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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

erscheint; er überdauert den Tod, wie er den Schlaf überdauert, und die un¬
nützeste Sorge, die sich ein Mensch machen kann, ist die, daß er untergehen
konnte, solange er leben will. Aber wo liegt die Wurzel des UrWillens, wie
er sich in der Natur darstellt, wo ist das UrWesen? Auf diese Frage schweigt
Schopenhauer, er will das undurchdringliche Dunkel, aus dem unser selbst¬
bewußter Wille wie ein leuchtender Diamant hervorragt, nicht durch müßige
metaphysische Gcdankenspielereien zu lüften versuchen, er begnügt sich damit,
den Willen entdeckt zu haben.

Aber was er auf metaphysischen Wege verschmäht, versucht er doch noch
auf ethischem Gebiete. Hier waren die indischen Weisen seine Lehrer und ihre
Schriften, 0vxn6kath.t und die Neben, seine heiligen Bücher. Die Welt in
Raum und Zeit, die Welt der Erscheinungen ist zugleich die Welt des
Scheines, der trügerische Schleier der Maja. Alle Freuden sind Täuschung, real
ist nur das Elend. Und das Elend ist die notwendige Folge der Schöpfung
in Raum und Zeit, denn auf jeder Stufe der Wesen und in jedem Indi¬
viduum kann das eine Urwesen seinen Willen nur durchsetzen, indem es andre
Willensakte beschränkt, d. h. sich selbst verzehrt oder verdrängt. Daher der
fortwährende Streit um die Materie. Schon daß ich bin, verkümmert andern
den Spielraum des Lebeus; im fortwährenden Kampfe muß ich mich erhalten
und wofür? Für den Tod, d. h. für den Untergang meines individuellen Be¬
wußtseins. Dies ist der berühmte und berüchtigte Pessimismus Schopenhauers.
Die einzige Rettung des denkenden Menschen in dieser Welt trügerischer
Hoffnung und grenzenlosen Elends ist das Mitleid mit allen Geschöpfen. Dieses
Mitleid ist der Wurzelstock aller Sittlichkeit und der deutlichste Beweis für
die Einheit des Weltwillcns, denn für etwas, was mit mir selbst im innersten
Grunde nicht wesensgleich wäre, könnte ich kein Mitleid haben. I'vüirr g.si,
das bist du, ist die Lehre der Brahmanen über das Verhältnis des Menschen
zu allen Geschöpfen. Aber das Elend der Welt hat seinen letzten Grund im
UrWesen selbst, das aus seinem Jndisfercnzpunkte, dem "Nirwana" -- dem
"Nichts" nach unsrer oberflächlichen Ausdrucksweise, die übersieht, daß es ein
Nichts gar nicht geben kann -- herausgetreten ist und sich durch Polarisation
in Ruhe und Bewegung mit sich selbst entzweit hat. Diese Selbstentzweiung
des Urwesens kommt in den Individuen am empfindlichsten zum Ausdruck.
Der Wille zum Leben drängt in unersättlicher Hast von Wunsch zu Wunsch
und muß sich mit dem Schein begnügen, der nie befriedigt, nie beruhigt. Da
auch der Tod, obgleich er reinigt, führt und zur Verjüngung überführt, diesen
Willen zum Leben nicht bewältigen kann, nur eine kurze Pause in der Jagd
nach dem Glücke ist, so bleibt nichts übrig als den Willen zum Leben selbst
zu überwinden. Dies ist Schopenhauers berühmte "Verneinung des Willens
zum Leben." Sie wird erlangt durch die Einsicht, daß die Schöpfung in
Raum und Zeit ein sinnliches Gaukelspiel, das individuelle Leben wertlos und


Goethe und Schopenhauer.

erscheint; er überdauert den Tod, wie er den Schlaf überdauert, und die un¬
nützeste Sorge, die sich ein Mensch machen kann, ist die, daß er untergehen
konnte, solange er leben will. Aber wo liegt die Wurzel des UrWillens, wie
er sich in der Natur darstellt, wo ist das UrWesen? Auf diese Frage schweigt
Schopenhauer, er will das undurchdringliche Dunkel, aus dem unser selbst¬
bewußter Wille wie ein leuchtender Diamant hervorragt, nicht durch müßige
metaphysische Gcdankenspielereien zu lüften versuchen, er begnügt sich damit,
den Willen entdeckt zu haben.

Aber was er auf metaphysischen Wege verschmäht, versucht er doch noch
auf ethischem Gebiete. Hier waren die indischen Weisen seine Lehrer und ihre
Schriften, 0vxn6kath.t und die Neben, seine heiligen Bücher. Die Welt in
Raum und Zeit, die Welt der Erscheinungen ist zugleich die Welt des
Scheines, der trügerische Schleier der Maja. Alle Freuden sind Täuschung, real
ist nur das Elend. Und das Elend ist die notwendige Folge der Schöpfung
in Raum und Zeit, denn auf jeder Stufe der Wesen und in jedem Indi¬
viduum kann das eine Urwesen seinen Willen nur durchsetzen, indem es andre
Willensakte beschränkt, d. h. sich selbst verzehrt oder verdrängt. Daher der
fortwährende Streit um die Materie. Schon daß ich bin, verkümmert andern
den Spielraum des Lebeus; im fortwährenden Kampfe muß ich mich erhalten
und wofür? Für den Tod, d. h. für den Untergang meines individuellen Be¬
wußtseins. Dies ist der berühmte und berüchtigte Pessimismus Schopenhauers.
Die einzige Rettung des denkenden Menschen in dieser Welt trügerischer
Hoffnung und grenzenlosen Elends ist das Mitleid mit allen Geschöpfen. Dieses
Mitleid ist der Wurzelstock aller Sittlichkeit und der deutlichste Beweis für
die Einheit des Weltwillcns, denn für etwas, was mit mir selbst im innersten
Grunde nicht wesensgleich wäre, könnte ich kein Mitleid haben. I'vüirr g.si,
das bist du, ist die Lehre der Brahmanen über das Verhältnis des Menschen
zu allen Geschöpfen. Aber das Elend der Welt hat seinen letzten Grund im
UrWesen selbst, das aus seinem Jndisfercnzpunkte, dem „Nirwana" — dem
„Nichts" nach unsrer oberflächlichen Ausdrucksweise, die übersieht, daß es ein
Nichts gar nicht geben kann — herausgetreten ist und sich durch Polarisation
in Ruhe und Bewegung mit sich selbst entzweit hat. Diese Selbstentzweiung
des Urwesens kommt in den Individuen am empfindlichsten zum Ausdruck.
Der Wille zum Leben drängt in unersättlicher Hast von Wunsch zu Wunsch
und muß sich mit dem Schein begnügen, der nie befriedigt, nie beruhigt. Da
auch der Tod, obgleich er reinigt, führt und zur Verjüngung überführt, diesen
Willen zum Leben nicht bewältigen kann, nur eine kurze Pause in der Jagd
nach dem Glücke ist, so bleibt nichts übrig als den Willen zum Leben selbst
zu überwinden. Dies ist Schopenhauers berühmte „Verneinung des Willens
zum Leben." Sie wird erlangt durch die Einsicht, daß die Schöpfung in
Raum und Zeit ein sinnliches Gaukelspiel, das individuelle Leben wertlos und


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[0130] Goethe und Schopenhauer. erscheint; er überdauert den Tod, wie er den Schlaf überdauert, und die un¬ nützeste Sorge, die sich ein Mensch machen kann, ist die, daß er untergehen konnte, solange er leben will. Aber wo liegt die Wurzel des UrWillens, wie er sich in der Natur darstellt, wo ist das UrWesen? Auf diese Frage schweigt Schopenhauer, er will das undurchdringliche Dunkel, aus dem unser selbst¬ bewußter Wille wie ein leuchtender Diamant hervorragt, nicht durch müßige metaphysische Gcdankenspielereien zu lüften versuchen, er begnügt sich damit, den Willen entdeckt zu haben. Aber was er auf metaphysischen Wege verschmäht, versucht er doch noch auf ethischem Gebiete. Hier waren die indischen Weisen seine Lehrer und ihre Schriften, 0vxn6kath.t und die Neben, seine heiligen Bücher. Die Welt in Raum und Zeit, die Welt der Erscheinungen ist zugleich die Welt des Scheines, der trügerische Schleier der Maja. Alle Freuden sind Täuschung, real ist nur das Elend. Und das Elend ist die notwendige Folge der Schöpfung in Raum und Zeit, denn auf jeder Stufe der Wesen und in jedem Indi¬ viduum kann das eine Urwesen seinen Willen nur durchsetzen, indem es andre Willensakte beschränkt, d. h. sich selbst verzehrt oder verdrängt. Daher der fortwährende Streit um die Materie. Schon daß ich bin, verkümmert andern den Spielraum des Lebeus; im fortwährenden Kampfe muß ich mich erhalten und wofür? Für den Tod, d. h. für den Untergang meines individuellen Be¬ wußtseins. Dies ist der berühmte und berüchtigte Pessimismus Schopenhauers. Die einzige Rettung des denkenden Menschen in dieser Welt trügerischer Hoffnung und grenzenlosen Elends ist das Mitleid mit allen Geschöpfen. Dieses Mitleid ist der Wurzelstock aller Sittlichkeit und der deutlichste Beweis für die Einheit des Weltwillcns, denn für etwas, was mit mir selbst im innersten Grunde nicht wesensgleich wäre, könnte ich kein Mitleid haben. I'vüirr g.si, das bist du, ist die Lehre der Brahmanen über das Verhältnis des Menschen zu allen Geschöpfen. Aber das Elend der Welt hat seinen letzten Grund im UrWesen selbst, das aus seinem Jndisfercnzpunkte, dem „Nirwana" — dem „Nichts" nach unsrer oberflächlichen Ausdrucksweise, die übersieht, daß es ein Nichts gar nicht geben kann — herausgetreten ist und sich durch Polarisation in Ruhe und Bewegung mit sich selbst entzweit hat. Diese Selbstentzweiung des Urwesens kommt in den Individuen am empfindlichsten zum Ausdruck. Der Wille zum Leben drängt in unersättlicher Hast von Wunsch zu Wunsch und muß sich mit dem Schein begnügen, der nie befriedigt, nie beruhigt. Da auch der Tod, obgleich er reinigt, führt und zur Verjüngung überführt, diesen Willen zum Leben nicht bewältigen kann, nur eine kurze Pause in der Jagd nach dem Glücke ist, so bleibt nichts übrig als den Willen zum Leben selbst zu überwinden. Dies ist Schopenhauers berühmte „Verneinung des Willens zum Leben." Sie wird erlangt durch die Einsicht, daß die Schöpfung in Raum und Zeit ein sinnliches Gaukelspiel, das individuelle Leben wertlos und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/130>, abgerufen am 24.08.2024.