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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Naturforscher als solcher, der es nur mit der Kategorie von Ursache und
Wirkung zu thun hat, kann und soll sich also mit dem "Weil" begnügen. Auf
dem ganzen Gebiete der Naturforschung gilt das Wort Goethes:


Wie? Wann? und Wo? Die Götter bleiben stumm;
Du halte dich an's Weil, und frage nicht Warum!

Aber daß sich das Leben, und zwar nicht bloß das der Forscher, sondern noch
vielmehr das des Volkes und der ganzen gesitteten Menschheit nicht damit
begnügt, seine Gedanken in die Kategorie der Kausalität einzudämmen, daß die
Gedanken der gesitteten Menschen über das Gebiet des Naturerkennens hinaus¬
gehen und hinausgehen müssen, das zeigt die Kulturgeschichte auf jeder Seite
von ihrem Anfange an. Der gesittete Mensch braucht eine Antwort auch auf
das "Was" und das "Warum" alles Seins, d. h. auf Wesen und Zweck seines
Lebens und der Dinge, die ihn umgeben.

Sobald wir aber nun tiefer einzudringen verlangen und das Wesen jener
konstanten Summe und konstanten Menge, d. h. das Wesen von Kraft und
Materie begreifen wollen, finden wir die atomistische Vorstellung völlig unbrauch¬
bar. Sie ist unbrauchbar, weil man sich nicht recht denken kann, wie ein Atom,
d. h. etwas nicht weiter Teilbares, Raumloscs, raumerfüllende Kräfte ausgehen lassen
kann. Soll es wirken im Raume, so muß es einen gewissen, wenn anch noch so
kleinen Raum erfüllen. Erfüllt es Raum, so ist es auch uoch teilbar. Wollte
man sich das Atom nur als Kraft, als Punkt und zwar als Mittelpunkt von
Zcntralkräften denken, so ist der Punkt "die im Raume vorgestellte Negation
des Raumes," und man begreift auch so nicht, wie die Negation des Raumes
raumerfülleud sein kann. So ist der philosophische Begriff des Atoms, mit
dem die Naturwissenschaft so viel als einem Letzten operirt, in sich haltlos
und keineswegs geeignet, weder das, was wir Materie, noch das, was wir
Kraft nennen, irgendwie begreiflich zu machen. Wir stehen hier, wie Dubois-
Neymond sagt, an der Grenze des menschlichen Wissens."

Es ist höchst merkwürdig, wie wenig die menschliche Vernunft in der Er¬
forschung der letzten Gründe seit Jahrtausenden vorgeschritten ist. Denn daß
wir bei dem angegebenen Punkte des Iß'norMmus thatsächlich an der Grenze
unsers Witzes stehen, hat bereits die griechische Philosophie erkannt. Von
Anaxagoras an bis zu Aristoteles war diese sich klar bewußt, daß man mit
der Materie als einem letzten nicht rechnen könne, wie das die alten Jonier,
Thales, Anaximander, Anaximenes gethan hatten. Unter diesen war Anaxi-
mander (geb. um 610 v. Chr.) ein höchst bedeutender Denker. Denn wenn
andre dieser ionischen Naturphilosophen eines der vorhandenen Elemente, Thales
das Waffer, Anaximenes die Luft, als das allen Erscheinungen zu Grunde
liegende ansahen, so ging er in eigenartiger Forschung über alle substantiellen
Gründe hinaus und bezeichnete als Anfang von allem das Unbegrenzte, die
unendliche Masse des Stoffes überhaupt, aus der alle Dinge entstanden seien,


Naturforscher als solcher, der es nur mit der Kategorie von Ursache und
Wirkung zu thun hat, kann und soll sich also mit dem „Weil" begnügen. Auf
dem ganzen Gebiete der Naturforschung gilt das Wort Goethes:


Wie? Wann? und Wo? Die Götter bleiben stumm;
Du halte dich an's Weil, und frage nicht Warum!

Aber daß sich das Leben, und zwar nicht bloß das der Forscher, sondern noch
vielmehr das des Volkes und der ganzen gesitteten Menschheit nicht damit
begnügt, seine Gedanken in die Kategorie der Kausalität einzudämmen, daß die
Gedanken der gesitteten Menschen über das Gebiet des Naturerkennens hinaus¬
gehen und hinausgehen müssen, das zeigt die Kulturgeschichte auf jeder Seite
von ihrem Anfange an. Der gesittete Mensch braucht eine Antwort auch auf
das „Was" und das „Warum" alles Seins, d. h. auf Wesen und Zweck seines
Lebens und der Dinge, die ihn umgeben.

Sobald wir aber nun tiefer einzudringen verlangen und das Wesen jener
konstanten Summe und konstanten Menge, d. h. das Wesen von Kraft und
Materie begreifen wollen, finden wir die atomistische Vorstellung völlig unbrauch¬
bar. Sie ist unbrauchbar, weil man sich nicht recht denken kann, wie ein Atom,
d. h. etwas nicht weiter Teilbares, Raumloscs, raumerfüllende Kräfte ausgehen lassen
kann. Soll es wirken im Raume, so muß es einen gewissen, wenn anch noch so
kleinen Raum erfüllen. Erfüllt es Raum, so ist es auch uoch teilbar. Wollte
man sich das Atom nur als Kraft, als Punkt und zwar als Mittelpunkt von
Zcntralkräften denken, so ist der Punkt „die im Raume vorgestellte Negation
des Raumes," und man begreift auch so nicht, wie die Negation des Raumes
raumerfülleud sein kann. So ist der philosophische Begriff des Atoms, mit
dem die Naturwissenschaft so viel als einem Letzten operirt, in sich haltlos
und keineswegs geeignet, weder das, was wir Materie, noch das, was wir
Kraft nennen, irgendwie begreiflich zu machen. Wir stehen hier, wie Dubois-
Neymond sagt, an der Grenze des menschlichen Wissens."

Es ist höchst merkwürdig, wie wenig die menschliche Vernunft in der Er¬
forschung der letzten Gründe seit Jahrtausenden vorgeschritten ist. Denn daß
wir bei dem angegebenen Punkte des Iß'norMmus thatsächlich an der Grenze
unsers Witzes stehen, hat bereits die griechische Philosophie erkannt. Von
Anaxagoras an bis zu Aristoteles war diese sich klar bewußt, daß man mit
der Materie als einem letzten nicht rechnen könne, wie das die alten Jonier,
Thales, Anaximander, Anaximenes gethan hatten. Unter diesen war Anaxi-
mander (geb. um 610 v. Chr.) ein höchst bedeutender Denker. Denn wenn
andre dieser ionischen Naturphilosophen eines der vorhandenen Elemente, Thales
das Waffer, Anaximenes die Luft, als das allen Erscheinungen zu Grunde
liegende ansahen, so ging er in eigenartiger Forschung über alle substantiellen
Gründe hinaus und bezeichnete als Anfang von allem das Unbegrenzte, die
unendliche Masse des Stoffes überhaupt, aus der alle Dinge entstanden seien,


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[0162] Naturforscher als solcher, der es nur mit der Kategorie von Ursache und Wirkung zu thun hat, kann und soll sich also mit dem „Weil" begnügen. Auf dem ganzen Gebiete der Naturforschung gilt das Wort Goethes: Wie? Wann? und Wo? Die Götter bleiben stumm; Du halte dich an's Weil, und frage nicht Warum! Aber daß sich das Leben, und zwar nicht bloß das der Forscher, sondern noch vielmehr das des Volkes und der ganzen gesitteten Menschheit nicht damit begnügt, seine Gedanken in die Kategorie der Kausalität einzudämmen, daß die Gedanken der gesitteten Menschen über das Gebiet des Naturerkennens hinaus¬ gehen und hinausgehen müssen, das zeigt die Kulturgeschichte auf jeder Seite von ihrem Anfange an. Der gesittete Mensch braucht eine Antwort auch auf das „Was" und das „Warum" alles Seins, d. h. auf Wesen und Zweck seines Lebens und der Dinge, die ihn umgeben. Sobald wir aber nun tiefer einzudringen verlangen und das Wesen jener konstanten Summe und konstanten Menge, d. h. das Wesen von Kraft und Materie begreifen wollen, finden wir die atomistische Vorstellung völlig unbrauch¬ bar. Sie ist unbrauchbar, weil man sich nicht recht denken kann, wie ein Atom, d. h. etwas nicht weiter Teilbares, Raumloscs, raumerfüllende Kräfte ausgehen lassen kann. Soll es wirken im Raume, so muß es einen gewissen, wenn anch noch so kleinen Raum erfüllen. Erfüllt es Raum, so ist es auch uoch teilbar. Wollte man sich das Atom nur als Kraft, als Punkt und zwar als Mittelpunkt von Zcntralkräften denken, so ist der Punkt „die im Raume vorgestellte Negation des Raumes," und man begreift auch so nicht, wie die Negation des Raumes raumerfülleud sein kann. So ist der philosophische Begriff des Atoms, mit dem die Naturwissenschaft so viel als einem Letzten operirt, in sich haltlos und keineswegs geeignet, weder das, was wir Materie, noch das, was wir Kraft nennen, irgendwie begreiflich zu machen. Wir stehen hier, wie Dubois- Neymond sagt, an der Grenze des menschlichen Wissens." Es ist höchst merkwürdig, wie wenig die menschliche Vernunft in der Er¬ forschung der letzten Gründe seit Jahrtausenden vorgeschritten ist. Denn daß wir bei dem angegebenen Punkte des Iß'norMmus thatsächlich an der Grenze unsers Witzes stehen, hat bereits die griechische Philosophie erkannt. Von Anaxagoras an bis zu Aristoteles war diese sich klar bewußt, daß man mit der Materie als einem letzten nicht rechnen könne, wie das die alten Jonier, Thales, Anaximander, Anaximenes gethan hatten. Unter diesen war Anaxi- mander (geb. um 610 v. Chr.) ein höchst bedeutender Denker. Denn wenn andre dieser ionischen Naturphilosophen eines der vorhandenen Elemente, Thales das Waffer, Anaximenes die Luft, als das allen Erscheinungen zu Grunde liegende ansahen, so ging er in eigenartiger Forschung über alle substantiellen Gründe hinaus und bezeichnete als Anfang von allem das Unbegrenzte, die unendliche Masse des Stoffes überhaupt, aus der alle Dinge entstanden seien,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/162>, abgerufen am 04.07.2024.