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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Volk und Nation

l e Frage, was eigentlich ein Volk ^sei, beschäftigt nicht erst seit
gestern die Wissenschaft. Kant hat sich an einer Begriffsbestim¬
mung versucht, die in ihrer Dürftigkeit Zeugnis dafür ablegt, wie
geringe Bedeutung zu seiner Zeit dem Volke thatsächlich zuerkannt
wurde. Unter dem Worte Volk, meinte der Königsberger Philosoph,
verstehe man die in einem Landstriche vereinigte Menge Menschen, insofern sie
ein Ganzes ausmache. Die wesentliche Frage, was denn nun der Gesichtspunkt,
das Prinzip oder die wirkende Kraft sei, wodurch die "vereinigte Menge" sich
als Ganzes von andern abscheidet, wird dabei gar nicht berührt. Diesen Mangel
suchte Fichte zu ergänzen, dessen radikaler Idealismus in Deutschland nur ein
einziges Volk, das deutsche, und nur ein staatliches Band, das Reich, gelten
lassen wollte. Volk ist nach Fichte "das Ganze der in Gesellschaft mit
einander fortlebenden und sich aus sich selbst immer fort natürlich und geistig
erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze
der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht." Auf das "besondre Entwick¬
lungsgesetz" hingewiesen zu haben, ist ohne Zweifel ein großes Verdienst um
die richtige Bestimmung des Begriffes Volk, doch dürfte man immer noch die
volle Klarheit über die Frage vermissen, wie sich denn nun dieses besondre
Gesetz deutlich und unzweifelhaft ausspreche, auf welche Weise es zu erkennen
sei. Hierauf erwidert die neue Wissenschaft der Völkerpsychologie: Das Vor¬
handensein des besondern Entwicklungsgesetzes erweist sich im einzelnen Volke
als eine Thatsache des Bewußtseins desselben. Es ist der Volksgeist, der seiner
selbst bewußt wird und in tausend charakteristischen, insgesamt auf eine gemein¬
same Quelle zurückreichenden Erscheinungen auch für andre erkennbar zu Tage
tritt. Der Volksgeist, sagt Lazarus, ist gerade das, was die bloße Vielheit der
Individuen erst zu einem Volke macht, er ist das Band, das Prinzip, die Idee


Grenzboten IV. 1383. 19


Volk und Nation

l e Frage, was eigentlich ein Volk ^sei, beschäftigt nicht erst seit
gestern die Wissenschaft. Kant hat sich an einer Begriffsbestim¬
mung versucht, die in ihrer Dürftigkeit Zeugnis dafür ablegt, wie
geringe Bedeutung zu seiner Zeit dem Volke thatsächlich zuerkannt
wurde. Unter dem Worte Volk, meinte der Königsberger Philosoph,
verstehe man die in einem Landstriche vereinigte Menge Menschen, insofern sie
ein Ganzes ausmache. Die wesentliche Frage, was denn nun der Gesichtspunkt,
das Prinzip oder die wirkende Kraft sei, wodurch die „vereinigte Menge" sich
als Ganzes von andern abscheidet, wird dabei gar nicht berührt. Diesen Mangel
suchte Fichte zu ergänzen, dessen radikaler Idealismus in Deutschland nur ein
einziges Volk, das deutsche, und nur ein staatliches Band, das Reich, gelten
lassen wollte. Volk ist nach Fichte „das Ganze der in Gesellschaft mit
einander fortlebenden und sich aus sich selbst immer fort natürlich und geistig
erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze
der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht." Auf das „besondre Entwick¬
lungsgesetz" hingewiesen zu haben, ist ohne Zweifel ein großes Verdienst um
die richtige Bestimmung des Begriffes Volk, doch dürfte man immer noch die
volle Klarheit über die Frage vermissen, wie sich denn nun dieses besondre
Gesetz deutlich und unzweifelhaft ausspreche, auf welche Weise es zu erkennen
sei. Hierauf erwidert die neue Wissenschaft der Völkerpsychologie: Das Vor¬
handensein des besondern Entwicklungsgesetzes erweist sich im einzelnen Volke
als eine Thatsache des Bewußtseins desselben. Es ist der Volksgeist, der seiner
selbst bewußt wird und in tausend charakteristischen, insgesamt auf eine gemein¬
same Quelle zurückreichenden Erscheinungen auch für andre erkennbar zu Tage
tritt. Der Volksgeist, sagt Lazarus, ist gerade das, was die bloße Vielheit der
Individuen erst zu einem Volke macht, er ist das Band, das Prinzip, die Idee


Grenzboten IV. 1383. 19
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[0153] [Abbildung] Volk und Nation l e Frage, was eigentlich ein Volk ^sei, beschäftigt nicht erst seit gestern die Wissenschaft. Kant hat sich an einer Begriffsbestim¬ mung versucht, die in ihrer Dürftigkeit Zeugnis dafür ablegt, wie geringe Bedeutung zu seiner Zeit dem Volke thatsächlich zuerkannt wurde. Unter dem Worte Volk, meinte der Königsberger Philosoph, verstehe man die in einem Landstriche vereinigte Menge Menschen, insofern sie ein Ganzes ausmache. Die wesentliche Frage, was denn nun der Gesichtspunkt, das Prinzip oder die wirkende Kraft sei, wodurch die „vereinigte Menge" sich als Ganzes von andern abscheidet, wird dabei gar nicht berührt. Diesen Mangel suchte Fichte zu ergänzen, dessen radikaler Idealismus in Deutschland nur ein einziges Volk, das deutsche, und nur ein staatliches Band, das Reich, gelten lassen wollte. Volk ist nach Fichte „das Ganze der in Gesellschaft mit einander fortlebenden und sich aus sich selbst immer fort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besondern Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht." Auf das „besondre Entwick¬ lungsgesetz" hingewiesen zu haben, ist ohne Zweifel ein großes Verdienst um die richtige Bestimmung des Begriffes Volk, doch dürfte man immer noch die volle Klarheit über die Frage vermissen, wie sich denn nun dieses besondre Gesetz deutlich und unzweifelhaft ausspreche, auf welche Weise es zu erkennen sei. Hierauf erwidert die neue Wissenschaft der Völkerpsychologie: Das Vor¬ handensein des besondern Entwicklungsgesetzes erweist sich im einzelnen Volke als eine Thatsache des Bewußtseins desselben. Es ist der Volksgeist, der seiner selbst bewußt wird und in tausend charakteristischen, insgesamt auf eine gemein¬ same Quelle zurückreichenden Erscheinungen auch für andre erkennbar zu Tage tritt. Der Volksgeist, sagt Lazarus, ist gerade das, was die bloße Vielheit der Individuen erst zu einem Volke macht, er ist das Band, das Prinzip, die Idee Grenzboten IV. 1383. 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/153>, abgerufen am 30.06.2024.