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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

werden, selbst diejenigen nicht, welche in Prinzipien einig sind, denn die An¬
wendung entzweit sie sogleich wieder." Damit schickte er das Manuskript zurück,
das dann zur Ostermesse 1816 im Druck erschien. Als Goethe das gedruckte
Exemplar vor sich hatte, schrieb er an Staatsrat Schulze: "Dr. Schopenhauer
ist ein bedeutender Kopf, den ich selbst veranlaßte, weil er eine Zeit lang sich
in Weimar aufhielt, meine Farbenlehre zu ergreifen, damit wir in unsern
Unterhaltungen einen quasirealen Grund und Gegenstand hätten, worüber wir
uns besprachen, da ich in der intellektuellen Welt ohne eine solche Vermittlung
gar nicht wandeln kann, es müßte denn auf poetischem Wege sein, wo es sich
ohnehin von selbst giebt. Nun ist dieser junge Mann, von meinem Stand¬
punkte ausgehend, mein Gegner geworden. Zur Mittelstimmung dieser Differenz
habe ich auch wohl die Formel, doch bleiben dergleichen Dinge immer schwer
zu entwickeln."

Weder die Goethische noch die Schopenhauersche Theorie sind zu allge¬
meiner Anerkennung in fachgelehrten Kreisen gelangt. Fast drei Viertel eines
Jahrhunderts sind verflossen, seit Goethe sich über Schopenhauer beklagte, und
noch immer behauptet Newton das Feld.

In Dresden begann und vollendete Schopenhauer das Hauptwerk seines
Lebens "Die Welt als Wille und Vorstellung."*) Er war achtundzwanzig
Jahre alt, als diese gewaltige Schöpfung aus dem tiefsten Grunde seines
Geisteslebens hervortrat. Nicht plötzlich, nicht zufällig, nicht willkürlich und
künstlich zusammengesetzt. Die Elemente seines Systems waren "gewissermaßen
ohne sein Zuthun, strahlenweise wie ein Kristall zu einem Zentrum konvergi-
rend zusammengeschossen." Mit Recht wird Schopenhauer der letzte große
Philosoph seit Kant genannt. Er allein hat es vermocht, die Lehre Kants in
ihrer ganzen Erhabenheit, befreit von allen An- und Vorhanden zu zeigen, er
allein ist einen Schritt weiter gegangen, ohne in Phrasen und abstrakten Wort¬
kram zu versinken. Freilich ist er dogmatisch wie irgend einer, seine Lehre ist
Hypothese wie die Darwins, aber sie hat ebensoviel Überzeugungskraft wie
diese. Raum und Zeit, hatte Kant gesagt, sind Formen unsrer Anschauung,
die wir aller Erfahrung erst entgegenbringen und unabhängig von den Dingen,
Ä xriori in einer besondern Wissenschaft, der Mathematik, konstruiren können,
die aber auch eben deshalb nichts mit dem Urwesen der Welt, dem "Dinge an
sich" zu thun haben; dasselbe gilt von Ursache und Wirkung, denn auch diese
Begriffe sind Denkformen, die nie zur Ruhe kommen und nie zu einem Ruhe¬
punkte gelangen können. Schopenhauer geht noch weiter. Raum, Zeit, Zahl,
Ursache und Wirkung sind ihm uur die Formen unsers Gehirndenkens, Formen
eines körperlichen Organes gleich denen des Sehens, Hörens, Fühlens, Schmeckens



") Nur der erste Band des jetzt vorliegenden Werkes; der zweite erschien als Erweite¬
rung und Ergänzung erst 1344.
Goethe und Schopenhauer.

werden, selbst diejenigen nicht, welche in Prinzipien einig sind, denn die An¬
wendung entzweit sie sogleich wieder." Damit schickte er das Manuskript zurück,
das dann zur Ostermesse 1816 im Druck erschien. Als Goethe das gedruckte
Exemplar vor sich hatte, schrieb er an Staatsrat Schulze: „Dr. Schopenhauer
ist ein bedeutender Kopf, den ich selbst veranlaßte, weil er eine Zeit lang sich
in Weimar aufhielt, meine Farbenlehre zu ergreifen, damit wir in unsern
Unterhaltungen einen quasirealen Grund und Gegenstand hätten, worüber wir
uns besprachen, da ich in der intellektuellen Welt ohne eine solche Vermittlung
gar nicht wandeln kann, es müßte denn auf poetischem Wege sein, wo es sich
ohnehin von selbst giebt. Nun ist dieser junge Mann, von meinem Stand¬
punkte ausgehend, mein Gegner geworden. Zur Mittelstimmung dieser Differenz
habe ich auch wohl die Formel, doch bleiben dergleichen Dinge immer schwer
zu entwickeln."

Weder die Goethische noch die Schopenhauersche Theorie sind zu allge¬
meiner Anerkennung in fachgelehrten Kreisen gelangt. Fast drei Viertel eines
Jahrhunderts sind verflossen, seit Goethe sich über Schopenhauer beklagte, und
noch immer behauptet Newton das Feld.

In Dresden begann und vollendete Schopenhauer das Hauptwerk seines
Lebens „Die Welt als Wille und Vorstellung."*) Er war achtundzwanzig
Jahre alt, als diese gewaltige Schöpfung aus dem tiefsten Grunde seines
Geisteslebens hervortrat. Nicht plötzlich, nicht zufällig, nicht willkürlich und
künstlich zusammengesetzt. Die Elemente seines Systems waren „gewissermaßen
ohne sein Zuthun, strahlenweise wie ein Kristall zu einem Zentrum konvergi-
rend zusammengeschossen." Mit Recht wird Schopenhauer der letzte große
Philosoph seit Kant genannt. Er allein hat es vermocht, die Lehre Kants in
ihrer ganzen Erhabenheit, befreit von allen An- und Vorhanden zu zeigen, er
allein ist einen Schritt weiter gegangen, ohne in Phrasen und abstrakten Wort¬
kram zu versinken. Freilich ist er dogmatisch wie irgend einer, seine Lehre ist
Hypothese wie die Darwins, aber sie hat ebensoviel Überzeugungskraft wie
diese. Raum und Zeit, hatte Kant gesagt, sind Formen unsrer Anschauung,
die wir aller Erfahrung erst entgegenbringen und unabhängig von den Dingen,
Ä xriori in einer besondern Wissenschaft, der Mathematik, konstruiren können,
die aber auch eben deshalb nichts mit dem Urwesen der Welt, dem „Dinge an
sich" zu thun haben; dasselbe gilt von Ursache und Wirkung, denn auch diese
Begriffe sind Denkformen, die nie zur Ruhe kommen und nie zu einem Ruhe¬
punkte gelangen können. Schopenhauer geht noch weiter. Raum, Zeit, Zahl,
Ursache und Wirkung sind ihm uur die Formen unsers Gehirndenkens, Formen
eines körperlichen Organes gleich denen des Sehens, Hörens, Fühlens, Schmeckens



») Nur der erste Band des jetzt vorliegenden Werkes; der zweite erschien als Erweite¬
rung und Ergänzung erst 1344.
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[0127] Goethe und Schopenhauer. werden, selbst diejenigen nicht, welche in Prinzipien einig sind, denn die An¬ wendung entzweit sie sogleich wieder." Damit schickte er das Manuskript zurück, das dann zur Ostermesse 1816 im Druck erschien. Als Goethe das gedruckte Exemplar vor sich hatte, schrieb er an Staatsrat Schulze: „Dr. Schopenhauer ist ein bedeutender Kopf, den ich selbst veranlaßte, weil er eine Zeit lang sich in Weimar aufhielt, meine Farbenlehre zu ergreifen, damit wir in unsern Unterhaltungen einen quasirealen Grund und Gegenstand hätten, worüber wir uns besprachen, da ich in der intellektuellen Welt ohne eine solche Vermittlung gar nicht wandeln kann, es müßte denn auf poetischem Wege sein, wo es sich ohnehin von selbst giebt. Nun ist dieser junge Mann, von meinem Stand¬ punkte ausgehend, mein Gegner geworden. Zur Mittelstimmung dieser Differenz habe ich auch wohl die Formel, doch bleiben dergleichen Dinge immer schwer zu entwickeln." Weder die Goethische noch die Schopenhauersche Theorie sind zu allge¬ meiner Anerkennung in fachgelehrten Kreisen gelangt. Fast drei Viertel eines Jahrhunderts sind verflossen, seit Goethe sich über Schopenhauer beklagte, und noch immer behauptet Newton das Feld. In Dresden begann und vollendete Schopenhauer das Hauptwerk seines Lebens „Die Welt als Wille und Vorstellung."*) Er war achtundzwanzig Jahre alt, als diese gewaltige Schöpfung aus dem tiefsten Grunde seines Geisteslebens hervortrat. Nicht plötzlich, nicht zufällig, nicht willkürlich und künstlich zusammengesetzt. Die Elemente seines Systems waren „gewissermaßen ohne sein Zuthun, strahlenweise wie ein Kristall zu einem Zentrum konvergi- rend zusammengeschossen." Mit Recht wird Schopenhauer der letzte große Philosoph seit Kant genannt. Er allein hat es vermocht, die Lehre Kants in ihrer ganzen Erhabenheit, befreit von allen An- und Vorhanden zu zeigen, er allein ist einen Schritt weiter gegangen, ohne in Phrasen und abstrakten Wort¬ kram zu versinken. Freilich ist er dogmatisch wie irgend einer, seine Lehre ist Hypothese wie die Darwins, aber sie hat ebensoviel Überzeugungskraft wie diese. Raum und Zeit, hatte Kant gesagt, sind Formen unsrer Anschauung, die wir aller Erfahrung erst entgegenbringen und unabhängig von den Dingen, Ä xriori in einer besondern Wissenschaft, der Mathematik, konstruiren können, die aber auch eben deshalb nichts mit dem Urwesen der Welt, dem „Dinge an sich" zu thun haben; dasselbe gilt von Ursache und Wirkung, denn auch diese Begriffe sind Denkformen, die nie zur Ruhe kommen und nie zu einem Ruhe¬ punkte gelangen können. Schopenhauer geht noch weiter. Raum, Zeit, Zahl, Ursache und Wirkung sind ihm uur die Formen unsers Gehirndenkens, Formen eines körperlichen Organes gleich denen des Sehens, Hörens, Fühlens, Schmeckens ») Nur der erste Band des jetzt vorliegenden Werkes; der zweite erschien als Erweite¬ rung und Ergänzung erst 1344.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/127>, abgerufen am 22.07.2024.