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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Grenzen des natnrmisscnschnftlichen Erkennens,

in die alle zurückkehrten. Dieses Unendliche, Unbegrenzte, 50 "?c6^vo, ist ver¬
schieden von allen bestimmten Stoffen, die erst aus ihm geworden sind, es ist
selbst ungeworden und unvergänglich, von ewiger Bewegung, in deren Folge
sich eben die bestimmten Stoffe ausschieden; durch solche Ausscheidung, und
zwar aus dem Feuchten, bildete sich auch die Erde. Durch die Physiker des
fünften Jahrhunderts wurden diese Gedanken weiter fortgeführt, und dabei
kommen gewisse Theorien, wie die atomistischen, unsern heutigen naturwissen¬
schaftlichen so nahe, daß man über dieser Ähnlichkeit den Unterschied der Zeiten
vergessen kann und sich fragen muß, ob denn die Philosophie, auch die Philo¬
sophie der Naturwissenschaft und gerade sie, seit Aristoteles überhaupt in der
Erklärung der Welt wesentlich weiter gekommen sei. So will, um auf die
atomistische Theorie hinzuweisen, Leukippos, der von der Unmöglichkeit alles
Entstehens und Vergehens überzeugt ist, alle Erscheinungen erklären aus zahl¬
losen Körperchen, die durch die Leere von einander geschieden unteilbar sind,
"ro^ete. Sie sind ungeworden und unvergänglich, gleichartig der Substanz nach,
ohne qualitative Veränderung, nur unterschieden durch Gestalt und Größe,
weshalb sie nur durch ihre Lage einer Veränderung unterliegen. Alles Ent¬
stehen und Vergehen ist nur ein Sichverbinden und Trennen dieser Atome.

Bis hierher, d. h. gerade so weit, als die heutige Naturwissenschaft auf natur¬
philosophischen Gebiete, war die griechische Philosophie gekommen, als sie von
Anaxagoras weiter geführt wurde. Dieser größte Geist vor Sokrates erkannte
zuerst, daß hinter der Materie etwas steht, was nicht durch sie erklärt werden
kann. Zwar den letzten Satz der ionischen Naturphilosophen nahm er auf und
sagte, wie sie: "Entstehen und Vergehen nehmen die Hellenen mit Unrecht an.
Kein Ding entsteht oder vergeht; es findet von vorhandenen Stoffen Mischung
oder Trennung statt, und somit könnten sie (die Hellenen) richtig das Entstehen
ein Sichverbinden, das Vergehen ein Sichtrennen nennen." Aber er blieb hierbei
nicht stehen, sondern wies darauf hin, wie schon die Bewegung, durch welche
diese Verbindung und Trennung geschieht, nicht aus dem Stoffe selbst zu er¬
klären ist, vollends eine zum zweckvollen Ganzen sich ordnende Bewegung.
Diese kann nur -- und das nahm dann Sokrates von ihm auf, oder vielmehr er
traf darin mit ihm zusammen -- von einem Wesen stammen, das Zwecke setzen
und durchführen kann, d. h. das allweise und allmächtig ist. Das ist der vovs
des Anaxagoras, ein zweckesetzender Geist, der weder durch ein anders ist, noch
mit einem andern vermischt ist, sondern der allein für sich ist, ^vo^os
ec-lo-rov. Von diesem Funde des Anaxagoras ging eine neue Epoche der mensch¬
lichen Einsicht aus, die sich dem Christentums entgegen bewegte. Wir können
diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen; wer aber über die Fragen, die die
Materie und die Erklärung der Welt aus der Materie betreffen, Aufschluß
haben will, kann ihn am besten holen aus dem ersten Bande von Zelters Ge¬
schichte der griechischen Philosophie. Wir wollen hier nur auf das hinweisen,


Die Grenzen des natnrmisscnschnftlichen Erkennens,

in die alle zurückkehrten. Dieses Unendliche, Unbegrenzte, 50 «?c6^vo, ist ver¬
schieden von allen bestimmten Stoffen, die erst aus ihm geworden sind, es ist
selbst ungeworden und unvergänglich, von ewiger Bewegung, in deren Folge
sich eben die bestimmten Stoffe ausschieden; durch solche Ausscheidung, und
zwar aus dem Feuchten, bildete sich auch die Erde. Durch die Physiker des
fünften Jahrhunderts wurden diese Gedanken weiter fortgeführt, und dabei
kommen gewisse Theorien, wie die atomistischen, unsern heutigen naturwissen¬
schaftlichen so nahe, daß man über dieser Ähnlichkeit den Unterschied der Zeiten
vergessen kann und sich fragen muß, ob denn die Philosophie, auch die Philo¬
sophie der Naturwissenschaft und gerade sie, seit Aristoteles überhaupt in der
Erklärung der Welt wesentlich weiter gekommen sei. So will, um auf die
atomistische Theorie hinzuweisen, Leukippos, der von der Unmöglichkeit alles
Entstehens und Vergehens überzeugt ist, alle Erscheinungen erklären aus zahl¬
losen Körperchen, die durch die Leere von einander geschieden unteilbar sind,
«ro^ete. Sie sind ungeworden und unvergänglich, gleichartig der Substanz nach,
ohne qualitative Veränderung, nur unterschieden durch Gestalt und Größe,
weshalb sie nur durch ihre Lage einer Veränderung unterliegen. Alles Ent¬
stehen und Vergehen ist nur ein Sichverbinden und Trennen dieser Atome.

Bis hierher, d. h. gerade so weit, als die heutige Naturwissenschaft auf natur¬
philosophischen Gebiete, war die griechische Philosophie gekommen, als sie von
Anaxagoras weiter geführt wurde. Dieser größte Geist vor Sokrates erkannte
zuerst, daß hinter der Materie etwas steht, was nicht durch sie erklärt werden
kann. Zwar den letzten Satz der ionischen Naturphilosophen nahm er auf und
sagte, wie sie: „Entstehen und Vergehen nehmen die Hellenen mit Unrecht an.
Kein Ding entsteht oder vergeht; es findet von vorhandenen Stoffen Mischung
oder Trennung statt, und somit könnten sie (die Hellenen) richtig das Entstehen
ein Sichverbinden, das Vergehen ein Sichtrennen nennen." Aber er blieb hierbei
nicht stehen, sondern wies darauf hin, wie schon die Bewegung, durch welche
diese Verbindung und Trennung geschieht, nicht aus dem Stoffe selbst zu er¬
klären ist, vollends eine zum zweckvollen Ganzen sich ordnende Bewegung.
Diese kann nur — und das nahm dann Sokrates von ihm auf, oder vielmehr er
traf darin mit ihm zusammen — von einem Wesen stammen, das Zwecke setzen
und durchführen kann, d. h. das allweise und allmächtig ist. Das ist der vovs
des Anaxagoras, ein zweckesetzender Geist, der weder durch ein anders ist, noch
mit einem andern vermischt ist, sondern der allein für sich ist, ^vo^os
ec-lo-rov. Von diesem Funde des Anaxagoras ging eine neue Epoche der mensch¬
lichen Einsicht aus, die sich dem Christentums entgegen bewegte. Wir können
diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen; wer aber über die Fragen, die die
Materie und die Erklärung der Welt aus der Materie betreffen, Aufschluß
haben will, kann ihn am besten holen aus dem ersten Bande von Zelters Ge¬
schichte der griechischen Philosophie. Wir wollen hier nur auf das hinweisen,


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[0163] Die Grenzen des natnrmisscnschnftlichen Erkennens, in die alle zurückkehrten. Dieses Unendliche, Unbegrenzte, 50 «?c6^vo, ist ver¬ schieden von allen bestimmten Stoffen, die erst aus ihm geworden sind, es ist selbst ungeworden und unvergänglich, von ewiger Bewegung, in deren Folge sich eben die bestimmten Stoffe ausschieden; durch solche Ausscheidung, und zwar aus dem Feuchten, bildete sich auch die Erde. Durch die Physiker des fünften Jahrhunderts wurden diese Gedanken weiter fortgeführt, und dabei kommen gewisse Theorien, wie die atomistischen, unsern heutigen naturwissen¬ schaftlichen so nahe, daß man über dieser Ähnlichkeit den Unterschied der Zeiten vergessen kann und sich fragen muß, ob denn die Philosophie, auch die Philo¬ sophie der Naturwissenschaft und gerade sie, seit Aristoteles überhaupt in der Erklärung der Welt wesentlich weiter gekommen sei. So will, um auf die atomistische Theorie hinzuweisen, Leukippos, der von der Unmöglichkeit alles Entstehens und Vergehens überzeugt ist, alle Erscheinungen erklären aus zahl¬ losen Körperchen, die durch die Leere von einander geschieden unteilbar sind, «ro^ete. Sie sind ungeworden und unvergänglich, gleichartig der Substanz nach, ohne qualitative Veränderung, nur unterschieden durch Gestalt und Größe, weshalb sie nur durch ihre Lage einer Veränderung unterliegen. Alles Ent¬ stehen und Vergehen ist nur ein Sichverbinden und Trennen dieser Atome. Bis hierher, d. h. gerade so weit, als die heutige Naturwissenschaft auf natur¬ philosophischen Gebiete, war die griechische Philosophie gekommen, als sie von Anaxagoras weiter geführt wurde. Dieser größte Geist vor Sokrates erkannte zuerst, daß hinter der Materie etwas steht, was nicht durch sie erklärt werden kann. Zwar den letzten Satz der ionischen Naturphilosophen nahm er auf und sagte, wie sie: „Entstehen und Vergehen nehmen die Hellenen mit Unrecht an. Kein Ding entsteht oder vergeht; es findet von vorhandenen Stoffen Mischung oder Trennung statt, und somit könnten sie (die Hellenen) richtig das Entstehen ein Sichverbinden, das Vergehen ein Sichtrennen nennen." Aber er blieb hierbei nicht stehen, sondern wies darauf hin, wie schon die Bewegung, durch welche diese Verbindung und Trennung geschieht, nicht aus dem Stoffe selbst zu er¬ klären ist, vollends eine zum zweckvollen Ganzen sich ordnende Bewegung. Diese kann nur — und das nahm dann Sokrates von ihm auf, oder vielmehr er traf darin mit ihm zusammen — von einem Wesen stammen, das Zwecke setzen und durchführen kann, d. h. das allweise und allmächtig ist. Das ist der vovs des Anaxagoras, ein zweckesetzender Geist, der weder durch ein anders ist, noch mit einem andern vermischt ist, sondern der allein für sich ist, ^vo^os ec-lo-rov. Von diesem Funde des Anaxagoras ging eine neue Epoche der mensch¬ lichen Einsicht aus, die sich dem Christentums entgegen bewegte. Wir können diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen; wer aber über die Fragen, die die Materie und die Erklärung der Welt aus der Materie betreffen, Aufschluß haben will, kann ihn am besten holen aus dem ersten Bande von Zelters Ge¬ schichte der griechischen Philosophie. Wir wollen hier nur auf das hinweisen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/163>, abgerufen am 04.07.2024.