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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

und Riechers, Formen, die dem Menschen von der Natur gegeben sind, damit
er sich in der Welt zurecht finde, seine Bedürfnisse befriedige und sein Geschlecht
fortpflanze; alle Versuche, über diese einzige Bestimmung der Gehirnthätigkeit
hinauszugehen, führen nie zu einem Endresultate, alles Forschen, Glauben,
Meinen, alle metaphysischen, ästhetischen, wissenschaftlichen Spekulationen, die
das Maß des Bedürfnisses überschreiten, sind strenggenommen schon ein Mi߬
brauch dieser Denkkraft, die nichts als ein Mittel zur Orientirung ist. Aber
liegt nicht dem Denken das Selbstbewußtsein, das unsterbliche Menschen-Ich
zu Grunde? Gewiß, aber das Leben, das dem Selbstbewußtsein vorangeht und
dieses erst erzeugt, ist nicht an das Denken gebunden, es wohnt dem Brausen
des Sturmes, dem Wogen des Meeres, dem Züngeln des Feuers, dem Lispeln
der Blätter, dem Ächzen des Holzes, dem Glänze des Metalles, der stillen
Schönheit der Blume, dem Knurren unsers Magens und der unbestimmten
Angst unsers Herzens ebenso inne, als dem Notschrei des Tieres und der
logisch geordneten Rede des Menschen. Nur die Form ist verschieden. Aber
in der Individualität, im Ich, vom pedantisch regelmäßigen Krystall bis zum
freiwaltendeu Machtbcwußtsein des großen Staatsmannes, Helden und Ge¬
lehrten, ist der Weltknoten, die wunderbare Verknüpfung von Wollen und
Erkennen, der Pol im ewigen Flusse des Werdens, der mathematische Punkt,
in dem Ruhe und Bewegung in eins zusammengehen. Dieses Ich, dieses Alles
ist trotzdem ein Nichts, denn es existirt nicht für sich, sondern für die Gattung.
Von dieser wird es getragen, geschmückt, erhalten, gesteigert, so lange es ihr
dienen kann, und aufgegeben, sobald es diesen Dienst geleistet hat oder sobald
mechanische, chemische, psychische Mächte es energisch bekämpfen. Für die
Gattung lebt das Individuum, für diese pflanzt es sich fort in der Zeugung,
in diese versinkt es im Tode, freilich nur scheinbar, denn auch die Gattung ist
nichts ohne die Individuen, und der sinkende Tropfen berührt nur die Ober¬
fläche der wallenden Flut, um sich sogleich wieder zu erheben, ein andrer und
doch derselbe, ohne Bewußtsein des Vergangenen und doch ohne Unterbrechung
mit ihr verbunden, wie das Heute mit dem Gestern durch den erquickenden
Schlaf. Denn was ist, kann nicht vergehen. Im Lichte des allen Scheines
entblößten Seins giebt es nur Gegenwart, nicht Vergangenheit und Zukunft.
Alle diese Gedanken haben, so scheint es, eine stark materialistische Färbung,
aber es scheint nur so, in Wahrheit deute" sie bereits auf den idealen Kern¬
punkt der Schopenhcmerschen Metaphysik hin. In aller Erkenntnis, beziehe sie
sich nun auf die äußere oder die innere Erfahrung, lassen sich zwei Faktoren
unterscheiden, das Erkennende und das Erkannte, Subjekt und Objekt. Diese
Bestandteile aller Erkenntnis sind aufs engste verbunden, sie sind untrennbar.
Aber im Selbstbewußtsein entdecken wir noch etwas, das aus derselben dunkeln
Tiefe hervortritt, wie . das erkennende Subjekt, ja das mit diesem in einem
Punkte zusammentrifft, den Willen. Jede Bewegung unsers Körpers ist ein


Goethe und Schopenhauer.

und Riechers, Formen, die dem Menschen von der Natur gegeben sind, damit
er sich in der Welt zurecht finde, seine Bedürfnisse befriedige und sein Geschlecht
fortpflanze; alle Versuche, über diese einzige Bestimmung der Gehirnthätigkeit
hinauszugehen, führen nie zu einem Endresultate, alles Forschen, Glauben,
Meinen, alle metaphysischen, ästhetischen, wissenschaftlichen Spekulationen, die
das Maß des Bedürfnisses überschreiten, sind strenggenommen schon ein Mi߬
brauch dieser Denkkraft, die nichts als ein Mittel zur Orientirung ist. Aber
liegt nicht dem Denken das Selbstbewußtsein, das unsterbliche Menschen-Ich
zu Grunde? Gewiß, aber das Leben, das dem Selbstbewußtsein vorangeht und
dieses erst erzeugt, ist nicht an das Denken gebunden, es wohnt dem Brausen
des Sturmes, dem Wogen des Meeres, dem Züngeln des Feuers, dem Lispeln
der Blätter, dem Ächzen des Holzes, dem Glänze des Metalles, der stillen
Schönheit der Blume, dem Knurren unsers Magens und der unbestimmten
Angst unsers Herzens ebenso inne, als dem Notschrei des Tieres und der
logisch geordneten Rede des Menschen. Nur die Form ist verschieden. Aber
in der Individualität, im Ich, vom pedantisch regelmäßigen Krystall bis zum
freiwaltendeu Machtbcwußtsein des großen Staatsmannes, Helden und Ge¬
lehrten, ist der Weltknoten, die wunderbare Verknüpfung von Wollen und
Erkennen, der Pol im ewigen Flusse des Werdens, der mathematische Punkt,
in dem Ruhe und Bewegung in eins zusammengehen. Dieses Ich, dieses Alles
ist trotzdem ein Nichts, denn es existirt nicht für sich, sondern für die Gattung.
Von dieser wird es getragen, geschmückt, erhalten, gesteigert, so lange es ihr
dienen kann, und aufgegeben, sobald es diesen Dienst geleistet hat oder sobald
mechanische, chemische, psychische Mächte es energisch bekämpfen. Für die
Gattung lebt das Individuum, für diese pflanzt es sich fort in der Zeugung,
in diese versinkt es im Tode, freilich nur scheinbar, denn auch die Gattung ist
nichts ohne die Individuen, und der sinkende Tropfen berührt nur die Ober¬
fläche der wallenden Flut, um sich sogleich wieder zu erheben, ein andrer und
doch derselbe, ohne Bewußtsein des Vergangenen und doch ohne Unterbrechung
mit ihr verbunden, wie das Heute mit dem Gestern durch den erquickenden
Schlaf. Denn was ist, kann nicht vergehen. Im Lichte des allen Scheines
entblößten Seins giebt es nur Gegenwart, nicht Vergangenheit und Zukunft.
Alle diese Gedanken haben, so scheint es, eine stark materialistische Färbung,
aber es scheint nur so, in Wahrheit deute« sie bereits auf den idealen Kern¬
punkt der Schopenhcmerschen Metaphysik hin. In aller Erkenntnis, beziehe sie
sich nun auf die äußere oder die innere Erfahrung, lassen sich zwei Faktoren
unterscheiden, das Erkennende und das Erkannte, Subjekt und Objekt. Diese
Bestandteile aller Erkenntnis sind aufs engste verbunden, sie sind untrennbar.
Aber im Selbstbewußtsein entdecken wir noch etwas, das aus derselben dunkeln
Tiefe hervortritt, wie . das erkennende Subjekt, ja das mit diesem in einem
Punkte zusammentrifft, den Willen. Jede Bewegung unsers Körpers ist ein


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[0128] Goethe und Schopenhauer. und Riechers, Formen, die dem Menschen von der Natur gegeben sind, damit er sich in der Welt zurecht finde, seine Bedürfnisse befriedige und sein Geschlecht fortpflanze; alle Versuche, über diese einzige Bestimmung der Gehirnthätigkeit hinauszugehen, führen nie zu einem Endresultate, alles Forschen, Glauben, Meinen, alle metaphysischen, ästhetischen, wissenschaftlichen Spekulationen, die das Maß des Bedürfnisses überschreiten, sind strenggenommen schon ein Mi߬ brauch dieser Denkkraft, die nichts als ein Mittel zur Orientirung ist. Aber liegt nicht dem Denken das Selbstbewußtsein, das unsterbliche Menschen-Ich zu Grunde? Gewiß, aber das Leben, das dem Selbstbewußtsein vorangeht und dieses erst erzeugt, ist nicht an das Denken gebunden, es wohnt dem Brausen des Sturmes, dem Wogen des Meeres, dem Züngeln des Feuers, dem Lispeln der Blätter, dem Ächzen des Holzes, dem Glänze des Metalles, der stillen Schönheit der Blume, dem Knurren unsers Magens und der unbestimmten Angst unsers Herzens ebenso inne, als dem Notschrei des Tieres und der logisch geordneten Rede des Menschen. Nur die Form ist verschieden. Aber in der Individualität, im Ich, vom pedantisch regelmäßigen Krystall bis zum freiwaltendeu Machtbcwußtsein des großen Staatsmannes, Helden und Ge¬ lehrten, ist der Weltknoten, die wunderbare Verknüpfung von Wollen und Erkennen, der Pol im ewigen Flusse des Werdens, der mathematische Punkt, in dem Ruhe und Bewegung in eins zusammengehen. Dieses Ich, dieses Alles ist trotzdem ein Nichts, denn es existirt nicht für sich, sondern für die Gattung. Von dieser wird es getragen, geschmückt, erhalten, gesteigert, so lange es ihr dienen kann, und aufgegeben, sobald es diesen Dienst geleistet hat oder sobald mechanische, chemische, psychische Mächte es energisch bekämpfen. Für die Gattung lebt das Individuum, für diese pflanzt es sich fort in der Zeugung, in diese versinkt es im Tode, freilich nur scheinbar, denn auch die Gattung ist nichts ohne die Individuen, und der sinkende Tropfen berührt nur die Ober¬ fläche der wallenden Flut, um sich sogleich wieder zu erheben, ein andrer und doch derselbe, ohne Bewußtsein des Vergangenen und doch ohne Unterbrechung mit ihr verbunden, wie das Heute mit dem Gestern durch den erquickenden Schlaf. Denn was ist, kann nicht vergehen. Im Lichte des allen Scheines entblößten Seins giebt es nur Gegenwart, nicht Vergangenheit und Zukunft. Alle diese Gedanken haben, so scheint es, eine stark materialistische Färbung, aber es scheint nur so, in Wahrheit deute« sie bereits auf den idealen Kern¬ punkt der Schopenhcmerschen Metaphysik hin. In aller Erkenntnis, beziehe sie sich nun auf die äußere oder die innere Erfahrung, lassen sich zwei Faktoren unterscheiden, das Erkennende und das Erkannte, Subjekt und Objekt. Diese Bestandteile aller Erkenntnis sind aufs engste verbunden, sie sind untrennbar. Aber im Selbstbewußtsein entdecken wir noch etwas, das aus derselben dunkeln Tiefe hervortritt, wie . das erkennende Subjekt, ja das mit diesem in einem Punkte zusammentrifft, den Willen. Jede Bewegung unsers Körpers ist ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/128>, abgerufen am 24.08.2024.