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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Volk und Nation.

des Volkes und bildet seine Einheit. Wenn es sich darum handelt, den ge¬
schichtlichen Begriff eines Kulturvolkes festzustellen, so dürfte diese Bestimmung
genügen. Es entspricht ihr ganz und gar und stimmt auch mit der allgemeinen
Anschauung überein, wenn das "Manuskript aus Süddeutschland" den Satz
aufstellt, daß auch in den Zeiten der politischen Zertrümmerung und Zerrissen¬
heit Deutschlands, uuter der Herrschaft Napoleons und des Rheinbundes, das
deutsche Volk nicht aufgehört habe zu existiren. Der Volksgeist lebte und ver¬
stand die deutschen Gedanken, die Schiller ihm als Vermächtnis hinterlassen
hatte, die Fichte ihm ins Gewissen rief.

Wie klar und bestimmt uns aber auch jetzt der Begriff eines Volkes, wie
er sich in den geschichtlich auftretenden Kulturvölkern verwirklicht, erscheinen
mag, so drängt sich doch sofort auch der Gedanke auf, daß einerseits der
Sprachgebrauch mit dem Ausdrucke Volk noch eine ganze Menge andrer Be¬
griffe verbindet, anderseits aber auch eine ganze Anzahl verschiedener Wissen¬
schaften, die Völkerkunde, die Statistik, das Staatsrecht, die Politik, Begriffe
zu verwenden und zu unterscheiden genötigt sind, zu deren sprachlicher Be¬
zeichnung ihnen das Wort Volk und eine Anzahl sinnverwandter oder da¬
von hergeleiteter Ausdrücke unentbehrlich ist. Diese Ausdrücke, wie Stamm,
Völkerschaft, Nation, finden sich auch im allgemeinen Sprachgebrauche wieder,
und wo nicht das Gegenteil erweisbar ist, wird anzunehmen sein, daß sie dort
zuerst ihre Anwendung gefunden haben und von der Wissenschaft erst über¬
nommen und ihren besondern Zwecken dienstbar gemacht worden sind. Daraus
folgt, daß eine Untersuchung über die Frage, welcher Begriffsinhalt in den
sinnverwandten Wörtern Volk, Völkerschaft, Nation u. tgi. zu finden oder am
zweckmäßigsten hineinzulegen sei, beginnen muß mit einer Betrachtung des
gemeinen Sprachgebrauches und der von ihm verwendeten deutschen Stamm¬
worte, in denen doch jedenfalls die ursprünglichen Vorstellungen und Grund¬
ideen ihren Ausdruck gefunden haben. Welche Vorstellungen verbindet also die
deutsche Sprache ganz im allgemeinen mit dem Worte Volk?

"Die Glucke führt ihr Völklein aus," singt Paul Gerhard, und Gustav
Freytag erzählt in "Soll und Haben": "Auf der Weide saß ein Volk Sper¬
linge." Also Hühner und Spatzen, in unbestimmter Anzahl versammelt, sind
Völker. In eben diesem Sinne, zur Bezeichnung einer Menge von Individuen,
die als Gesamtheit gefaßt wird, überträgt sich das Wort auch auf Menschen.
"Sind doch ein wunderlich Volk, die Weiber!" meint Goethe, der auch von
den Studenten in Auerbachs Keller seineu Mephisto sagen läßt: "Dem Volke
hier wird jeder Tag ein Fest." Aus dem Zusammenhange der Verhältnisse
ergiebt sich für den Sprachgebrauch eine Menge besondrer Anwendungen des
Wortes Volk, die sich für den Beteiligten oder Nahestehenden von selbst
erklären. In mehreren Gegenden Deutschlands bezeichnet man mit Volk, bis¬
weilen auch mit der Mehrzahl Völker, die Dienstboten und Tagelöhner auf


Volk und Nation.

des Volkes und bildet seine Einheit. Wenn es sich darum handelt, den ge¬
schichtlichen Begriff eines Kulturvolkes festzustellen, so dürfte diese Bestimmung
genügen. Es entspricht ihr ganz und gar und stimmt auch mit der allgemeinen
Anschauung überein, wenn das „Manuskript aus Süddeutschland" den Satz
aufstellt, daß auch in den Zeiten der politischen Zertrümmerung und Zerrissen¬
heit Deutschlands, uuter der Herrschaft Napoleons und des Rheinbundes, das
deutsche Volk nicht aufgehört habe zu existiren. Der Volksgeist lebte und ver¬
stand die deutschen Gedanken, die Schiller ihm als Vermächtnis hinterlassen
hatte, die Fichte ihm ins Gewissen rief.

Wie klar und bestimmt uns aber auch jetzt der Begriff eines Volkes, wie
er sich in den geschichtlich auftretenden Kulturvölkern verwirklicht, erscheinen
mag, so drängt sich doch sofort auch der Gedanke auf, daß einerseits der
Sprachgebrauch mit dem Ausdrucke Volk noch eine ganze Menge andrer Be¬
griffe verbindet, anderseits aber auch eine ganze Anzahl verschiedener Wissen¬
schaften, die Völkerkunde, die Statistik, das Staatsrecht, die Politik, Begriffe
zu verwenden und zu unterscheiden genötigt sind, zu deren sprachlicher Be¬
zeichnung ihnen das Wort Volk und eine Anzahl sinnverwandter oder da¬
von hergeleiteter Ausdrücke unentbehrlich ist. Diese Ausdrücke, wie Stamm,
Völkerschaft, Nation, finden sich auch im allgemeinen Sprachgebrauche wieder,
und wo nicht das Gegenteil erweisbar ist, wird anzunehmen sein, daß sie dort
zuerst ihre Anwendung gefunden haben und von der Wissenschaft erst über¬
nommen und ihren besondern Zwecken dienstbar gemacht worden sind. Daraus
folgt, daß eine Untersuchung über die Frage, welcher Begriffsinhalt in den
sinnverwandten Wörtern Volk, Völkerschaft, Nation u. tgi. zu finden oder am
zweckmäßigsten hineinzulegen sei, beginnen muß mit einer Betrachtung des
gemeinen Sprachgebrauches und der von ihm verwendeten deutschen Stamm¬
worte, in denen doch jedenfalls die ursprünglichen Vorstellungen und Grund¬
ideen ihren Ausdruck gefunden haben. Welche Vorstellungen verbindet also die
deutsche Sprache ganz im allgemeinen mit dem Worte Volk?

„Die Glucke führt ihr Völklein aus," singt Paul Gerhard, und Gustav
Freytag erzählt in „Soll und Haben": „Auf der Weide saß ein Volk Sper¬
linge." Also Hühner und Spatzen, in unbestimmter Anzahl versammelt, sind
Völker. In eben diesem Sinne, zur Bezeichnung einer Menge von Individuen,
die als Gesamtheit gefaßt wird, überträgt sich das Wort auch auf Menschen.
„Sind doch ein wunderlich Volk, die Weiber!" meint Goethe, der auch von
den Studenten in Auerbachs Keller seineu Mephisto sagen läßt: „Dem Volke
hier wird jeder Tag ein Fest." Aus dem Zusammenhange der Verhältnisse
ergiebt sich für den Sprachgebrauch eine Menge besondrer Anwendungen des
Wortes Volk, die sich für den Beteiligten oder Nahestehenden von selbst
erklären. In mehreren Gegenden Deutschlands bezeichnet man mit Volk, bis¬
weilen auch mit der Mehrzahl Völker, die Dienstboten und Tagelöhner auf


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[0154] Volk und Nation. des Volkes und bildet seine Einheit. Wenn es sich darum handelt, den ge¬ schichtlichen Begriff eines Kulturvolkes festzustellen, so dürfte diese Bestimmung genügen. Es entspricht ihr ganz und gar und stimmt auch mit der allgemeinen Anschauung überein, wenn das „Manuskript aus Süddeutschland" den Satz aufstellt, daß auch in den Zeiten der politischen Zertrümmerung und Zerrissen¬ heit Deutschlands, uuter der Herrschaft Napoleons und des Rheinbundes, das deutsche Volk nicht aufgehört habe zu existiren. Der Volksgeist lebte und ver¬ stand die deutschen Gedanken, die Schiller ihm als Vermächtnis hinterlassen hatte, die Fichte ihm ins Gewissen rief. Wie klar und bestimmt uns aber auch jetzt der Begriff eines Volkes, wie er sich in den geschichtlich auftretenden Kulturvölkern verwirklicht, erscheinen mag, so drängt sich doch sofort auch der Gedanke auf, daß einerseits der Sprachgebrauch mit dem Ausdrucke Volk noch eine ganze Menge andrer Be¬ griffe verbindet, anderseits aber auch eine ganze Anzahl verschiedener Wissen¬ schaften, die Völkerkunde, die Statistik, das Staatsrecht, die Politik, Begriffe zu verwenden und zu unterscheiden genötigt sind, zu deren sprachlicher Be¬ zeichnung ihnen das Wort Volk und eine Anzahl sinnverwandter oder da¬ von hergeleiteter Ausdrücke unentbehrlich ist. Diese Ausdrücke, wie Stamm, Völkerschaft, Nation, finden sich auch im allgemeinen Sprachgebrauche wieder, und wo nicht das Gegenteil erweisbar ist, wird anzunehmen sein, daß sie dort zuerst ihre Anwendung gefunden haben und von der Wissenschaft erst über¬ nommen und ihren besondern Zwecken dienstbar gemacht worden sind. Daraus folgt, daß eine Untersuchung über die Frage, welcher Begriffsinhalt in den sinnverwandten Wörtern Volk, Völkerschaft, Nation u. tgi. zu finden oder am zweckmäßigsten hineinzulegen sei, beginnen muß mit einer Betrachtung des gemeinen Sprachgebrauches und der von ihm verwendeten deutschen Stamm¬ worte, in denen doch jedenfalls die ursprünglichen Vorstellungen und Grund¬ ideen ihren Ausdruck gefunden haben. Welche Vorstellungen verbindet also die deutsche Sprache ganz im allgemeinen mit dem Worte Volk? „Die Glucke führt ihr Völklein aus," singt Paul Gerhard, und Gustav Freytag erzählt in „Soll und Haben": „Auf der Weide saß ein Volk Sper¬ linge." Also Hühner und Spatzen, in unbestimmter Anzahl versammelt, sind Völker. In eben diesem Sinne, zur Bezeichnung einer Menge von Individuen, die als Gesamtheit gefaßt wird, überträgt sich das Wort auch auf Menschen. „Sind doch ein wunderlich Volk, die Weiber!" meint Goethe, der auch von den Studenten in Auerbachs Keller seineu Mephisto sagen läßt: „Dem Volke hier wird jeder Tag ein Fest." Aus dem Zusammenhange der Verhältnisse ergiebt sich für den Sprachgebrauch eine Menge besondrer Anwendungen des Wortes Volk, die sich für den Beteiligten oder Nahestehenden von selbst erklären. In mehreren Gegenden Deutschlands bezeichnet man mit Volk, bis¬ weilen auch mit der Mehrzahl Völker, die Dienstboten und Tagelöhner auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/154>, abgerufen am 02.07.2024.