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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Volk und Nation.

Bauernhöfen. "Als das Volk vom Tisch aufbrach, war der Bauer der letzte,"
sagt Jeremias Gotthelf. In anderen Zusammenhange wird Volk vorzugsweise
das Kriegsgefolge genannt oder die Mannschaft eines Schiffes. Wallenstein
beklagt sich, "daß man den spanischen Namen braucht, sein Volk zu min¬
dern," also seine Armee zu schwächen. Hiervon ergiebt sich der Übergang leicht
zu den politischen Schattirnngen der Wortbedeutung, zugleich tritt uns aber
auch sofort der Umstand entgegen, der für die politische und staatswissenschaft¬
liche Verwendung des Wortes Schwierigkeiten macht. Als Volk bezeichnen wir
nämlich einerseits die Gesamtheit der Teilnehmer eines Gemeinwesens, daneben
aber auch Teile dieser Gesamtheit. Die Abgrenzung dieser Teile aber und die
mit der sprachlichen Bezeichnung sich innerlich verbindende sittliche und soziale
Bedeutung ergiebt eine ganz unübersehbare Menge von Bcgriffsverschiedenheiten.
Das Volk wird dem Fürsten entgegengesetzt, in der Kirche dem Priesterstande;
es wird unterschieden vom Adel, in der modernen Gesellschaft von den begü¬
terten und höher gebildeten Bevölkerungsklassen. Was aber das Werturteil
betrifft, das je nach dem Standpunkte des Redenden, nach dem Zusammenhange
der Rede oder nach der besondern Betonung in dem Worte Volk sich aus¬
spricht, so singt der Dichter Freiligrath: "Noch gestern wart ihr nur ein
Haufen: ein Volk, o Brüder, seid ihr heut," während der Straßenjunge irgend
einer Stadt Niedersachsens der Bande seiner Kameraden, mit der er sich soeben
ohne befriedigendes Ergebnis gerauft hat, mit dem Tone unsagbarer Verachtung
den Schimpfnamen "Volk" zuruft. Auch ohne lange Erwägung wird die
Schwierigkeit in die Augen springen, einen derart in tausenderlei Schattirungen
schimmernden Sprachgebrauch mit der Bestimmtheit, wie sie von wissenschaft¬
licher Systematik gefordert wird, in Einklang zu bringen.

Aber lasten wir die Wissenschaft und ihre Anforderungen vor der Hand
noch bei Seite. Das Bedürfnis der gebildeten Sprache hat neben dem
Worte Volk sich auch den Ausdruck Nation angeeignet zur Bezeichnung einer
Gesamtheit von Individuen, die durch besondre Kulturgemeinschaft geeinigt
sind. Ist das Fremdwort "Nation" wirklich ein Bedürfnis gewesen? Jedenfalls.
Alles, was erworben und angeeignet wird, das wird erworben und angeeignet,
nur weil es einem Bedürfnis entspricht. Die Frage ist: war das Bedürfnis,
das dieses Fremdwort der deutschen Sprache einverleibte, berechtigt? Viele
Fremdwörter, die unsre Sprache verunzieren, haben ihren Grund in einem
Bedürfnis der Geckenhaftigkeit, der Pedanterie, der Geistesträgheit. Gehört
das Wort Nation vielleicht mit zu dieser Klasse, so daß es im Grunde
überflüssig wäre? Ganz gewiß nicht, denn das Bedürfnis liegt klar zu Tage
und ist durchaus berechtigt. Dem Zweifel gegenüber, der bei dem Worte Volk
entsteht, ob das Ganze oder ein Teil einer Gemeinschaft, ob ein winziges
Ganze " etwa das Volk von Anhalt -- oder ein großes, geschichtlich bedeu¬
tendes bezeichnet werde, war ein Ausdruck gefordert, der unter allen Umständen


Volk und Nation.

Bauernhöfen. „Als das Volk vom Tisch aufbrach, war der Bauer der letzte,"
sagt Jeremias Gotthelf. In anderen Zusammenhange wird Volk vorzugsweise
das Kriegsgefolge genannt oder die Mannschaft eines Schiffes. Wallenstein
beklagt sich, „daß man den spanischen Namen braucht, sein Volk zu min¬
dern," also seine Armee zu schwächen. Hiervon ergiebt sich der Übergang leicht
zu den politischen Schattirnngen der Wortbedeutung, zugleich tritt uns aber
auch sofort der Umstand entgegen, der für die politische und staatswissenschaft¬
liche Verwendung des Wortes Schwierigkeiten macht. Als Volk bezeichnen wir
nämlich einerseits die Gesamtheit der Teilnehmer eines Gemeinwesens, daneben
aber auch Teile dieser Gesamtheit. Die Abgrenzung dieser Teile aber und die
mit der sprachlichen Bezeichnung sich innerlich verbindende sittliche und soziale
Bedeutung ergiebt eine ganz unübersehbare Menge von Bcgriffsverschiedenheiten.
Das Volk wird dem Fürsten entgegengesetzt, in der Kirche dem Priesterstande;
es wird unterschieden vom Adel, in der modernen Gesellschaft von den begü¬
terten und höher gebildeten Bevölkerungsklassen. Was aber das Werturteil
betrifft, das je nach dem Standpunkte des Redenden, nach dem Zusammenhange
der Rede oder nach der besondern Betonung in dem Worte Volk sich aus¬
spricht, so singt der Dichter Freiligrath: „Noch gestern wart ihr nur ein
Haufen: ein Volk, o Brüder, seid ihr heut," während der Straßenjunge irgend
einer Stadt Niedersachsens der Bande seiner Kameraden, mit der er sich soeben
ohne befriedigendes Ergebnis gerauft hat, mit dem Tone unsagbarer Verachtung
den Schimpfnamen „Volk" zuruft. Auch ohne lange Erwägung wird die
Schwierigkeit in die Augen springen, einen derart in tausenderlei Schattirungen
schimmernden Sprachgebrauch mit der Bestimmtheit, wie sie von wissenschaft¬
licher Systematik gefordert wird, in Einklang zu bringen.

Aber lasten wir die Wissenschaft und ihre Anforderungen vor der Hand
noch bei Seite. Das Bedürfnis der gebildeten Sprache hat neben dem
Worte Volk sich auch den Ausdruck Nation angeeignet zur Bezeichnung einer
Gesamtheit von Individuen, die durch besondre Kulturgemeinschaft geeinigt
sind. Ist das Fremdwort „Nation" wirklich ein Bedürfnis gewesen? Jedenfalls.
Alles, was erworben und angeeignet wird, das wird erworben und angeeignet,
nur weil es einem Bedürfnis entspricht. Die Frage ist: war das Bedürfnis,
das dieses Fremdwort der deutschen Sprache einverleibte, berechtigt? Viele
Fremdwörter, die unsre Sprache verunzieren, haben ihren Grund in einem
Bedürfnis der Geckenhaftigkeit, der Pedanterie, der Geistesträgheit. Gehört
das Wort Nation vielleicht mit zu dieser Klasse, so daß es im Grunde
überflüssig wäre? Ganz gewiß nicht, denn das Bedürfnis liegt klar zu Tage
und ist durchaus berechtigt. Dem Zweifel gegenüber, der bei dem Worte Volk
entsteht, ob das Ganze oder ein Teil einer Gemeinschaft, ob ein winziges
Ganze „ etwa das Volk von Anhalt — oder ein großes, geschichtlich bedeu¬
tendes bezeichnet werde, war ein Ausdruck gefordert, der unter allen Umständen


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[0155] Volk und Nation. Bauernhöfen. „Als das Volk vom Tisch aufbrach, war der Bauer der letzte," sagt Jeremias Gotthelf. In anderen Zusammenhange wird Volk vorzugsweise das Kriegsgefolge genannt oder die Mannschaft eines Schiffes. Wallenstein beklagt sich, „daß man den spanischen Namen braucht, sein Volk zu min¬ dern," also seine Armee zu schwächen. Hiervon ergiebt sich der Übergang leicht zu den politischen Schattirnngen der Wortbedeutung, zugleich tritt uns aber auch sofort der Umstand entgegen, der für die politische und staatswissenschaft¬ liche Verwendung des Wortes Schwierigkeiten macht. Als Volk bezeichnen wir nämlich einerseits die Gesamtheit der Teilnehmer eines Gemeinwesens, daneben aber auch Teile dieser Gesamtheit. Die Abgrenzung dieser Teile aber und die mit der sprachlichen Bezeichnung sich innerlich verbindende sittliche und soziale Bedeutung ergiebt eine ganz unübersehbare Menge von Bcgriffsverschiedenheiten. Das Volk wird dem Fürsten entgegengesetzt, in der Kirche dem Priesterstande; es wird unterschieden vom Adel, in der modernen Gesellschaft von den begü¬ terten und höher gebildeten Bevölkerungsklassen. Was aber das Werturteil betrifft, das je nach dem Standpunkte des Redenden, nach dem Zusammenhange der Rede oder nach der besondern Betonung in dem Worte Volk sich aus¬ spricht, so singt der Dichter Freiligrath: „Noch gestern wart ihr nur ein Haufen: ein Volk, o Brüder, seid ihr heut," während der Straßenjunge irgend einer Stadt Niedersachsens der Bande seiner Kameraden, mit der er sich soeben ohne befriedigendes Ergebnis gerauft hat, mit dem Tone unsagbarer Verachtung den Schimpfnamen „Volk" zuruft. Auch ohne lange Erwägung wird die Schwierigkeit in die Augen springen, einen derart in tausenderlei Schattirungen schimmernden Sprachgebrauch mit der Bestimmtheit, wie sie von wissenschaft¬ licher Systematik gefordert wird, in Einklang zu bringen. Aber lasten wir die Wissenschaft und ihre Anforderungen vor der Hand noch bei Seite. Das Bedürfnis der gebildeten Sprache hat neben dem Worte Volk sich auch den Ausdruck Nation angeeignet zur Bezeichnung einer Gesamtheit von Individuen, die durch besondre Kulturgemeinschaft geeinigt sind. Ist das Fremdwort „Nation" wirklich ein Bedürfnis gewesen? Jedenfalls. Alles, was erworben und angeeignet wird, das wird erworben und angeeignet, nur weil es einem Bedürfnis entspricht. Die Frage ist: war das Bedürfnis, das dieses Fremdwort der deutschen Sprache einverleibte, berechtigt? Viele Fremdwörter, die unsre Sprache verunzieren, haben ihren Grund in einem Bedürfnis der Geckenhaftigkeit, der Pedanterie, der Geistesträgheit. Gehört das Wort Nation vielleicht mit zu dieser Klasse, so daß es im Grunde überflüssig wäre? Ganz gewiß nicht, denn das Bedürfnis liegt klar zu Tage und ist durchaus berechtigt. Dem Zweifel gegenüber, der bei dem Worte Volk entsteht, ob das Ganze oder ein Teil einer Gemeinschaft, ob ein winziges Ganze „ etwa das Volk von Anhalt — oder ein großes, geschichtlich bedeu¬ tendes bezeichnet werde, war ein Ausdruck gefordert, der unter allen Umständen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/155>, abgerufen am 04.07.2024.