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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.

Vorgänge in Mechanik der Atome aufgelöst zu haben glaubt. In diesem Sinne
sagt Dubois-Reymond: "Denken wir uns alle Veränderungen in der Körper¬
welt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentral¬
kräfte bewirkt werden, so wäre das Weltall wissenschaftlich erkannt." Dies
wäre es deshalb und insofern, als man die gesamten Wcltvorgänge, den ganzen
Weltverlauf in mathematischen Formeln, oder genauer in einer mathematischen
Formel, "durch ein unermeßliches System simultaner Differentialgleichungen"
vorstellig machen könnte, sobald es einen menschlichen Verstand in solcher Voll¬
endung gäbe, daß er alle Kräfte kennte, die in der Natur wirksam sind. Für
den würde das Weltganze eine einzige Thatsache und darum in einer mathe¬
matischen Formel begreifbar sein. Wenn auch der menschliche Geist von einer
solchen Naturerkenntnis stets weit entfernt bleiben und das Buch der Natur
auch nur in ihren Bewegungsvorgängen, wie sie durch die Sätze der Mechanik
mathematisch darstellbar sind, für die Forschung unaufhörlich Geheimnisse bergen
wird, so sind das doch Geheimnisse, die einer Lösung fähig sind, an der
fort und fort zu arbeiten die Aufgabe und die Freude der Naturwissenschaft
bleiben wird. Aber gesetzt nun, die Naturwissenschaft hätte die Anordnung
und Bewegung aller Substrate, also dessen, was sie Atome nennt, erkannt,
gesetzt, sie hätte den Stein der Weisen gefunden, der die heute noch unzerlegten
Stoffe in einander umwandelte und alle aus einem letzten höheren Grundstoffe
erzeugte, würde sie damit für alles Entstehen etwas andres gefunden haben,
als das "Weil" einer bloß äußerlichen Kausalität, eines bloß mechanischen Zu¬
sammenhanges? Hätte sie etwa mit der Erkenntnis der Anordnung und
Bewegung der Atome auch das Wesen derselben, ja nur die Eigenschaften dieses
eigenschafts- und unterschiedslosen Urstoffes, den wir Materie nennen, begriffen?
Die Naturwissenschaft begreift wohl, aber wird auch immer nur das "Weil,"
nie das "Wie" und "Warum," geschweige denn das "Was" begreifen. Das,
was wir Naturerkennen nennen, mag es noch so hohe Stufen erreichen, wird
in das Wesen der Materie niemals eindringen. Hier ist das Issnorg.inn8,
wie Dubois-Reymond so wahr und schön sagt, ein IssnorMurus.

Und weil das so ist, weil wir nicht sagen können, was Materie und
Kraft ist, darum ist auch das Naturerkennen in Wahrheit kein Erkennen, wenn
man unter Erkennen ein Erfassen des letzten Grundes, des Urgrundes ver¬
steht. "Die Vorstellung," sagt Dubois-Reymond, "wonach die Welt aus stets
dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Teilen besteht, deren Zentralkräfte
alle Bewegung erzeugen, ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung." Dieses
Surrogat ist aber eine Fiktion, nützlich für die mathematische Physik, da durch sie
das Verhalten der aus solchen unzähligen Atomen bestehenden Masse sich
erklärt; denn "sie (diese Fiktion) führt alle Veränderungen in der Körperwelt
auf eine konstante Summe von Kräften und eine konstante Menge von Materie
zurück und läßt an den Veränderungen selber also nichts zu erklären übrig." Der


Grenzboten IV. 18L3. 20
Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Grkennens.

Vorgänge in Mechanik der Atome aufgelöst zu haben glaubt. In diesem Sinne
sagt Dubois-Reymond: „Denken wir uns alle Veränderungen in der Körper¬
welt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentral¬
kräfte bewirkt werden, so wäre das Weltall wissenschaftlich erkannt." Dies
wäre es deshalb und insofern, als man die gesamten Wcltvorgänge, den ganzen
Weltverlauf in mathematischen Formeln, oder genauer in einer mathematischen
Formel, „durch ein unermeßliches System simultaner Differentialgleichungen"
vorstellig machen könnte, sobald es einen menschlichen Verstand in solcher Voll¬
endung gäbe, daß er alle Kräfte kennte, die in der Natur wirksam sind. Für
den würde das Weltganze eine einzige Thatsache und darum in einer mathe¬
matischen Formel begreifbar sein. Wenn auch der menschliche Geist von einer
solchen Naturerkenntnis stets weit entfernt bleiben und das Buch der Natur
auch nur in ihren Bewegungsvorgängen, wie sie durch die Sätze der Mechanik
mathematisch darstellbar sind, für die Forschung unaufhörlich Geheimnisse bergen
wird, so sind das doch Geheimnisse, die einer Lösung fähig sind, an der
fort und fort zu arbeiten die Aufgabe und die Freude der Naturwissenschaft
bleiben wird. Aber gesetzt nun, die Naturwissenschaft hätte die Anordnung
und Bewegung aller Substrate, also dessen, was sie Atome nennt, erkannt,
gesetzt, sie hätte den Stein der Weisen gefunden, der die heute noch unzerlegten
Stoffe in einander umwandelte und alle aus einem letzten höheren Grundstoffe
erzeugte, würde sie damit für alles Entstehen etwas andres gefunden haben,
als das „Weil" einer bloß äußerlichen Kausalität, eines bloß mechanischen Zu¬
sammenhanges? Hätte sie etwa mit der Erkenntnis der Anordnung und
Bewegung der Atome auch das Wesen derselben, ja nur die Eigenschaften dieses
eigenschafts- und unterschiedslosen Urstoffes, den wir Materie nennen, begriffen?
Die Naturwissenschaft begreift wohl, aber wird auch immer nur das „Weil,"
nie das „Wie" und „Warum," geschweige denn das „Was" begreifen. Das,
was wir Naturerkennen nennen, mag es noch so hohe Stufen erreichen, wird
in das Wesen der Materie niemals eindringen. Hier ist das Issnorg.inn8,
wie Dubois-Reymond so wahr und schön sagt, ein IssnorMurus.

Und weil das so ist, weil wir nicht sagen können, was Materie und
Kraft ist, darum ist auch das Naturerkennen in Wahrheit kein Erkennen, wenn
man unter Erkennen ein Erfassen des letzten Grundes, des Urgrundes ver¬
steht. „Die Vorstellung," sagt Dubois-Reymond, „wonach die Welt aus stets
dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Teilen besteht, deren Zentralkräfte
alle Bewegung erzeugen, ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung." Dieses
Surrogat ist aber eine Fiktion, nützlich für die mathematische Physik, da durch sie
das Verhalten der aus solchen unzähligen Atomen bestehenden Masse sich
erklärt; denn „sie (diese Fiktion) führt alle Veränderungen in der Körperwelt
auf eine konstante Summe von Kräften und eine konstante Menge von Materie
zurück und läßt an den Veränderungen selber also nichts zu erklären übrig." Der


Grenzboten IV. 18L3. 20
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/161>, abgerufen am 02.07.2024.