle den Technikern bestreiten wollen. Freilich betont er auch mit Nachdruck,
daß diese von technischen Erzeugnissen gewährten Genüsse sich an hinreißender
Gewalt nicht mit den Erregungen der Kunstwerke im eigentlichen Sinne messen
können, und es fällt ihm nicht ein, irgend eine Kunst deswegen herabzusetzen.
Soweit wäre er also z. B. mit Wilhelm Jordan einverstanden, dessen letzter
Roman „Zwei Wiegen" auch die Poesie der modernen technischen Meisterschaft
des Menschen über die Natur feiert. Nur ergeht sich Jordan von hier aus
in schwindelnden Phantasien über die unabsehbaren Fortschritte des Menschen¬
geschlechtes, während Popper, der Techniker von Beruf, nüchtern bleibt und
eine tiefere Einsicht in das Wesen der menschlichen Natur entwickelt.

Nachdem er nämlich das Wesen des ästhetischen Gefühles und den Beruf
der Kunst in scharfsinniger Dialektik entwickelt hat, wirft er die Frage ans: Welchen
Wert haben denn die ästhetischen Gefühle überhaupt für die Menschheit? Welche
Rolle spielen sie in der Menschengeschichte? Und da stellt er zunächst fest, daß
zwar zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ziele die (europäische) Menschheit be¬
schäftigt haben, daß aber immer und überall die ästhetischen Gefühle, das heißt
die grundlose, an der Sache ohne irgend welchen Eigennutz Gefallen findende
Begeisterung mitwirkte. Und diese ästhetischen Gefühle verstärkten die jeweiligen
Strömungen und Bestrebungen in einer Weise, daß sie für den Charakter ihrer
Zeit ausschlaggebend wurden. „Je nach dem Zeitalter dringen mit immer grö¬
ßerer Energie neue oder bereits von der Zeit ausgelöste ästhetische Äquivalenzen
in die Entwicklung der Völker ein und mitunter so lebhaft und so allgemein,
daß sie oft der ganzen Epoche ihr Gepräge verleihen. So wie sich im Gebiete
der physikalischen Vorgänge der gesamte Arbeitsvorrat der Natur in immer
andre Formen umwandelt, die in Beziehung auf ein bestimmtes Maß einander
äquivalent sind, so formt sich die ästhetische Energie der Menschheit in die ver¬
schiedensten Gestalten um, und diese alle sind einander äquivalent, d.h. durch
sie alle wird dieselbe Wirkung, aber auf verschiedenen Wegen, erreicht." Und
nun geht Popper im Fluge die Jahrhunderte durch und zeigt, in wie verschie¬
dener Weise die „ästhetischen Äquivalenzen" sich abgelöst haben: „Zur Zeit der
Griechen waren die eigentlich sogenannten schönen Künste eine national-ästhetische
Äquivalenz. Im Zeitalter der Renaissance war die Begeisterung für Kunst,
Wissenschaft und für das klassische Altertum eine tiefgehende und weitverbreitete
ästhetische Äquivalenz. Im früheren Mittelalter waren es die Kreuzzüge, bei
denen, neben dem religiösen Triebe, stark der Drang, nach dem Orient zu ge¬
langen, als ein ästhetisches Ideal auftrat. Eine durch und durch ästhetische Äqui¬
valenz, genau so wie heute die technische, war im fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhundert der allerdings vom Golddurst angeregte Drang nach Entdeckuugs-


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[0175] Kultur und Technik. Es ist also außer Zweifel, daß auch die technischen Studien und Künste ästhetische Befriedigung gewähren, was Popper nicht ohne Seitenhiebe gegen die oberflächlichen Schöngeister feststellt, die dieses edelste der menschlichen Ge¬ fühle den Technikern bestreiten wollen. Freilich betont er auch mit Nachdruck, daß diese von technischen Erzeugnissen gewährten Genüsse sich an hinreißender Gewalt nicht mit den Erregungen der Kunstwerke im eigentlichen Sinne messen können, und es fällt ihm nicht ein, irgend eine Kunst deswegen herabzusetzen. Soweit wäre er also z. B. mit Wilhelm Jordan einverstanden, dessen letzter Roman „Zwei Wiegen" auch die Poesie der modernen technischen Meisterschaft des Menschen über die Natur feiert. Nur ergeht sich Jordan von hier aus in schwindelnden Phantasien über die unabsehbaren Fortschritte des Menschen¬ geschlechtes, während Popper, der Techniker von Beruf, nüchtern bleibt und eine tiefere Einsicht in das Wesen der menschlichen Natur entwickelt. Nachdem er nämlich das Wesen des ästhetischen Gefühles und den Beruf der Kunst in scharfsinniger Dialektik entwickelt hat, wirft er die Frage ans: Welchen Wert haben denn die ästhetischen Gefühle überhaupt für die Menschheit? Welche Rolle spielen sie in der Menschengeschichte? Und da stellt er zunächst fest, daß zwar zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ziele die (europäische) Menschheit be¬ schäftigt haben, daß aber immer und überall die ästhetischen Gefühle, das heißt die grundlose, an der Sache ohne irgend welchen Eigennutz Gefallen findende Begeisterung mitwirkte. Und diese ästhetischen Gefühle verstärkten die jeweiligen Strömungen und Bestrebungen in einer Weise, daß sie für den Charakter ihrer Zeit ausschlaggebend wurden. „Je nach dem Zeitalter dringen mit immer grö¬ ßerer Energie neue oder bereits von der Zeit ausgelöste ästhetische Äquivalenzen in die Entwicklung der Völker ein und mitunter so lebhaft und so allgemein, daß sie oft der ganzen Epoche ihr Gepräge verleihen. So wie sich im Gebiete der physikalischen Vorgänge der gesamte Arbeitsvorrat der Natur in immer andre Formen umwandelt, die in Beziehung auf ein bestimmtes Maß einander äquivalent sind, so formt sich die ästhetische Energie der Menschheit in die ver¬ schiedensten Gestalten um, und diese alle sind einander äquivalent, d.h. durch sie alle wird dieselbe Wirkung, aber auf verschiedenen Wegen, erreicht." Und nun geht Popper im Fluge die Jahrhunderte durch und zeigt, in wie verschie¬ dener Weise die „ästhetischen Äquivalenzen" sich abgelöst haben: „Zur Zeit der Griechen waren die eigentlich sogenannten schönen Künste eine national-ästhetische Äquivalenz. Im Zeitalter der Renaissance war die Begeisterung für Kunst, Wissenschaft und für das klassische Altertum eine tiefgehende und weitverbreitete ästhetische Äquivalenz. Im früheren Mittelalter waren es die Kreuzzüge, bei denen, neben dem religiösen Triebe, stark der Drang, nach dem Orient zu ge¬ langen, als ein ästhetisches Ideal auftrat. Eine durch und durch ästhetische Äqui¬ valenz, genau so wie heute die technische, war im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert der allerdings vom Golddurst angeregte Drang nach Entdeckuugs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/175>, abgerufen am 26.06.2024.