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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

Willensakt, unser ganzer Körper nichts als der sichtbare Ausdruck des Willens
in uns, die Grenze desselben in der Erscheinung. Und was wir in und an
uns wahrnehmen, warum sollte es sich nicht ebenso im Tiere, in der Pflanze,
im Steine, in den physikalischen und chemischen Gesetzen, in den Elementen
offenbaren? Ohne Zweifel deutet der in unserm Bewußtsein vorhandene Wille
nicht nur vorwärts in die Welt der Erscheinungen hinaus, sondern auch rück¬
wärts in die Welt des wahren Seins, die hinter dem Weltknoten des indivi¬
duellen Bewußtseins liegt. Der Mensch selbst ist nur eine Stufe der Objek-
tivation, d.i. der Verkörperung, der Offenbarung des Urwillens, eine andre
ist das Tier, eine andre die Pflanze, eine andre der Stein, der Weltkörper,
das Licht, die Physische und chemische Kraft. Auf allen diesen Stufen offen¬
bart sich der eine Wille zugleich, auf jeder ganz, in jedem Individuum unge¬
teilt. In der unorganischen Welt gefällt er sich in den Qualitäten der Materie,
die selbst nichts ist als die Grenze des Willens in der Erscheinung überhaupt;
in der organischen Welt spielt er mit der Form; in den physikalischen und
chemischen Prozessen legt er sich die strengste gesetzliche Gebundenheit auf, in
den höher organisirten waltet er in immer größerer Freiheit. Eins ist ihm
so wichtig wie das andere, jedes Wesen, jede Kraftäußerung, jeder Vorgang
ist seine Erscheinung. Aus dem Urnebel ballt er sich zu Weltenkörpern zu¬
sammen, durchdringt sie als Wärme, bricht als Licht daraus hervor und um¬
kreist die Licht- oder Wärmequelle, die er selbst ist, als eine Schar von Planeten.
Er steigt als Berg aus der Erde hervor und erfüllt die Tiefe mit Wasser,
um zu fließen. Er verwittert zu Humus, um die abgekühlte Erdrinde zu
seinem Tummelplatze zu machen. Er sproßt als Pflanze daraus empor, um
alle Elemente zugleich zu genießen, Erde, Wasser, Licht und Luft, er wird
ganz Gefühl des Weichen als Wurm, ganz Behagen im Luftmeer als Vogel,
er taucht in die Flut als Fisch, jagt jauchzend über die weite Erdfläche als
Roß, klettert an sich selbst empor als Eichhörnchen und schreitet als Mensch
durch die irdische Schöpfung, um sich wie in einem Spiegel selbst zu betrachten.
Der UrWille kennt kein Werden, kein Vergehen, er ist, und darum ist er un¬
veränderlich, unvergänglich. Von der Wurzel bis zur Blüte bleibt sich die
Pflanze gleich in ihrem Wesen, das Tier stirbt, so wie es geboren wird, und
der kleinste Charakterzug im Kinde ist unverändert im Greise wiederzufinden.
Die Zwecke mögen sich ändern, die Mittel auch je nach den Wechselfällen und
dem Zwange des Lebens, aber das Wesen des Individuums ändert sich ebenso
wenig wie das Wesen der Gattung. Das ist der intelligible Charakter, von
dem schon Kant überzeugt war, wohl zu unterscheiden von dem empirischen,
der sich dadurch ausbildet, daß das Individuum die Mittel und Wege den
Verhältnissen anpaßt, aber ohne von seinem innersten Wollen auch nur ein
Haar breit abzuweichen. Und unvergänglich ist der Wille. Er ist da, solange
er will. Er hat eine Ewigkeit hinter sich und eine Ewigkeit vor sich, wenn er


Grenzboten IV. 1888. 16
Goethe und Schopenhauer.

Willensakt, unser ganzer Körper nichts als der sichtbare Ausdruck des Willens
in uns, die Grenze desselben in der Erscheinung. Und was wir in und an
uns wahrnehmen, warum sollte es sich nicht ebenso im Tiere, in der Pflanze,
im Steine, in den physikalischen und chemischen Gesetzen, in den Elementen
offenbaren? Ohne Zweifel deutet der in unserm Bewußtsein vorhandene Wille
nicht nur vorwärts in die Welt der Erscheinungen hinaus, sondern auch rück¬
wärts in die Welt des wahren Seins, die hinter dem Weltknoten des indivi¬
duellen Bewußtseins liegt. Der Mensch selbst ist nur eine Stufe der Objek-
tivation, d.i. der Verkörperung, der Offenbarung des Urwillens, eine andre
ist das Tier, eine andre die Pflanze, eine andre der Stein, der Weltkörper,
das Licht, die Physische und chemische Kraft. Auf allen diesen Stufen offen¬
bart sich der eine Wille zugleich, auf jeder ganz, in jedem Individuum unge¬
teilt. In der unorganischen Welt gefällt er sich in den Qualitäten der Materie,
die selbst nichts ist als die Grenze des Willens in der Erscheinung überhaupt;
in der organischen Welt spielt er mit der Form; in den physikalischen und
chemischen Prozessen legt er sich die strengste gesetzliche Gebundenheit auf, in
den höher organisirten waltet er in immer größerer Freiheit. Eins ist ihm
so wichtig wie das andere, jedes Wesen, jede Kraftäußerung, jeder Vorgang
ist seine Erscheinung. Aus dem Urnebel ballt er sich zu Weltenkörpern zu¬
sammen, durchdringt sie als Wärme, bricht als Licht daraus hervor und um¬
kreist die Licht- oder Wärmequelle, die er selbst ist, als eine Schar von Planeten.
Er steigt als Berg aus der Erde hervor und erfüllt die Tiefe mit Wasser,
um zu fließen. Er verwittert zu Humus, um die abgekühlte Erdrinde zu
seinem Tummelplatze zu machen. Er sproßt als Pflanze daraus empor, um
alle Elemente zugleich zu genießen, Erde, Wasser, Licht und Luft, er wird
ganz Gefühl des Weichen als Wurm, ganz Behagen im Luftmeer als Vogel,
er taucht in die Flut als Fisch, jagt jauchzend über die weite Erdfläche als
Roß, klettert an sich selbst empor als Eichhörnchen und schreitet als Mensch
durch die irdische Schöpfung, um sich wie in einem Spiegel selbst zu betrachten.
Der UrWille kennt kein Werden, kein Vergehen, er ist, und darum ist er un¬
veränderlich, unvergänglich. Von der Wurzel bis zur Blüte bleibt sich die
Pflanze gleich in ihrem Wesen, das Tier stirbt, so wie es geboren wird, und
der kleinste Charakterzug im Kinde ist unverändert im Greise wiederzufinden.
Die Zwecke mögen sich ändern, die Mittel auch je nach den Wechselfällen und
dem Zwange des Lebens, aber das Wesen des Individuums ändert sich ebenso
wenig wie das Wesen der Gattung. Das ist der intelligible Charakter, von
dem schon Kant überzeugt war, wohl zu unterscheiden von dem empirischen,
der sich dadurch ausbildet, daß das Individuum die Mittel und Wege den
Verhältnissen anpaßt, aber ohne von seinem innersten Wollen auch nur ein
Haar breit abzuweichen. Und unvergänglich ist der Wille. Er ist da, solange
er will. Er hat eine Ewigkeit hinter sich und eine Ewigkeit vor sich, wenn er


Grenzboten IV. 1888. 16
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[0129] Goethe und Schopenhauer. Willensakt, unser ganzer Körper nichts als der sichtbare Ausdruck des Willens in uns, die Grenze desselben in der Erscheinung. Und was wir in und an uns wahrnehmen, warum sollte es sich nicht ebenso im Tiere, in der Pflanze, im Steine, in den physikalischen und chemischen Gesetzen, in den Elementen offenbaren? Ohne Zweifel deutet der in unserm Bewußtsein vorhandene Wille nicht nur vorwärts in die Welt der Erscheinungen hinaus, sondern auch rück¬ wärts in die Welt des wahren Seins, die hinter dem Weltknoten des indivi¬ duellen Bewußtseins liegt. Der Mensch selbst ist nur eine Stufe der Objek- tivation, d.i. der Verkörperung, der Offenbarung des Urwillens, eine andre ist das Tier, eine andre die Pflanze, eine andre der Stein, der Weltkörper, das Licht, die Physische und chemische Kraft. Auf allen diesen Stufen offen¬ bart sich der eine Wille zugleich, auf jeder ganz, in jedem Individuum unge¬ teilt. In der unorganischen Welt gefällt er sich in den Qualitäten der Materie, die selbst nichts ist als die Grenze des Willens in der Erscheinung überhaupt; in der organischen Welt spielt er mit der Form; in den physikalischen und chemischen Prozessen legt er sich die strengste gesetzliche Gebundenheit auf, in den höher organisirten waltet er in immer größerer Freiheit. Eins ist ihm so wichtig wie das andere, jedes Wesen, jede Kraftäußerung, jeder Vorgang ist seine Erscheinung. Aus dem Urnebel ballt er sich zu Weltenkörpern zu¬ sammen, durchdringt sie als Wärme, bricht als Licht daraus hervor und um¬ kreist die Licht- oder Wärmequelle, die er selbst ist, als eine Schar von Planeten. Er steigt als Berg aus der Erde hervor und erfüllt die Tiefe mit Wasser, um zu fließen. Er verwittert zu Humus, um die abgekühlte Erdrinde zu seinem Tummelplatze zu machen. Er sproßt als Pflanze daraus empor, um alle Elemente zugleich zu genießen, Erde, Wasser, Licht und Luft, er wird ganz Gefühl des Weichen als Wurm, ganz Behagen im Luftmeer als Vogel, er taucht in die Flut als Fisch, jagt jauchzend über die weite Erdfläche als Roß, klettert an sich selbst empor als Eichhörnchen und schreitet als Mensch durch die irdische Schöpfung, um sich wie in einem Spiegel selbst zu betrachten. Der UrWille kennt kein Werden, kein Vergehen, er ist, und darum ist er un¬ veränderlich, unvergänglich. Von der Wurzel bis zur Blüte bleibt sich die Pflanze gleich in ihrem Wesen, das Tier stirbt, so wie es geboren wird, und der kleinste Charakterzug im Kinde ist unverändert im Greise wiederzufinden. Die Zwecke mögen sich ändern, die Mittel auch je nach den Wechselfällen und dem Zwange des Lebens, aber das Wesen des Individuums ändert sich ebenso wenig wie das Wesen der Gattung. Das ist der intelligible Charakter, von dem schon Kant überzeugt war, wohl zu unterscheiden von dem empirischen, der sich dadurch ausbildet, daß das Individuum die Mittel und Wege den Verhältnissen anpaßt, aber ohne von seinem innersten Wollen auch nur ein Haar breit abzuweichen. Und unvergänglich ist der Wille. Er ist da, solange er will. Er hat eine Ewigkeit hinter sich und eine Ewigkeit vor sich, wenn er Grenzboten IV. 1888. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/129>, abgerufen am 22.07.2024.